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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

das Resultat derselben pflegt selten zweifelhaft zu bleiben. Auf jedes Faß, jedes Paket, jede Kiste, deren Füllung sich nicht völlig zollcorrect erweist, wird ohne Gnade und Barmherzigkeit Beschlag gelegt und der Defraudant obendrein häufig noch zu einer erklecklichen Strafzahlung verurtheilt.

Bei Waaren, die ad valorem, nach einem bestimmten Procentsatze ihres Werthes, zu verzollen sind, sucht man, wie anderwärts, die Behörden wohl dadurch zu hintergehen, daß man die eingeführten Artikel niedriger declarirt, als ihr factischer Werth beträgt. Auch hierbei aber läßt sich der englische Zollbeamte nicht leicht hinter das Licht führen. Sobald ihm seine Praxis sagt, daß die Artikel in den Ausweisdocumenten geflissentlich unterschätzt sind, nimmt er den Defraudanten sofort beim Worte seiner Papiere und fängt ihn so in seiner eigenen Schlinge, das heißt er kauft, wiederum „im Namen Ihrer Majestät“, die Waare zu dem declarirten Preise. Der ertappte und nun selbst am meisten betrogene Betrüger darf gegen einen solchen Kauf keinerlei Einwendungen erheben; das Gesetz zwingt ihn vielmehr, die Waare nach dem angegebenen Werthe zu veräußern und überdies noch den Zoll und die erwachsenen Kosten zu bezahlen. Wollte er sich weigern, die Ladung abzutreten, so würde sie ihm ohne Weiteres confiscirt, und ihm bliebe nichts als das leere Nachsehen, möglicher Weise auch noch die Erlegung einer empfindlichen Geldbuße.

Ferner kommt es dann und wann vor, daß dem Zollamte einlaufende Güter freiwillig überlassen werden. Dies klingt seltsam, beruht aber doch auf guten Gründen. Es sind dies nämlich Artikel, die im Verhältnisse zu ihrem Werthe mit sehr hohen Zöllen belegt sind, so daß bei einer allfälligen ungünstigen Conjunctur für die fragliche Waare, die ein Steigen des Preises vor der Hand nicht erwarten läßt, der Besitzer vorzieht, seine Habe ganz und gar preiszugeben, anstatt die verlangte hohe Zollsumme zu entrichten. Endlich fallen in unsere Kategorie noch jene hunderterlei Kleinigkeiten, welche einzelne Passagiere in England einzuschmuggeln suchen, besonders die vom schönen Geschlechte, denen die Lust am Paschen und Schwärzen angeboren zu sein scheint, – französische Handschuhe und Seidenstoffe, Bände der bekannten Tauchnitz-Ausgabe von englischen Schriftstellern (deren Einführung in England unbedingt verpönt ist) und eine Menge anderer Dinge, an welche sich endlich die den Schmugglern von Profession abgenommenen Tonnen und Fässer reihen; es sind meist Weine und Spirituosen, mit denen sich diese verwegenen Burschen befassen, welche, obschon lange nicht mehr im früheren Umfange, doch noch immer an den englischen Küsten ihr Unwesen treiben.

Natürlich kann Ihre Majestät von England das sich bald massenhaft an- und aufhäufende Durcheinander nicht selbst verbrauchen, auch nicht aufbewahren, und deshalb geruht sie, von Zeit zu Zeit es in Mincing Lane an ihre getreuen Unterthanen, und wer sonst Gelüste danach trägt, gegen baare Casse versteigern zu lassen. Verschiedenartig wie die Waaren, die hier an die Meistbietenden losgeschlagen werden, eben so verschieden ist auch das sich zu den Auctionen einfindende Publicum; jeder Artikel hat nicht nur seinen bestimmten Abnehmerkreis, sondern auch seine bestimmten Mäkler, die überhaupt die Hauptmatadore in Mincing Lane sind.

Dies Alles erfuhr ich von dem erwähnten Geschäftsmanne, den ich gern auf seinem Berufswege nach der angekündigten Versteigerung begleitete, um durch eigene Anschauung ein Bild von derselben und dem dort herrschenden mercantilen Treiben zu gewinnen.

Wir hatten eine weite Omnibusfahrt nach unserem Ziele, das, unweit der Themse, so ziemlich am Südostende der City liegt. Eine völlig unscheinbare Gasse mit nur sechszig monotonen rauchgeschwärzten Häusern ohne jedweden architektonischen Schmuck, ohne Verkaufsläden und ähnliche Ruhepunkte für das in dem einförmigen Mauergrau trostlos umhersuchende Auge, hat Mincing Lane doch eine bis in die fernsten Erdteile und Zonen reichende commercielle Bedeutung. Es ist der Mittelpunkt des Londoner Colonialwaarenhandels, was mit anderen Worten besagt, der Sitz des größten Colonialwaarengeschäfts der Welt, das Land, wo der Pfeffer zwar nicht wächst, aber wo der meiste Pfeffer auf dieser Erde zu holen ist, das leibhaftige Eldorado, wie es unseren süßen Jünglingen, die in Kaffee und Zucker machen, in seligen Träumen vorschweben mag. In jedem Hause der engen Gasse haben Kaufleute und Mäkler ihre Bureaux aufgeschlagen, in manchem Gebäude giebt es so viele einzelne Comptoirs wie Zimmer überhaupt, so daß mehr als dreihundertsechszig Firmen in der trübseligen, dicken, qualmigen Atmosphäre von Mincing Lane ihr Lebenselement finden. Und was bedeutet die Mehrzahl dieser Firmen! Es sind Firmen von Weltrang, Handelsfürsten, in Asien und Amerika so wohl renommirt und accreditirt wie in London und Europa, Firmen, bei deren bloßen Namen der Kaufmann ehrfurchtsvoll den Hut zieht, Häuser, denen Jahr aus Jahr ein Million auf Million durch die Bücher und Hände und zum Theil in die Taschen läuft. Da finden wir die großen Theehändler, die Oportokaufleute, welche lediglich dem Portwein ihre Thätigkeit widmen, die Sprit-, die Baumwoll-, die Indigo-, die Reishändler, die Westindienkaufleute und noch manche andere Specialisten, die nach dem Grundsatze der Arbeitstheilung ihre Kräfte und Mittel auf einen einzigen Geschäftszweig concentriren.

