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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

Wir hatten bei einem elenden Dorfe, dessen Hütten tief verschneit am Waldessaum lagen, den festgebahnten Weg verlassen und fuhren nun über eine weite Haide, auf der sich die Spuren einiger Schlitten bald verloren. Das Wetter war immer wilder geworden, aber unsere struppigen Renner, denen es in ihrer heimathlichen Steppe schon ganz anders um die mähnenumwallten Köpfe geweht hatte, flogen muthig schnaubend vorwärts dem Schneesturm entgegen.

„Das ist ein rechtes Wetter für die Schmuggler,“ bemerkte mein Freund, „und es würde mich wundern, wenn wir nicht noch heute Gelegenheit haben sollten, diese wilden Gesellen zu Gesicht zu bekommen.“

Wir hatten uns mittlerweile mehr und mehr der Grenze genähert und befanden uns auf einem Terrain, das dem Kenner der hiesigen Verhältnisse sofort den verderblichen Einfluß des Schmuggels verrieth. Der größte Theil des Bodens war nämlich ödes Haideland, weil der litthauische Grenzbauer den leichten Erwerb durch den Schleichhandel der schweren Feldarbeit, die er überhaupt gern den Weibern aufbürdet, vorzieht und so die Urbarmachung weiter Strecken seit Generationen versäumte.

Ein Dorf, das wir später erreichen, war nach der Mittheilung meines Freundes als Schmuggelstation allgemein berüchtigt. Welch ein trauriges Bild der wirthschaftlichen Verwahrlosung und Verkommenheit bot sich uns hier dar! Halb verschneite, elende Hütten, niedrig und mit halbgeborstenen Lehmwänden, bildeten die schmale Gasse, durch die wir fuhren, zum größten Theile Wohnstätten eines ökonomisch und moralisch verkommenen Proletariats, das seit langen Jahren ein bedeutendes Contingent zu den Verbrechern der Grenzdistricte liefert. Der Bauer und Tagelöhner, durch den mühelosen Erwerb im Schmuggel verwöhnt und der ehrlichen Arbeit entfremdet, wird zum herumlungernden Tagedieb und Trunkenbold, der leichtsinnig durchbringt, was er leicht erworben. Durch den Trunk und rohe Gewaltthätigkeit gegen die Wächter eines despotischen Gesetzes, dessen Uebertretungen ihm zur Gewohnheit geworden, wird er in jeder Beziehung gewissenlos und brutal und neigt zu all jenen zahlreichen Verbrechen, zum Diebstahl (besonders an Vieh und Pferden), zu Raub, Brandstiftung, Mord und Todtschlag, die den größten Theil des processualischen Materials der Gerichte jener Gegenden liefern.

Das Schmugglerdorf lag hinter uns, und wir fuhren bei sinkender Sonne in schneller Fahrt durch einen dunklen Fichtenwald, dessen mächtige Bäume öfter so nahe an unsern Weg traten, daß uns ihre weitausgreifenden schneebeladenen Aeste streiften. Plötzlich tönte durch das weithin schallende Geläute unseres Gespanns lautes Hundegebell, und um eine Waldecke biegend, bekamen wir auf einer weiten Lichtung eine einsame Waldschenke in Sicht, die unser kundiger Begleiter als einen berüchtigten Sammelplatz der Schmuggler bezeichnete, welche von hier aus unter der verwegenen Führung des Wirthes ihre Expeditionen über die nahe Grenze antreten. Von dem wilden Gebell zweier riesiger[WS 1] Wolfshunde empfangen, näherten wir uns dem einsamen Hause, dessen weißes mit langen Eiszapfen behangenes Dach in scharfem Contrast gegen die schwarzen Fichten des Hintergrundes abstach. Der bläuliche Rauch, der in dichten Wolken dem verfallenen Schornsteine entquoll, um dann vom Sturme zerzaust zu werden, gemahnte zu gastlicher Einkehr, obgleich die Herberge sonst wenig Einladendes hatte. So ließen wir denn unsere braven Renner halten und traten durch die niedrige Thür in ein dunkles Gemach, in welchem uns eine den halberstarrten Gliedern gar wohlthuende Wärme empfing, während freilich der dichte Qualm, der dem kratergleichen Schlunde eines riesigen Ofens entquoll, uns unangenehm in Augen und Nase beizte. Der Wirth war nicht daheim, und seine Frau, eine alte, schwarz geräucherte Litthauerin, welche uns mit mißtrauischen, finsteren Blicken musterte, fragte in gebrochenem Deutsch nach unseren Wünschen. Sie erhielt den Auftrag nach unseren Pferden zu sehen; wir aber nahmen schnell einen kräftigen Imbiß aus unserm Reisevorrath. Plötzlich hörten wir draußen lautes Getümmel: Pferdegewieher, Hundegebell, Peitschenknall und heftiges Reden in fremdem Idiom. „Da kommen die Schmuggler,“ sagte mein Freund, und an’s Fenster tretend, bot sich uns ein eigenthümliches belebtes Bild: etwa fünfzehn Schlitten hielten auf dem weiten, sonst so einsamen Platze und immer noch neue fuhren herzu. Wilde malerische Gestalten schritten laut und leidenschaftlich sprechend und öfter nach unserm Fuhrwerk deutend umher, so daß wir sofort zu dem Schlusse kamen, daß die Anwesenheit von Fremden an ihrem Stationsorte sie beunruhige. Jetzt kam ein stämmiger, breitschultriger Litthauer zu Pferde an, den unser Forstmann als den Wirth der Schmugglerspelunke erkannte, und an ihn wendeten sich fragend jene Leute. Er trat gleich darauf mit höflichem Gruße in’s Zimmer, und nachdem er meinen Freund, der ihm von früheren Reisen her bekannt war, erkannt hatte, theilte er uns mit, daß jene Ankömmlinge, szamaitische und litthauische Schmuggler, für diese Nacht ein besonders großes Unternehmen beabsichtigten, daß sie durch die Anwesenheit von Fremden, welche sie, nach dem Gespann urtheilend, für Russen hielten, in Besorgniß und Unruhe versetzt seien und daß er sie daher jetzt beruhigen wolle.

