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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

verschwinden. Unter denselben figuriren besonders die „Arlequins“. Sie tragen diesen Namen, weil sie wie eine Hanswurstjacke aus den kunterbuntesten Fleischlappen zusammengesetzt sind. Die Arlequinsverkäufer haben ihre Beziehungen zu der Küche der Diplomatie und der Finanz und holen regelmäßig in kleinen verschlossenen und mit Luftlöchern versehenen Wagen den Tafelabhub aus den großen Häusern. Diese Wagen fahren dann mit Ruinen von Braten, mit Fragmenten von Schöpsenkeulen, mit Gerippen von welschen Hähnen in die Hallen zurück, wo dies Alles assortirt, geputzt und aufgestutzt wird. Das Schönste und Beste prunkt dann, malerisch geordnet, auf sauberen Tellern. Auf einer Reihe derselben sieht man Macaronis aufgehäuft. Die verschiedenen Farbenschattirungen der Macaronis auf einem und demselben Teller verrathen, daß der Inhalt nicht aus einer und derselben Küche gekommen. Auf dem Gipfel jeder dieser Mehlspeisen prangt ein aus sechs Brodschnittchen gebildeter Stern. Diese ausgestirnten Macaronis sollen durch ihre pittoreske Eigenthümlichkeit die Kauflust erwecken. Zwischen diesen Tellern ragt eine Pastetenkruste hervor. Der Käufer, der dies gebackene leere Futteral kauft, kann sich die getrüffelten Feldhühner, oder die Gänselebern hinzudenken, denen es einst Obdach gegeben, oder hineinlegen was er will, wenn er etwas hineinzulegen hat. Neben daran sieht man eine Schüssel mit Salmen-, Karpfen- und Hechtköpfen, zwischen welchen die Schwänze von Steinbutten, Aalen und Kabeljaus symmetrisch geordnet sind. Die Symmetrie befriedigt zwar den Appetit nicht, lockt aber die Kauflust an. Ein Teller mit den eben beschriebenen Gerichten kostet zwischen fünf bis acht Sous.

Die Trümmer, die sich nicht mehr malerisch ordnen lassen, werden kunterbunt durch einander geworfen und von den Dürftigsten gekauft, denen der Inhalt aus dem Teller in ein Zeitungsblatt gelegt wird, um sofort auf einer der steinernen Bänke verzehrt zu werden, welche das Innere der Hallen umgeben. Nicht selten werden die assortirten Ueberreste selbst von bemittelten, aber geizigen Leuten gekauft. Die unassortirten – der Abfall des Abfalls – bilden für manchen Hungrigen noch ein Leckermahl. Nach dieser unassortirten Sorte aber kommt ein unerklärliches, undefinirbares Durcheinander, das für vornehme Hunde oder vielmehr für Hunde vornehmer Herrschaften gekauft wird. Auch die Knochen in diesen Ueberresten finden ihre Verwendung. Sie werden nämlich den Bouillontafelfabrikanten verkauft, von denen sie nach vollendeter Ausbeutung an die Beinschwärzefabriken losgeschlagen werden. Was die Bouillontafeln betrifft, so werden sie, mit heißem Wasser übergossen, in den Gargottes, in den engen, dumpfen, finsteren Sudelküchen, als Kraftbrühen verabreicht. Solche Kraftbrühen haben zwar nichts Appetitliches; sie können indessen doch in der rauhen Jahreszeit die fröstelnden Eingeweide der Hungerleidenden erquicken.

Man braut aber vor den Pariser Barrièren auch Kraftsuppen, von denen die Philosophie der deutschen Küche sich nichts träumen läßt. Dieselben werden von einem Künstler fabricirt, der den Titel „Employé aux yeux de bouillon“, zu deutsch „Suppenaugen-Beamter“ führt. Dieses Individuum befindet sich vor einem großen, mit siedendem Wasser gefüllten Kessel, in welchem einige Dutzend Zwiebelschnitze verzweiflungsvoll herumschwimmen. Die Zwiebeln dienen dazu, der magern Flüssigkeit eine bräunliche Bouillonfarbe zu geben. Ist das Colorit zu Stande gebracht, so nimmt der Künstler einen Löffel voll Oel in den Mund, paust seine Backen wie Aeolus und schießt dann durch die zusammengepreßten Lippen einen feinen Oelstaub über die Oberfläche des brodelnden Wassers, das nun von kleinen zierlichen Aeuglein bedeckt ist und das Entzücken der armen getäuschten Consumenten erregt. Ein solcher Suppenophthalmolog wird gut bezahlt; denn es gehört ein natürliches Talent, eine große Uebung dazu, dem Zwiebelwasser die künstlichen Augen so geschickt einzusetzen, daß die Augen der Kunden es nicht merken.

Bevor Herr Haußmann den Verjüngungsproceß mit der Hauptstadt Frankreichs vorgenommen, befanden sich derartige Speisewirthschaften auf dem „Marché des Innocents“ unter freiem Himmel. Blecherne trommelförmige Kessel standen über dem Feuer und kochten die Speisen gar, an denen Lucull gewiß sehr viel auszusetzen gehabt hätte. Um diese Küchen befanden sich hölzerne Bänke und über dieselben waren kolossale baumwollene mit allerlei bunten Fetzen zusammengestickte Schirme ausgespannt, um die Gäste vor den heißen Strahlen der Sonne oder vor dem nassen Unwillen der Wolken zu schützen. Sobald ein Gast kam und ein Gericht verlangte, ward ihm dasselbe aus dem Kessel geholt und auf den Teller gelegt. Ein Teller rother Bohnen, die das Volk politisch anspielend „Montagnards“ nennt, kostete einen Sou; ein Gericht „Arlequins“ kostete das Doppelte.

