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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

Sie bildet einen ungeheuren, nahezu viereckigen Raum, in dessen Mitte ein mit einem Vorhang verschließbares Theater von der allgemein üblichen Form (mit je zwölf Coulissen Tiefe) sich befindet. Dasselbe ist ganz an die Hinterwand zurückgestellt, so daß vor demselben ein mächtiger Streifen als Proscenium entsteht, während zu beiden Seiten sich große Vertiefungen bilden, welche als Straßen von Jerusalem geschmückt und benützt werden. Die beiden Ecken der Mittelbühne werden durch prakticable Gebäude, die Paläste des Pilatus und Herodes, mit zwei Stockwerken übereinander gebildet, so daß also nicht weniger als acht verschiedene Räume gegeben sind, in welchen zu gleicher Zeit gespielt und eine Massengruppe aufgestellt werden kann, wie keines unserer modernen Theater sie zu stellen vermag. Nur hiedurch kann eine Wirkung erzielt werden, wie beim Einzuge des Heilands oder bei der Scene, wo er dem Volke gezeigt wird und dieses tobend die Freigebung des Barnabas verlangt.

Offenbar hat sich hier in dem Proscenium ein Rest der antiken Bühne erhalten und zugleich mit Bestandtheilen der vieltheiligen Mysterienbühne des Mittelalters verschmolzen – eine Verbindung, die reicher Entwicklung und Fortbildung fähig ist und zumal bei Festen so recht geeignet wäre, großen National-Schauspielen zu dienen und so das deutsche Nationaltheater der Zukunft anzubahnen, das sicher erstehen wird, sobald nur erst – die Nation erstanden ist!

Gegen Abend fand, um das mir gebotene Bild möglichst vollständig zu machen, in einem ähnlichen, aber akustisch keineswegs günstigen Saale auch eine Musikprobe statt, und war meine Ueberraschung schon Tags vorher eine vollständige gewesen, so mußte ich doch bekennen, daß sie von der heutigen überboten wurde. In der That, ich glaube nicht, daß irgendwo noch ein Dorf zu finden ist, in welchem sich ein so vollständiges, mit allen Instrumenten versehenes und dreißig Mann starkes Orchester mit einem Singchor von einigen zwanzig Stimmen findet, das im Stande wäre, ein so großes musikalisches Werk, das aus mehr als vierzig Nummern besteht, so rein, präcis und, man darf wohl sagen, schön durchzuführen. Zumal die Kraft und Frische der Singstimmen, der Mädchen sowohl als der Männer, war ebenso anmuthend als staunenswerth und unter den Solosängern befanden sich Stimmen, welche mancher Bühne wohl angestanden haben würden. Die Musik rührt ebenfalls von einem Ammergauer, dem früheren Lehrer Dedler, her und ist im Style der Haydn’schen Oratorien gehalten, aus welchen sich nicht selten, zumal in den Recitativen, ziemlich unverblümte Anklänge finden; sie ist einfach, wie sie es nach den ausführenden Kräften sein muß, aber sie ist melodiös und bei aller Kindlichkeit niemals trivial; nicht selten zumal in den Ensembles und Chören, erhebt sie sich zu einem Schwunge, welcher in dem unbekannt gebliebenen Landschullehrer ein tüchtiges Talent erkennen läßt – dahin gehört namentlich der durch einfache Kraft imponirende Chor beim Einzug und das Halleluja am Schlusse, so wie ein dem Hohen Liede entnommener Zweigesang von seltener Anmuth und Innigkeit. Die drei starken Bände umfassende Partitur ist von einem bekannten Münchener Musikmeister in der Instrumentation verstärkt worden und hat dadurch ganz entschieden an Fülle für den großen Raum, dem sie genügen muß, gewonnen. Der Chor der singenden Schutzgeister, welche zwischen den einzelnen Abschnitten des Dramas erscheinen, um, wie der Chor der Alten, die Stimmung zu erhöhen und auszusprechen, zugleich aber die eingeschobenen lebenden Bilder aus dem alten Testamente zu erklären, ist gegen früher ebenfalls ansehnlich vermehrt worden und enthält, wie erwähnt, recht schöne Kräfte; gleichwohl ist man nicht ganz zufrieden und sucht nach einer ersten Sängerin, die sich aber nicht mehr zu Hause, sondern auswärts in einem Kloster befindet, um als Nonne eingekleidet zu werden. Eine Deputation war eben abgegangen, um sie zu holen, da ihrer Mitwirkung Schwierigkeiten gemacht werden, während sie doch nicht daran denkt, in der Welt zu bleiben – ihr Wunsch ist nur, im Passionsspiele mitwirken zu können und dann für immer in ihre Zelle zurückzukehren; groß und allgemein war die Spannung, ob es gelingen werde, sie dem Werke zu gewinnen.