Wir traten mit ihm vor die Thür, und nachdem er ihnen gesagt, daß wir vollkommen „sichere“ Leute seien, von denen ein Verrath nicht zu befürchten, begrüßten sie uns freundlich grinsend mit einer Art von pfiffiger Vertraulichkeit. Wir betrachteten nun mit lebhaftem Interesse die bewegte charakteristische Scene, dann aber griff ich rasch zu Stift und Papier, um in flüchtiger Zeichnung die landschaftliche Scenerie zu skizziren. Die Staffage brauchte ich hier nicht besonders zu fixiren, da ich in Memel die Szamaiten alle Tage vor Augen hatte. Wer sie dort als Fremder zum ersten Male erblickt, wie sie einzeln oder in Gruppen meistens in eiligem Schritt durch die Straßen der Seestadt ziehen, um ihre Einkäufe zu machen, dem erscheinen sie sofort als Fremdlinge auf Germanias Boden, und nachdem er in der ethnographischen Musterkarte seines Gedächtnisses vergeblich nach einem analogen Typus gesucht, vermuthet er in ihnen einen Bruchtheil aus jener riesigen Völkermosaik, über welche der russische Doppelaar seine mächtigen Schwingen breitet.

Schlanken und hagern Wuchses, von sehnigem, kräftigem Körperbau und flinkem, unstätem Wesen, ein Idiom redend, das wildfremd an unser deutsches Ohr schlägt, erinnern sie durch ihre Tracht an den halbwilden Trapper Amerika’s: kurze Pelze oder Röcke von einem groben, selbstgefertigten Stoff, weite, bis über das Knie reichende Beinkleider, eine sandalenartige aus Fell oder Lindenbast bereitete, den Mocassins der Indianer gleichende Fußbekleidung, deren Bänder oder Riemen den Unterschenkel umwinden, endlich eine Mütze aus Fuchs-, Wolfs- oder Bärenfell (im letzten Fall von der turbanähnlichen Form der Tscherkessenmützen) bilden ihre malerische Tracht, und man könnte sich darüber wundern, daß nicht schon längst irgend ein nach neuen Motiven jagender Maler sie erspäht, wenn man nicht bedächte, wie weit ab von den Heerstraßen des bequemen Weltverkehrs dies Völkchen haust. Die Szamaiten sind ein Zweig des alten litthauischen Volksstammes, der als autochthone Bevölkerung den Nordosten der Provinz Ostpreußen bewohnt, und dem sie in Sprache, Sitte und Lebensweise vielfach verwandt sind. Der Ackerbau, den sie in allerdings höchst primitiver Form betreiben, gewährt ihnen die Mittel zu ihrer einfachen Existenz, sie suchen aber, besonders in der Nähe der Grenze, gleich ihren diesseitigen Nachbarn und Stammesgenossen, den preußischen Litthauern, einen nicht übel lohnenden Nebenerwerb im Schleichhandel, den sie entweder auf eigene Hand betreiben, oder dem sie als Transporteure, Spione oder Escorte dienen. Ihre listige Verschlagenheit läßt sie in kluger Berechnung aller günstigen und ungünstigen Verhältnisse tausend Mittel und Wege zur Ausführung ihrer Pläne finden; ihr verwegener Muth, der freilich die tollkühne Tapferkeit der preußischen Litthauer lange nicht erreicht, scheut vor dem offenen Kampfe mit den bewaffneten Hütern des Gesetzes nicht zurück, und ihre Geschicklichkeit in der Führung der Schußwaffen entscheidet denselben oft zu ihren Gunsten. Unterstützt werden sie in ihren Unternehmungen von ihren zwar kleinen und unansehnlichen, aber sehr schnellen und ausdauernden Pferden.

Das waren also die Gestalten, die sich hier vor der einsamen Waldschenke tummelten, beschäftigt mit allerlei Vorbereitungen zu ihrem gefährlichen Unternehmen; hier flickten einige an dem Geschirr ihrer Rosse, dort vertheilten sie die Ladung, kleine Fäßchen und Bällen, zweckmäßig auf die einzelnen Schlitten und Packpferde, hier wurden die Waffen hervorgeholt und sorgfältig revidirt, dort gingen Spione zu Fuß und zu Pferde ab, nachdem sie ihre Weisungen von dem Führer erhalten hatten, welcher mit einigen Litthauern, seinen bewährten Helfershelfern, großen Kriegsrath hielt.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: riesigen
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 299. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_299.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)