Seite:Die Gartenlaube (1870) 339.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

einzelnen Gegenstande hafteten. Anna gestand sich, daß er ein schöner Jüngling sei, wenn er nicht so krank aussähe – und so klein wäre! Sie hatte Unrecht, Alfred war nicht ungewöhnlich klein, Aennchen aber war ungewöhnlich groß und so überragte sie den Jüngling um eines Fingers Breite, ein Mißverhältniß, dem sich durch nichts abhelfen ließ. Und sie verglich unwillkürlich seine schmalen Schultern mit den ihren und seine zarten fast weibischen Hände ärgerten sie, weil sich ihre Brüder oft darüber lustig gemacht, daß Alfred eine kleinere Handschuhnummer trug als Aenny, deren Hände schön, aber vom vielen Turnen stark entwickelt waren. Und doch – er konnte ja nichts dafür, der arme Alfred, daß er solch ein schwächlicher Bursche war! Manchmal kam ein eigenthümliches süßes Mitleid über sie, wenn sie ihn so betrachtete, den guten kleinen Fredy.

„Aennchen, was schaust Du mich so lieb an?“ fragte Alfred plötzlich und Aenny erschrak, daß er sie darauf ertappt hatte.

„Ich denke, Du bist müde; Du siehst so bleich aus.“

„Es kann wohl sein,“ meinte Alfred, nahm den Hut ab und wischte die feuchte Stirn.

„Schau; der Hut hat eingeschnitten, Du hast einen rothen Strich auf der Stirn. Thut’s weh?“ Sie legte mitleidig ihre warme volle Hand auf die Stelle. „Wie heiß Du bist!“

Alfred drückte die theure Hand fest auf seinen Kopf. „Lieb’ Aennchen!“ So pflegte er zu sagen, wenn ihm das Herz überlief.

„Wart’, Du könntest Dich erkälten ohne Hut mit dem heißen Kopf, und dann schilt mich Deine Mutter, daß ich nicht besser Acht auf Dich gab! Laß den Hut nur weg – er thut Dir ja weh.“ Sie zog ein weißes Foulard aus der Tasche, machte es dreieckig und band es Alfred um den Kopf. „Wie herzig Du jetzt aussiehst!“ lachte sie auf, „ganz wie ein Mädchen; wenn der dumme Schnurrbart nicht wäre, kein Mensch hielte Dich für einen Mann!“.

„Ein schönes Compliment!“ sagte Alfred unangenehm berührt.

„Sei nur nicht böse, es steht Dir ja so gut. Ich kann’s Dir gar nicht sagen, wie lieb Du aussiehst, ich möchte Dir gleich einen Kuß geben, wie einem neu entdeckten Schwesterchen.“

„O Aenny, um den Preis will ich auch Deine Schwester sein!“ rief Alfred und bot ihr graziös den feinen Mund dar.

Sie erröthete jäh. „Nein, nein, Alfred, wir sind ja keine Kinder mehr!“

„Es sei denn, daß ihr werdet wie die Kinder!“ citirte Alfred und schlang den Arm um sie; „laß uns Kinder bleiben, so lange wir können, Aenny!“ Und er zog sie an sich, da half kein Sträuben, sie wunderte sich, wie stark er auf einmal war. „Aenny, warum soll denn jetzt Alles anders zwischen uns werden, und es war doch so schön?!“ sagte er, ihr fest in’s Auge sehend.

Sie wurde verlegen, sie wußte nicht, was sie sagen sollte. Sie hatten sich einander von je her geküßt und nichts dabei gedacht; wenn sie es nun plötzlich weigerte, mußte er ja glauben, sie denke sich etwas dabei – und das war doch ganz und gar nicht der Fall. So nahm sie den schlanken Kopf des Jünglings in beide Hände und drückte einen herzhaften Kuß auf seine flaumigen Lippen – und noch einen – was kam denn darauf an, es war ja ihr Spielcamerad und er sah gar so herzig aus in dem glühenden Schimmer der Abendsonne oder – ihres Kusses? Sie waren beide roth geworden und wollten es sich nicht merken lassen. Sie küßten sich aus Verlegenheit zum dritten Mal, nur weil sie sich dabei gegenseitig nicht ansehen konnten, aber die dumme Röthe wich und wankte nicht, im Gegentheil, es wurde immer schlimmer. Sie mußten sich endlich doch anschauen und sie sagten wie aus einem Munde, es sei heute sehr heiß!

Aennchen wandte sich zum Gebüsch an der Seite und hob dort Etwas vom Boden auf. „O das arme süße Ding,“ sagte sie, „es ist ein Rothkehlchen!“ Sie setzte sich in das Gras und legte das Thierchen vor sich auf den Schooß. „Fredy, hol’ ihm ein wenig Wasser, es ist halb todt!“

„Hast Du Deinen Trinkbecher bei Dir?“ sagte er.

