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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

11. Der neue Nachbar.

Am Morgen wurde Louise erst von der Hausglocke geweckt, die zum gemeinsamen Frühstück rief. Der Vater stand vor ihr und sagte, er habe schon einen weiten Weg in der Umgebung gemacht und bereits, wie Louise gewünscht hatte, ein Telegramm nach Luzern aufgegeben, damit man ihm Briefe und Zeitungen hierher sende. Louise wußte nicht mehr, was sie gewünscht hatte, sie saß aufrecht und besann sich, ob sie in der vergangenen Nacht geträumt oder ein Wirkliches erlebt habe. Sie bat den Vater, im anderen Zimmer zu warten, bis sie sich angekleidet habe, aber sofort fragte sie durch die angelegte Thür, ob der Vater nichts von einem Monsieur Edgar gehört habe, der heut Nacht angekommen sei.

„Ja freilich,“ erwiderte der Vater, „und Alles im Hause strahlt vor Freude, die Wirthsleute, die Gäste, die Kellnerinnen, und vor Allem Caspar, er hat dem Kuhhirten gesagt: Jetzt wird’s erst recht lustig! Monsieur Edgar ist da! – Und ich hörte ihn mit dem Wirthe davon reden, daß man ihm heute wieder die Brücke bauen müsse.“

Louise wollte dem Vater sagen, daß sie die Ankunft des Mannes mit angesehen, sie wollte ihn fragen, ob er den Freudenbringer auch schon gesehen, aber sie hielt sich zurück. Bald ging sie mit dem Vater in den Saal, wo an kleinen Tischen das Frühstück eingenommen wurde. Um einen runden Tisch saßen Männer und Frauen, sie hatten Alle Blick und Wort an einen Einzigen gerichtet, der den Knaben mit der rothen Blouse und das kleine Mädchen, das heut ein weißes Kleid trug, auf seinem Schooße hatte.

Es war ein hochgewachsener Mann, bräunlichen Antlitzes, mit dichtem, schwerem Haupthaar und kurz gehaltenem schwarzem Vollbart. Seine Stimme war wohltönend und der Ausdruck seiner Miene freundlich; jetzt setzte er eine auf dem Tische vor ihm liegende Brille auf und fragte leise die Mutter der beiden Kinder etwas.

Offenbar hatte er nach Louisen und deren Vater gefragt, denn die Antwort wurde ihm ebenfalls leise gegeben und Aller Blicke richteten sich nach dem Vater und der Tochter, die indeß bald allein im Saale waren, denn die Gesellschaft ging nach dem Garten, wo der Neuangekommene – es war Monsieur Edgar – die beiden Kinder hüben und drüben an der Hand führte.

„Wunderlicher Widerspruch!“ sagte der Vater zu Louisen, „die Franzosen, die weit weniger Gefühl für Freiheit als für Gleichheit haben, sind eitle Ordensgecken; sie tragen auf Reisen ihre rothen Bändchen und sogar hier in der schweizerischen Republik, wo es keine Ordensbänder giebt.“ –

„Es mag Eitelkeit darin liegen,“ entgegnete Louise, „aber es giebt ihnen doch auch eine Verpflichtung, sich als nicht gewöhnliche Menschen zu zeigen, und ein ungewöhnlicher Mensch scheint er.“

„Wer?“

„Der Herr Edgar. Als ich ihn in der vergangenen Nacht sah, hätte ich freilich nicht geglaubt, daß er am Tage einen Orden trägt im Angesicht dieser Gebirge, wo Alles das so kleinlich erscheint.“ Sie erzählte dem Vater das Erlebniß der vergangenen Nacht und es lag ein schmerzlicher Ton darin, wie sie hinzufügte, daß im Lichte des Alltags kein ungewöhnliches Ereigniß bestehen bleibe.

Die Wirthin, die herzugetreten war, sagte unaufgefordert den beiden Fremden, daß Monsieur Edgar der Beliebteste von Allen sei. Er sei von Rom aus schon mehrere Sommer hier gewesen und das letzte Mal fünf Monate; er habe ein prächtiges Bild hier aus der Gegend gemalt.

Der Vater fragte, ob die Frau und die beiden Kinder ihm gehörten; die Wirthin verneinte und setzte hinzu, so lustig sei kein verheiratheter Mann und er mache sich auch nichts aus den Frauenzimmern, aber die Kinder habe er gern, er sei ein wahrer Kindernarr.

Louise fragte, ob man nicht die Punkte sehen könne, welche die hier angesiedelten Künstler jetzt malten. Die Wirthin zuckte die Achseln, die Maler hielten es wie die Vögel, die auf Umwegen zu ihrem Nest fliegen, um es nicht zu verrathen; sie sorgten ängstlich dafür, daß man sie in ihrer Arbeit nicht störe, wenn aber Jemand die versteckten Orte finde, wo sie arbeiteten, dann könnten sie es nicht hindern.