Man war schon im besten Zuge, als wir eintraten, die Versammlung zeigte jedoch jenen gemessen feierlichen Charakter, der bis zu einem gewissen Grade allen öffentlichen englischen Verhandlungen und Zusammenkünften eigenthümlich ist. Wie im Unterhause hatte zwar Jedermann den Hut auf dem Kopfe, aber die Hüte waren Cylinder und spiegelblank gebürstet; ich glaube, ich war die einzige Person, die, in deutscher Bequemlichkeit, den geweihten Raum mit einem grauen Reisefilze zu betreten wagte. Ueber alle die schwarzen Angströhren ragte der Auctionator auf seinem mitten im Saale aufgebauten hohen Katheder empor, ein echter John Bull mit rothem Sherry- und Beefsteakgesicht, und um ihn standen in dichtem Haufen, die Brieftaschen in der Hand, „die Großen der Krone“, die Makler, ohne deren Vermittelung in Mincing Lane selten ein Handel zu Stande kommt. In den Auctionen Ihrer Majestät sind sie die unumschränkten Gebieter und Macher, die eigentlichen Kunden. Sie haben schon draußen auf den Schiffen, im Zollhause, in den Londoner Docks, in Lagerkellern die zu versteigernden Waaren in Augenschein genommen, von denen man hier im Verkaufslocale selbst kein Stäubchen und kein Körnchen zu Gesicht bekommt, und für jeden einzelnen Posten bereits den bestimmten Käufer in petto. So nimmt das Geschäft einen außerordentlich schnellen Verlauf, und ehe man sich noch in den fremdartigen Umgebungen, in dem Stimmen- und Zahlengewirr und über die wundersamen Ankündigungen und Ausrufe des dicken Auctionators nur einigermaßen orientirt hat, leert sich plötzlich der Saal und man erfährt zu seinem Erstaunen, daß das ganze bunte Waarenconglomerat an den Mann gebracht und bezahlt ist.

Selten kam ein einzelner Artikel unter den Hammer; meist hatte man mehrere Waaren zu Loosen oder Partieen – lots – vereinigt und schlug diese Collectionen nur ungetrennt los. Nach welchem Princip und System aber diese oft überaus sonderbar zusammengestellten Loose gruppirt waren, das weiß vielleicht Gott Mercur allein.

„78 Probeflaschen, 3 Gallonen Rothwein mit 11/26; 21 Nöselflaschen, 19/12 Gallonen Weißwein mit 11/26!“ proclamirte John Bull von seinem Throne herab. Das war mir Chinesisch.

„Um des Himmelswillen,“ wandte ich mich an meinen Freund, „was bedeutet dieses Wischi-Waschi? Sagen Sie mir wenigstens, was wollen die Sechsundzwanzigstel hinterdrein besagen?“

„Das Letztere kann ich Ihnen erklären,“ lautete die Antwort. „Zu den Brüchen müssen Sie sich noch das Wort ‚Ullages‘ hinzudenken; darunter aber versteht man den Inhalt eines Fasses, wenn dieses nicht ganz voll ist. Hier also fehlen 15/26 an der Quantität, welche das Gefäß hätte enthalten sollen. Wie in aller Welt aber die Herren Makler die Differenz auf solche Bruchtheile herausrechnen – darüber muß ich Ihnen den Bescheid schuldig bleiben. Sie wissen, ich mache nicht in Spirituosen, nur in Zucker und Kaffee.“

Noch grübelte ich über dies Theilungsräthsel nach, da ertönte die fette Stimme vom Katheder aufs Neue.

„13 Flaschen Liqueur, 3 Flaschen Kirschbranntwein und eine Flasche Rum.“

Kein Mensch thut ein Gebot. Der Auctionator wiederholt seinen Spruch, „doch stille bleibt’s wie zuvor“. Endlich ruft aus einem Winkel heraus Jemand: „Einen Schilling!“

Und: „Einen Schilling zum ersten, einen Schilling zum zweiten, einen Schilling zum dritten und letzten Male!“ Der Hammer sinkt nieder und der Glückliche hat für einen Schilling nicht weniger als siebenzehn Flaschen Herzstärkung erbeutet!

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 283. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_283.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)