„Ja, da ist er.“

Alfred ging nach einer nahen Quelle, die von einer Anhöhe herabrieselte und zwischen moosigen Felsblöcken verschwand. Aber nach einer Weile rief er: „Aenny, ich kann das Wasser nicht erreichen, es ist hier so schlüpfrig, ich rutsche aus.“

„Ach Gott, nun kann er wieder nicht über die paar Steine klettern!“ sagte Anna verdrießlich und stand auf, um selbst hinzugehen. Sie legte das Vögelchen vorsichtig in das Gras und in wenig Schritten war sie bei Alfred, der mühsam auf dem nassen Gestein nach der Quelle zustrebte. Leicht wie eine Gemse war Anna darüber weggesprungen. Das Kleid anmuthig geschürzt, setzte sie die schönen Füßchen sicher zwischen die Spalten und bog sich zu dem murmelnden Wasser nieder, den Becher zu füllen. Alfred betrachtete sie mit Entzücken, wie sie da oben stand auf den spitzen schlüpfrigen Steinen und sich bückte, um Erquickung zu schöpfen für einen verschmachteten Vogel. Schöner konnte keine Waldfee sein als dies Mädchen in seiner keuschen Herzensherrlichkeit. Und als sie nun herabkam, das lichte Gewand mit der einen, den Becher mit der andern Hand haltend, wie sie sich vorsichtig, um das Wasser nicht zu verschütten, zwischen Gestrüpp und Gestein durchwand, daß die Zweige ihr das dunkle Haar zerzausten, da vergaß der Jüngling sein lahmes Bein und Alles, mit einem Sprung war er oben und stand an ihrer Seite. Sein Herz schwoll ihr so selig entgegen. „Aenny,“ rief er und schlang seine Arme um ihre herrliche Gestalt.

„Du wirst mir das Wasser verschütten,“ schalt Anna, „was willst Du denn?“

„Ich – ich wollte Dir herunter helfen,“ sagte er verschüchtert, „ich dachte, Du könntest gleiten.“

„Du mir helfen?“ lachte Anna. „Das wäre wohl das erste Mal!“

Alfred ließ entgeistert die Arme sinken. Anna hatte ihn verletzt. Er fühlte, wie Recht sie hatte mit diesem Spott, aber weil er ihn traf, drum that er ihm so weh.

„Lieber Fredy,“ plauderte sie gutmüthig neckend fort, „wenn ich auf Dich und Deine Hülfe warten müßte, da würde es mir wohl immer schlecht gehen. Da halt’ einmal den Becher und bleib’ stehen. Eins, zwei, drei!“ – sie sprang von dem Felsen herab. „So, nun reich’ mir das Wasser. Danke! Gieb mir jetzt die Hand, ich muß Dir ja doch wieder herunterhelfen, sonst kommst Du nicht über die steile glatte Stelle.“

Alfred that, wie ihm geheißen, und ließ sich von Aenny unterstützen. Es sah nicht gut aus, wie er so linkisch und ängstlich bei jedem Schritt ausrutschend herunterkletterte. Und dabei hatte sich auch noch das Kopftuch verschoben, daß es ihm wie einer alten Frau tief in’s Gesicht hing. Es war kein günstiges Bild für die Phantasie eines sechszehnjährigen Mädchens, das nur von kühnen Recken in blanken Harnischen träumt und für Arnold von Winkelried schwärmt.

Aenny kam so abgekühlt vom Brunnen, daß sie jetzt nimmer roth geworden wäre, hätte sie ihn auch noch so viel geküßt. Sie gingen schweigend zu der Stelle zurück, wo der sterbende Vogel lag. Anna setzte sich und nahm das Thier wieder auf den Schooß, um es zu atzen. Alfred kniete neben ihr nieder und sah sie traurig an. „Du wirst Dich erkälten,“ sagte er, nahm das Foulard ab und legte es ihr um die Schultern.

„Erkälte nur Du Dich nicht!“ wehrte sie verstimmt ab und bog sich über den kleinen Vogel, der das Wasser nicht mehr nehmen konnte, die Federchen sträubte im letzten Kampf und das Köpfchen zur Seite hängen ließ.

„Anna,“ sagte Alfred, „mit dem Vogel hast Du mehr Mitleid, als mit mir!“

„Ach, sei still – es stirbt ja, sieh nur, wie es sich quält! O Du armes, armes kleines Ding!“

Sie hielt das Vögelchen auf der flachen Hand und beobachtete mit wahrem Schmerz, wie es mit weit aufgerissenem Schnabel dalag, zuckte und die Flügelchen spreizte, bis das kleine Herz still stand. „Jetzt ist’s todt!“ sagte sie und legte es betrübt weg, „ich hätte ihm so gerne geholfen.“ Und ein paar große Thränen standen ihr im Auge.

„Einen kranken Vogel beweint und einen kranken Freund verhöhnt sie. Wie reimt sich das?“ dachte Alfred und lächelte bitter.

Sie sah es. „Thut Dir das arme Thierchen nicht leid?“ sagte sie.

„Anna,“ entgegnete er ernst, „wenn ich über den Todeskampf eines Vogels weinen könnte, was müßte ich da an den Sterbebetten meiner Mitmenschen thun, denen ich als Arzt beistehen soll?“

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 339. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_339.jpg&oldid=- (Version vom 16.1.2019)