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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

nicht zu, das weiß ich. Herr Director, haben Sie Mitleid und erlauben Sie mir, daß ich heimlich komme. Wenn es vorbei ist, lassen wir dann den Meinigen sagen, wo ich bin, und sie werden es Ihnen und mir danken, daß wir das Nothwendige thaten, ohne ihnen die schwere Verantwortung und Angst vorher aufzubürden.“

Der Director rieb sich die Hände. „Ein ganzer Junge – bei Gott – ein ganzer Junge! Hätten wir lauter solche Patienten, – das Schneiden und Sägen wäre ein Vergnügen. Aber es geht nicht, Freundchen, auf mein Wort! Ohne die Erlaubniß des Herrn Papa darf ich kein Härchen auf diesem Eisenkopf krümmen. Sela! Auf Wiedersehen morgen, aber nur mit elterlichem Erlaubnißschein! Bst, nicht gemurrt – Sie stehen doch auf festen Füßen, wenn auch der eine ein bischen kürzer ist als der andere. Adieu!“ Er hatte Alfred zur Thür hinausgeschoben, und dieser stand wieder in dem jetzt mit Wartenden angefüllten Vorzimmer. Die neugierigen Blicke der Leidensgefährten folterten ihn, und er hinkte so schnell wie möglich fort.

Er warf sich wieder in die Droschke und fuhr nach Hause. Die verschiedensten Pläne durchkreuzten seinen brennenden Kopf. Sollte er seine beiden Eltern fragen oder nur den Vater? Mit dem Vater allein hoffte er besser fertig zu werden als mit der Mutter. Jedenfalls wollte er es nur ihm sagen, vor Allem aber den Rath seines besten Freundes, des Candidaten, einholen. Er ließ den Wagen an der „Enge“ halten, um nicht durch das Geräusch des Wagens die Familie auf seine Rückkehr aufmerksam zu machen. Er wollte und konnte in dieser Aufregung Niemanden sehen. Als er durch den Garten hinter dem Hause schlich, hörte er zu seinem großen Schrecken die Stimme seines Vetters, der ihn rief.

„Alfred, Alfred! Wo hat sich die Milbe nur wieder verkrochen?“ schrie Victor immer näher kommend.

Alfred wollte seinem Vetter in dieser Stimmung um keinen Preis begegnen, er mußte sich verbergen. Dort der vergessene abgelegene Pavillon – dort hinein flüchtete er sich. Die von dichtem Gestrüpp überwucherten Fester hatten keine Scheibe, und statt ihrer waren Vorhänge von Segeltuch da, um gegen die Zugluft zu schützen. Er verbarg sich zwischen einem solchen Vorhange und dem Fenster. Victor eilte achtlos an dem dunkeln Gebüsch vorbei, das ringsum den Pavillon einschloß. Alfred wollte aufathmen und seinen Schlupfwinkel verlassen, da näherten sich wieder Stimmen. Es war ihm, als käme Victor zurück; dann schien es ihm wieder die Stimme seiner Mutter und Egon’s zu sein. Nun suchten ihn auch diese Beiden, das war das Aergste. Egon am wenigsten durfte wissen, was er vorhatte, und was würden sie sagen, wenn sie seine erhitzten Wangen, seine innere Bewegung sähen? Was sollte er antworten, wenn sie ihn nach der Ursache fragten? Seine Angst wuchs von Secunde zu Secunde; sie kamen näher, diesmal wirklich auf den Pavillon zu – er drückte sich klopfenden Herzens hinter die Vorhänge; vielleicht warfen sie nur einen flüchtigen Blick herein und gingen wieder, wenn sie ihn nicht fanden.

Die Thür ward geöffnet, Adelheid und Egon erschienen in derselben, sie schienen ihn gar nicht zu suchen, es war ein Spiel seiner durch den ersten Schritt, den er sich ohne Wissen der Eltern erlaubt, sehr beunruhigten Phantasie gewesen. Aber was wollten sie sonst hier, wenn sie nicht ihm nachforschten? Was hatten sie für Heimlichkeiten mit einander?

„O Liebster,“ sagte Adelheid, als zögerte sie, die Schwelle zu überschreiten, „es ist nicht recht, daß ich Dir hierher folge, und doch – seit Du mir sagtest, daß Du fort mußt, möchte ich alle Süßigkeit meines Gefühls für Dich zusammendrängen in diese letzten Stunden und Dir meine ganze Liebe zeigen, wie man wohl auch seinen Garten plündert, wenn der Geliebte scheidet, und ihm zum Abschied noch den schönsten Strauß mit auf den Weg giebt, ob auch keine einzige Blume dann den verödeten Garten mehr schmücke!“

„Engel meines Lebens,“ rief Egon, „das erste Wort, die erste That, die mir zeigt, daß Du mich liebst! O komm, komm an meine Brust, süßes, Tod und Leben bringendes Weib! Laß mich sie einmal ausathmen, die ganze Fülle dieses treuen Herzens und dann – sterben! Adelheid!“ flehte er nochmals dringender – sie aber wehrte seine ungestüme Umarmung ab.