Soweit war der Zweck meiner Winterfahrt vollständig erreicht; es blieb nur übrig, einen Tag zum Durchwandern des Dorfes selbst und zum Besuch einiger Häuser zu benutzen und einen Blick in die Schnitzwerkstätten zu thun. Es sind wenige Häuser, in denen man nicht eine Schnitzbank und darüber einen Rahmen mit den mancherlei Schnitzern, Messern, Meißeln, Sticheln, Sägen und all’ dem Geräth anträfe, das nöthig ist, die Blöcke oder Klötzchen von Apfel- oder Birnholz oder von Ahorn und Spindel in Crucifixe, Madonnen, Heilige oder andere Gestalten zu verwandeln. Freund Judas traf ich, wie er eben eine Maria auf der Flucht nach Aegypten, auf dem Esel reitend, aus dem Rohen herausgearbeitet hatte und das niedliche Figürchen eines auf seine Harfe gestützten Walter von der Vogelweide begann. Eine unglaubliche Menge wird an Rahmen aller Art, an Nipp- und eigentlichen Kinderspielsachen gefertigt, die dann meist aus Fichtenholz gearbeitet und um der beliebten Buntheit willen mit Farben bemalt oder „gefaßt“ werden. Es bestehen noch einige Verleger, welche den Schnitzern die fertige Arbeit abkaufen und mit dieser dann Handel treiben und sie auf Lager halten, doch arbeiten Viele auch auf eigene Faust, allein oder in Genossenschaften; der erleichterte Verkehr hat auch hier die alten hemmenden Fesseln freier Bewegung gesprengt. Zu den geringern Arbeiten, namentlich beim Fassen, helfen auch Alte und Kinder mit, an der Schnitzbank sitzen nicht selten auch die Mädchen, wie die künftige Maria und ihre Schwestern, was sie aber nicht hindert, den Haushalt zu besorgen und im Sommer, da die Leute alle nebenbei eine kleine Oekonomie besitzen, mit hinauszugehn auf Wiese und Alm, um mit Sense und Rechen das nöthige Heu zu machen und hereinzuschaffen. Das Dorf selbst ist in zerstreuten Gassen gebaut und hat meist wohl aussehende gemauerte Häuser mit vorspringendem Giebeldach, bunt verschlungenen Arabesken um die Fenster und nicht selten mit einem ganz leidlich gemalten Heiligenbilde auf den Wänden; es giebt aber auch noch manch altes halb aus Bretern gebautes und zum Theil auf ganz einfache hölzerne Tragbalken gestütztes Häuschen, auf dem das Auge noch viel lieber verweilt, ob der schlichten Bauweise und des unvergleichlichen kräftigen Holzbrauns.

Als der Morgen des Scheidens gekommen, sauste ich im Schlitten die Straße nach Ettal dahin, um von dort in’s Loisachgebiet hinabzusteigen; die Grüße der rasch bekannt und lieb Gewordenen geleiteten mich und der vielstimmige Wunsch des Wiedersehens beim wirklichen Passion; einen Augenblick schienen sogar die Berge, die trotz ihrer handgreiflichen Nähe beharrlich unsichtbar geblieben waren, sich eines Bessern besinnen und meinen Besuch mit einer kleinen Artigkeit erwidern zu wollen. Das Gewölk begann sich etwas zu heben und der Kofel, jene schroffe thurmartige Felszinne, die, unmittelbar hinter Ammergau aufsteigend, dem ganzen Landschaftsbilde den eigentlichen Charakter giebt, nahm, wie zum Gruße, die Nebelmütze ab. Hierher, an den Fuß dieses Kegels sollte nach einem Wunsche König Maximilian’s die Passionsbühne verlegt werden, weil er dort zwischen zwei sich gegenüber liegenden Anhöhen eine überraschende Aehnlichkeit mit der Lage und den Ueberresten des römischen Amphitheaters zu Palermo fand; – es unterblieb, der Entfernung und des feuchten Bodens halber, wohl aber auch, weil der Kofel ein unheimlicher Geselle ist, in dessen gemsbewohnten Klüften es beständig sich rührt und rieselt, daß es schwer ist, gute Nachbarschaft mit ihm zu halten. Die Sonne drang einen Augenblick durch, als die Bergecke erreicht war, um welche die Ammer herangezogen kommt. Die Aussicht in das Graswanger Thal that sich auf; wundervoll, auch im Winterkleide. Das Grau der Felsen schien durch den Schnee stellenweise mit weißen Lichtern besetzt, schwarze Tannenwälder, ebenfalls silberüberflort, stellten sich wie starke Schatten daneben und hie und da schoben noch beblätterte Buchen ihr warmes wohlthuendes Rothbraun hinein; an den Schrofen des Nothberges hing ein mächtiger gefrorener Wasserfall wie eine grüne Krystallsäule hernieder und ein einziger Sonnenblick machte im Hintergrunde eine eisige Bergspitze leuchten. Mein Fuhrmann freute sich ob des Wohlgefallens, das ich an der Landschaft hatte.

„Ja,“ sagte er zutraulich, „wenn es die Leute nur wüßten – im Winter ist es erst recht schön bei uns, und wenn es hell wäre, dann würden wir gar den Brunnenkopf sehn, das ist der allerschönste, aber heut’ geht er nit heraus, heut’ ist er benebelt.“

Rasch ging es nun über Murnau nach Weilheim zurück, um von dort wieder mit der Bahn den Frauenthürmen zuzusausen, und da ich doch vom Ammergauer Passionsspiel erzählt und vielleicht Manchem die Lust angeregt habe, es zu sehen, so will ich auch gleich den Fremdenführer machen und Jedem rathen, diesen Weg zu wählen; er ist der kürzere und landschaftlich angenehmere; auch für Fahrgelegenheit und gute Verpflegung ist auf ihm wohlgesorgt,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 237. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_237.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)