Die Männer waren alle fortgegangen, auch der Wirth und Caspar waren nicht zu sehen. Die Mutter der beiden Kinder saß mit anderen Frauen an der Schattenseite des Hauses mit einer Handarbeit beschäftigt. Louise hätte sich gern ihnen zugesellt, aber da sie nicht aufgefordert wurde, ging sie vorüber. Es war still im Hause und im Garten; nur die beiden Kinder spielten am Ufer mit dem Hunde, der, seiner Pflicht bewußt, sich zur Unterhaltung der Gäste herzugeben schien.

Jetzt kam der Nervenkranke mit seinem Begleiter des Wegs daher, Louise und der Vater grüßten, aber der Kranke machte eine abwehrende Bewegung, und so wandelten sie ohne weitere Anknüpfung vorüber.

Louise ging nach ihrer Stube, sie wollte ihren Malkasten mitnehmen und sich einen guten Punkt suchen, aber eine eigene Scheu hielt sie zurück. Wie sollte sie in der Umgebung von Künstlern von Fach sich mit ihren dilettantischen Versuchen hervorwagen?

Sie ging mit ihrem Vater nach dem Dorfe, sie bestiegen eine kleine Anhöhe, die als besonderer Aussichtspunkt gerühmt war. Der Vater hatte das Glück, hier einen Mann zu finden, der seine Sommerfrische im Dorfe hielt und einen Pack der neuesten Zeitungen vor sich liegen hatte. Es ergab sich leichte Anknüpfung und der Mann erbot sich, dem Fremden täglich die ihm zukommenden Zeitungen zu überlassen. Er war ein ehemals hoch angesehenes Mitglied des schweizerischen Bundesrathes, und bald war Herr Merz mit ihm im eifrigsten politischen Gespräch, so daß er und seine Tochter eingeladen wurden, in das kleine Bauernhaus zu kommen, das der alte Herr sich behaglich eingerichtet hatte und, nachdem alle seine Kinder verheirathet waren, nun mit seiner Frau allein bewohnte. Es war ein erquicklicher Einblick in ein stilles, abgeschlossenes Leben.

Als man am Mittag das Haus verließ, sagte Herr Merz: „Man vergißt ganz, mit wie Wenigem man glücklich sein kann.“

„Lieber Vater, das ist nicht wenig, was die Leute haben; sie haben unbeschränkte Ruhe und ein sorgloses Auskommen, das ist nicht wenig.“

„Ja, ja,“ ergänzte der Vater, „wenn Deine Mutter noch lebte und wenn Du Dich verheirathet hättest, ich glaube, die Mutter und ich, wir hätten uns auch ein solches Häuschen an diesem so schönen Fleck Erde gewählt, aber wenn – wenn – das soll man eigentlich nicht sagen.“

Als die Beiden in den Gasthof zurückkamen, wollte sich die Gesellschaft eben zu Tisch setzen; lärmendes Durcheinanderreden wurde laut, weil Monsieur Edgar keine Ausnahme gestatten und nicht von der alten Ordnung abgehen wollte. Er widersprach dem allgemeinen Wunsche, sich oben an den Tisch in die Mitte seiner Freunde zu setzen; nur der Präsident gab ihm Recht, und so setzte er sich als der letzte der Gäste und saß Louise gerade gegenüber neben dem Arzte, der ihn immer grimmig ansah. Es wurde kein Wort hier am Tische gesprochen und nach aufgehobener Tafel waren die Künstler bald alle wieder verschwunden.

Am Mittag gesellte sich Louise zu den zurückgebliebenen Frauen, während der Vater mit dem Bundesrath eine in der Nähe liegende Seidenfabrik besuchte.

Als am Abend die Maler zurückkehrten, wurde Louise Allen vorgestellt und auch Herrn Edgar. Nach der Abendtafel versammelte man sich wieder im Musiksaale, die Mutter der beiden Kinder sang anmuthige französische Lieder; ihre Schwester, ein schlankes junges Mädchen mit blonden Locken, ließ sich erbitten und spielte die Geige, sie selbst übernahm die Clavierbegleitung. Der Anblick des Mädchens mit der Geige und ihren schönen Bewegungen war anmuthig. Das Auge Edgar’s haftete unverrückt auf ihr. Louise saß neben ihrem Vater und sagte leise: „Findest Du nicht auch, daß die Geigenspielerin Marien ähnlich sieht?“

Der Vater nickte. Nun setzte sich Herr Edgar auf den leeren Platz neben Louise und forderte sie auf, auch zu singen oder Clavier zu spielen. Sie betheuerte, daß sie kein musikalisches Talent habe, und im Tone ihrer Worte lag eine Wahrhaftigkeit, daß Herr Edgar sagte, er glaube ihr vollkommen, er sei überzeugt, daß sie nicht aus Ziererei eine unwahre Bescheidenheit kundgebe.

Louise dankte, aber es traf sie doch seltsam, daß der Mann, der noch so wenig mit ihr gesprochen, so auf den Grund ihrer Seele sah. Sie wollte fragen, woher er diese gute Meinung von ihr habe; aber sie unterdrückte es, vielleicht auch – suchte sie sich einzureden – ist dies eine neue Art französischer Höflichkeit.

Als nun Herr Edgar bemerkte, er hätte ihrer Sprechstimme

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 275. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_275.jpg&oldid=- (Version vom 6.1.2019)