„Nicht eher, als bis Du mir sagst, warum Du so schnell fort willst.“

Willst?“ rief Egon – „o welch ein Hohn! als hinge das von meinem Willen ab! Erst küsse mich, Adelheid, dann will ich Dir Rede stehen. Deine Küsse sind die Rosen in dem Strauße, den Du mir bestimmt, – laß mich sie pflücken, so viel Du ihrer hast, und wären’s Tausende!“

Alfred lauschte dem Allen mit Entsetzen. Es schnürte ihm den Hals zu; eine ganz neue, unerklärliche Angst überkam den Knaben. Er wollte vortreten und hatte doch nicht den Muth dazu. Er wußte nicht, warum er sich jetzt weniger als vorher entschließen konnte, seiner Mutter gegenüber zu stehen. Er schämte sich – aber er konnte sich nicht Rechenschaft geben, für wen – für sich oder für seine Mutter? Jetzt erscholl ein Geräusch wie von einem langen leidenschaftlichen Kusse. Er hörte, fühlte, daß die Beiden sich umarmten! Dem Knaben sträubte sich das Haar, kalter Schweiß trat ihm auf die Stirn. Ein Widerwille; ein Abscheu, ein unerklärlicher Ekel bemächtigte sich seiner. „Jage sie auseinander!“ schrie es in ihm, „laß das Entsetzliche nicht geschehen!“ – er wollte hervortreten – wollte sich zwischen sie werfen; aber da thürmte sich unübersteiglich eine Mauer vor ihm auf und hielt ihn gefangen und jede Bewegung und jeden Laut. Es war die Scham, die ärgste, die unüberwindlichste, die eines Kindes für seine Mutter! Er konnte sterben in diesem Augenblicke vor Schmerz und Wuth; aber vor seine Mutter hintreten und ihr sagen: „Mutter, ich war Zeuge Deiner Schmach!“ das konnte er nicht! Ein Verworfener, ein Verfluchter war er sich, daß er das erlebt; wie konnte er mit dem Gedanken dieses Gräuels in der Seele noch einem reinen Menschen in’s Auge schauen? Er war kein Kind mehr von diesem Augenblicke an; aber was ihn zum Jüngling machte, es war nicht eine holde keimende Frühlingsahnung – es war das Entsetzen über ein Verbrechen, das im Sturmesaufruhr die Knospenhülle von seiner Seele streifte. Und heiße Thränen flossen endlich wie der quellende Saft aus der verletzten Blüthe über seine Wangen, Thränen um die verlorene Kindheit!

Er versuchte sich leise auf das Gesims zu schwingen, um so durch das Fenster zu entfliehen, aber er wagte den Sprung nicht, es war zu hoch für seine Unbeholfenheit und bei einer gewaltsamen Bewegung konnte sein gepanzerter Fuß an die Wand schlagen und ihn verrathen. Hülflos, rathlos kauerte er in seinem Versteck wie von einem Zauber gelähmt, gebannt. Er hielt sich die Ohren zu, schloß die Augen und mußte doch hören, was sie sprachen – und was er mit dem äußeren Auge nicht sah, das sah er mit dem inneren, denn die Hülle war ja von seiner Seele genommen, er war sehend geworden! Die Zähne schlugen ihm aneinander, daß er sich zu verrathen fürchtete, und kalter Schauer schüttelte ihn. Was war dagegen die Marter in den Banden und Riemen des Operationstisches, mit deren Schilderung ihn der Arzt abschrecken wollte? Sie erschien ihm leicht, ja Wohlthat gegen das, was er jetzt durchmachte, der Sohn im Bann der Schuld seiner Mutter!

„Egon,“ flüsterte Adelheid; es war ein süßes Flüstern, wie Egon es noch nie von ihr gehört. „Nun sprich, weshalb mußt Du so plötzlich fort? Darf ich es nicht wissen?“

„Nun denn ja! Der Candidat hat mir gedroht, wenn ich Zürich nicht binnen drei Tagen verlasse, müsse ich sterben oder ihn tödten. Da ich aber weder Deinen Schützling morden, noch selbst auf ein Leben verzichten will, das der Glanz Deiner Liebe verschönt, so beschloß ich, ihm zu willfahren!“

„Der furchtbare Mann!“ sagte Adelheid erschrocken, „er bleibt sich immer gleich.“

Egon beobachtete Adelheid, er sah, daß ihr das Benehmen des Candidaten mehr Bewunderung als Zorn einflößte, und die Eifersucht schlug wieder zur helle Lohe auf. „Adelheid,“ rief er, „ist das Alles, was Du mir auf diese Nachricht zu sagen hast? Adelheid, wenn es wahr wäre, wenn Du diesen Mann doch tiefer im Herzen trügst, als Du gestehst – heute noch müßte Einer von uns Beiden fallen!“

„Um Gotteswillen, Egon, wozu diese Drohungen? Darf ich denn nichts bewundern und verehren außer Dir? O Egon, ich liebe Feldheim, wie ich die Tugend liebe, von der ich abgefallen bin. Darfst Du eifersüchtig sein auf das Gefühl, das mich zu dem reinen Sinn der Unschuld hinzieht? Könntest Du einst vertrauend Deine Ehre in meine Hände legen, wenn Du mich so leicht getröstet sähest über so schwere Schuld? Du weißt nicht, Egon, was es für mich ist, dem fehlerlosen strengen Manne jetzt vielleicht verächtlich zu erscheinen. O Gott, Du weißt nicht, wie bitter es ist, verachtet zu sein!“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 239. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_239.jpg&oldid=- (Version vom 6.1.2019)