Seite:Die Gartenlaube (1870) 291.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

Jetzt wurde das auf einmal anders, es sprach etwas in mir, daß ich nicht entsagen dürfe. Ich verspottete meine Furcht vor Armuth und sagte mir, es sei Feigheit, man müsse eine Lebensstellung erobern und in bescheidenen Verhältnissen glücklich sein können. Ich näherte mich Marie nun immer mehr, und ihr Frohsinn und ihre Frische belebten mich auf’s Neue. Oft wollte mich wieder die Furcht beschleichen, daß ich es wage, ein anderes Leben an das meinige zu knüpfen, das doch selbst noch so fraglich war; aber wenn ich Marie sah, wenn ich ihre Stimme hörte, waren alle Bedenken verflogen. Wir waren Beide Soldatenkinder, wir hatten Beide jene Bitterkeit der Scheinexistenz kennen gelernt, von der ich Ihnen früher sprach – ich konnte mich noch glücklich nennen im Vergleich zu Marie, denn sie mußte dienen, ihren Jugendmuth den Launen einer nicht unedlen, aber pedantischen und kleinlichen Frau unterordnen, und ich bewunderte ihre Spannkraft, mit der sie doch ihr freies Naturell bewahrte. Aber bei alledem – ich mache mich nicht besser, als ich bin – ich hatte den Muth nicht, ihr meine Liebe einzugestehen, und sagte mir oft: hätte Frau Agathe das Wort nicht hingeworfen, du hättest dir nie ein ernstliches Hinwenden zu Marie gestattet.

So kam der Herbst heran, es war und blieb eine unausgesprochene, halbunterdrückte Beziehung zwischen Marie und mir.

Der Tag der Abreise kam, ich begleitete Frau Agathe nach Bieberich, um den Freundinnen noch einmal Lebewohl zu sagen. Die Koffer waren gepackt; Marie sah sehr erregt aus; wir standen an einem Fenster und schauten hinaus über den Strom; da sagte ich: ‚Es ist gut, daß Sie reisen, so weh es mir auch thut.‘ – Sie sah mich groß an und erwiderte nichts. Mir ward klar, daß ich den Widerspruch, der in mir lebte, unwillkürlich kundgegeben, und ich sagte nur: ‚Geben Sie mir Ihre Hand und lassen Sie mich hier Lebewohl sagen; ich möchte nicht drunten beim Dampfschiffe an der Landungsbrücke … und so lassen Sie mich Ihnen sagen: Freuen wir uns dessen und betrachten wir es als ein Lebensgeschenk, daß wir einander begegnet und unvergeßliche Erinnerungsbilder in der Seele bewahren. Wenn Einem von uns ein Lebensglück beschieden, dann wissen wir, daß das Andere sich in der Ferne dessen erquickt. Ich habe lange darüber gesonnen, ob ich Ihnen nicht ein äußerliches Andenken geben soll; ich finde nichts, und es ist auch besser, Sie haben nichts als einfach die Erinnerung einer Begegnung auf der Lebensreise, und ich wünsche Ihnen von Herzen glückliche Fahrt.‘ –“

Edgar hielt inne. Nach einer längeren Pause fuhr er fort: „Entschuldigen Sie, daß ich das Alles so ausführlich wiederhole; ich weiß nicht, wie es kam, ich werde mich fortan kürzer fassen.

‚Das Dampfschiff kommt!‘ wurde plötzlich gerufen. Koffer und Kasten wurden nach der Landungsbrücke gebracht; ich blieb dabei, nicht, wie meine Gönnerin that, die Freundin noch eine Strecke Wegs zu begleiten; ich sagte der älteren Dame und Marien Lebewohl; wir sprachen kein Wort mehr; ich sah Thränen in ihrem Auge, ich sah sie zittern durch die Thränen in den meinen. Die Koffer wurden hinabgebracht, Alles war leer. Ich ging, den Schmerz verbeißend, in den wie ausgeraubten Zimmern umher und sagte mir: Es ist gut, daß es vorbei ist. Du hast kein Recht, ein anderes Schicksal an das deine zu binden. –

Da sah ich auf dem Nähtischchen Mariens ein Paar gestickte Manschetten liegen – sie waren vergessen worden. – Ich kann nicht sagen, wie es kam – ich nahm die Manschetten in die Hand, ich eilte die Treppe hinab, ich kam noch glücklich bei der Landungsbrücke an, wo das Schiff eben abstoßen wollte. Ich wollte Marien die Manschetten hinüberreichen, aber der Capitain, der glaubte, daß ich noch mitfahren wollte, faßte mich an der Hand, riß mich auf das Schiff, und fort ging’s.