Neben jeder dieser Speise-Anstalten befand sich eine Kaffeesiederei und zwar ebenfalls unter freiem Himmel. Daß dieser Kaffee nicht direct von Mokka bezogen wurde, braucht wohl nicht erst besonders erwähnt zu werden. Eine große Tasse dieses braunen sehr problematischen Getränkes kostete einen Sou, und ebenso viel, oder vielmehr ebenso wenig kostete ein Glas „Coco“, auf deutsch „Süßholzwasser“. Nichts war interessanter, als diesen öffentlichen Mahlzeiten beizuwohnen und die Physiognomien der Gäste zu studiren. Die prachtvollen Hallen haben die Restaurationen unter freiem Himmel verdrängt. Der „Marché des Innocents“ ist nun freilich schöner, aber minder interessant. Ueberhaupt hat die Seinestadt seit ihrer Verschönerung sehr viel von ihrem eigenthümlichen Charakter eingebüßt.

Wir haben gesehen, welche Verwandlungen die Ueberreste der Speisen auf den reichen Tafeln durchmachen. Nun, die Brodüberreste erleiden noch mehr und noch sonderbarere Schicksale. Der Franzose ist bekanntlich ein starker Brodesser; besonders aber wird der lieben Jugend in den Pensionaten und Erziehungsanstalten sehr viel Brod verabreicht. Ein großer Theil dieser Gottesgabe wird nun vergeudet und verschleudert und findet sich auf dem Boden der Lehrsäle und in den Höfen herumgestreut. Diese zertretenen, schmutzigen, verschimmelten Brodkrumen und Brodkrusten werden von dem Gesinde aufgelesen und den sogenannten „Boulangers en vieux“ verkauft, welche sie mit großer Gewandtheit assortiren. Die größeren und ansehnlicheren Stücke werden in den Ofen geschoben und schmücken dann, durch das Reibeisen sehr sauber geputzt, die Erbsenbreisuppen. Was zu schlecht für diese Verwendung ist, dient als Weckenmehl zur Bestreuung der Cotelettes und der gekochten Schinken; die allerkleinsten und unscheinbarsten Reste aber, die unter keiner Gestalt mehr zur Nahrung dienen können, werden verkohlt, zerrieben, und das gewonnene schwarze Pulver, mit Honig und irgend einer wohlriechenden Substanz vermischt, prangt dann unter mehr oder minder stolzen Namen in den Schaltern der Parfümeurs als probates Mittel zur Erhaltung der Zähne. Das hat sich wahrlich die Weizenähre nicht träumen lassen, daß ihre goldenen Körner so vielerlei Rollen spielen würden.

Diese Verwandlungen der Nahrungsmittel sind indessen noch ziemlich unschuldig. Es kommen aber auch viele Fälschungen der Victualien vor und fordern die Polizei zu unablässiger Wachsamkeit auf. So wird die Milch sehr stark mit Wasser verdünnt, das Olivenöl mit Raps-, Sesam- und andern wohlfeilen Oelen versetzt und durch unzählige Geheimmittel schmackhaft gemacht. Der gemahlene Kaffee wird mit gebrannten Weizenkörnern, mit gelben Rüben, Eicheln, Cichorien, Kastanien und tausend anderen Dingen vermengt, so daß in solchem Kaffee alle Substanzen eher vertreten sind als der Kaffee selbst. Der ungebrannte wird mit Kaffeekörnern aus Lehm vermischt. Durch eigens dafür gemachte Formen werden diese künstlichen Kaffeekörner so täuschend ähnlich hervorgebracht, daß sie der gewöhnliche Kunde unmöglich von den natürlichen zu unterscheiden vermag. Wenn nun diese Fälscher ertappt werden, entgehen sie freilich der Strafe nicht. Es wird dann die polizeiliche Verurtheilung mit großen Lettern gedruckt an den Laden des Betrügers angeklebt und von allen Vorübergehenden gelesen. Gar Mancher aber weiß sich den Händen der rächenden Justiz zu entziehen. So ist vor einigen Jahren ein Charcutier bei einem eigenthümlichen Betruge ertappt worden. Er hatte im Auslagefenster getrüffelte Schweinsfüße ausgestellt. Die Trüffeln aber, mit denen besagte Füße gespickt waren, bestanden nicht aus den kleinen Bruchstücken von Trüffeln, sondern aus Schnitzeln von schwarzem Merino. Man kann sich leicht den Unwillen des Publicums denken, als es zu der traurigen Ueberzeugung gelangte, statt der duftenden Kryptogamen Fragmente alter Frauenkleider oder zersetztes Paletotfutter verspeist zu haben. Der Charcutier indessen behauptete, daß er die genannten Extremitäten nur als Schild in den Schalter gethan und daß er das Corpus delicti gewiß nicht zur Schau ausgestellt haben würde, wenn er das Publicum hätte hintergehen wollen. Die Polizei war mit diesem Vertheidigungsgrunde zufrieden, nicht so aber das Publicum, das

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