Die alte Frau sah mich verwundert an, aber Frau Agathe reichte mir die Hand und ich sah, wie Marie zitterte. Wir fuhren eine Weile still dahin. ‚Wir haben nur wenige Minuten,‘ sagte ich endlich, ‚denn in Walluf müssen wir aussteigen.‘

‚Es ist lieb von Ihnen, daß Sie noch gekommen sind,‘ sagte Marie. In ihrem Tone lag etwas so Bewältigendes, daß alle Bedenken verschwanden und jeder Blutstropfen in mir aufwallte. ‚Marie,‘ sagte ich ihr, ‚nur wenige Minuten. Nun höre, was ich Dir sage. Ich habe kein Recht, Dein Schicksal an das meine zu binden, und so halte fest: ich will Dein Lebensglück nicht hindern, das Du finden magst. Nur drei Jahre schenke mir, das heißt, ich lasse Dich frei, wenn ich Dir in drei Jahren nicht schreibe. Ich will suchen eine gesicherte Existenz für uns zu finden. Gelingt mir das nicht, so bist Du frei. Ich bitte Dich, binde Dein Leben nicht unauflöslich an mich. Willst Du mir das versprechen?‘ – Sie bejahte. –

Ich kann nicht mehr Alles erzählen – ich habe vergessen zu sagen, daß wir uns unsere Liebe gestanden hatten.

Die Glocke läutete, vor den Augen meiner Gönnerin und der alten Dame küßten wir uns zum ersten Male.“

Wieder machte Edgar eine Pause. Er wagte nicht Louisen anzuschauen, er senkte den Blick zur Erde und doch hätte er gern gewußt, wie Louise ihn jetzt betrachtete. Endlich fuhr er fort:

„Ich war ein seltsamer Mensch voll Widersprüche, bald betrachtete ich mich als verlobt, bald als vollkommen frei. Es ist ja auch nichts geschehen, nichts Bindendes. Meine Arbeit im Hause des Kaufherrn war zu Ende. Ich hatte so viel erworben, um meine Mutter für Jahre sorglos zu stellen, und jetzt wanderte ich frisch und frei in die Welt hinaus. Ich war in Italien und wunderbarer Weise zur selben Zeit, wo auch Marie da war; ich hörte aber erst davon, als sie wieder nach Deutschland zurückgekehrt war. Ich kam hierher. Ich malte das Bild, bei dessen Wiederholung wir uns gefunden haben. Ich habe in Paris die größte Auszeichnung erhalten – ich darf sagen, daß mir die äußere nur meiner Mutter zu lieb von Werth war, und in der That war ihr Brief auf meine Anzeige der Ordensverleihung hin ein überaus glücklicher. Ich habe einen guten Namen und Bestellungen auf viele Jahre hinaus. Jetzt war die Zeit da, wo ich Marien ein auskömmliches Leben bieten konnte. Ich schrieb ihr. Ich bin noch einmal hierher gereist, um auf Bestellung das Bild noch einmal in kleinerem Maßstabe zu wiederholen; – ich erwarte Nachricht von Marie, ja vielleicht sie selbst.“

Edgar hielt inne. „Was nun ist, was geworden ist,“ schloß er, „das wissen Sie.“

Geraume Zeit saßen die Drei stumm neben einander, endlich sagte Louise: „Ich danke Ihnen, Herr Edgar.“

Edgar stand auf und ging davon; der Vater blieb noch bei seiner Tochter, aber bald kam er Edgar nach und wußte nichts weiter zu sagen als: „Ich bitte, wollen Sie nicht eine Cigarre mit mir rauchen?“

Rauchend und schweigend saßen die beiden Männer beisammen, bis der Vater wieder zu Louisen ging.




14. Auf dem wogenden See und im Hause.

Tage vergingen, Louise konnte wieder in’s Freie gebracht werden, sie lag auf einem Ruhebett im Garten. Die Kinder spielten um sie her, die Frauen saßen bei ihr, auch der Arzt, der nun wie erlöst erschien, da auch Edgar ein Deutscher war und sich ihm freundlich anschloß, wie der Vater Louisens selbst. Er erwies sich als gediegener und hochgebildeter Mann. Ja, selbst der Schwermüthige, in dessen Begleitung er war, verließ sein einsames Zimmer und kam zu Louisen. Er war der Erste, der das Wort aussprach: „Sie sollten Herrn Edgar heirathen! Sie Beide wären ein schönes Paar.“

Louise erbebte, und alle Umstehenden sahen einander erstaunt an und blickten dann zur Erde. Der Verstörte, der sich zu erholen schien, sprach aus, was Alle dachten.

Man wartete auf Briefe. So oft Caspar, der Allesversorger, den Briefbeutel brachte, war Louise voll Aufregung. Welch eine Nachricht wird von Marie kommen, und wie, wenn gar kein Brief kommt, sondern sie selbst? Sie bat ihren Vater, doch mit ihr abzureisen, aber der Arzt wollte das nicht gestatten und so blieb sie. Tagtäglich im Verkehr mit Herrn Edgar lernte sie dessen gediegene frische Natur und seine offene, freie Seele immer neu erkennen, aber es lag ein Schleier auf ihren beiderseitigen Beziehungen, den sie nicht zu lüften wagten.

Wieder und wieder empfand Louise den schmerzlichen Gedanken, daß sie ihr Herz einem Manne geoffenbart hatte, der einer Andern angehörte. – Endlich am zweiten Sonntage kam ein Brief an Edgar mit der Handschrift Mariens. Louise sah, wie Caspar die Briefe vertheilte – sie sah, wie Edgar erblaßte, da er die Aufschrift las. Er hielt den Brief in der Hand, er öffnete ihn nicht. Die Versammelten hatten Briefe erhalten und gingen damit nach einsamen Bänken, um sie zu lesen. Auch Herr Merz

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 291. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_291.jpg&oldid=- (Version vom 11.1.2019)