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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

im Gedächtniß der ganzen Einwohnerschaft fortlebt, so daß man ohne Uebertreibung sagen kann, ein großer Theil der Mitwirkenden wisse nicht nur alle Rollen, sondern auch die Art und Weise auswendig, wie jede derselben gespielt wird, so daß jede Stellung, jede Gruppe ihre historische Berechtigung hat, und die Kinder, wenn sie in die jüngeren und dann in die Hauptpartieen einrücken, dieselben schon können und wissen und nur das eigene Individuum zum willigen Träger des Ueberkommenen und Bewährten zu machen brauchen. Dasselbe gilt auch von den Aufzügen, welche die Bewunderung aller Bühnenkundigen sind, und von den mitunter sehr verwickelten lebenden Bildern, und diese Bewunderung erscheint um so gerechtfertigter, wenn die Menge der mitwirkenden Kräfte erwogen wird, denn das Passionsspiel enthält nicht weniger als hundertundvier Sprechrollen für Männer und fünfzehn für Frauen. Werden die stumm Mitwirkenden, etwa zweihundertundfünfzig mit Einschluß der Kinder, hinzugezählt, der singende Chor der Schutzgeister, das Orchester, die Theaterleute, Aufseher etc., so ergiebt sich ein Gesammtpersonal von nahezu fünfhundert Personen, mehr als die Hälfte der gesammten Einwohnerschaft. Es ist strenge Regel, daß nur eingeborene oder doch eingebürgerte Ammergauer mitwirken dürfen, und wenn man hie und da eine leise Andeutung vernimmt, daß es schwer werde unter ihnen alle die nöthigen Kräfte aufzufinden, weil von den Eingewanderten nur Wenige zum Spiele zu gebrauchen seien, so erklärt sich das nach dem Obigen vollkommen dadurch, daß sie eben nicht wie die Eingeborenen mit dem Spiele auf- und in dasselbe hineingewachsen sind.

Vieles mag die vorwiegende Beschäftigung mit dem verwandten Kunstzweige der Bildschnitzerei beitragen; von wesentlicher Bedeutung ist unstreitig auch, daß man sich bemüht, bei der Vertheilung der Rollen, welche durch die bedeutend verstärkte Gemeindevertretung mittels Abstimmung geschieht, diejenigen Spieler, welche ihre Tüchtigkeit bereits bewährt haben, beizubehalten. So sind der Bildschnitzer Hett, welcher den Apostel Petrus mit unnachahmlich einfacher Treuherzigkeit giebt, so wie sein Genosse Lechner, der treffliche Darsteller des Judas, im Besitze ihrer Partieen geblieben, wie nicht minder Kaiphas der Hohepriester (Schnitzwaarenverleger Lang), Annas, Pilatus, Nikodemus, Joseph von Arimathäa und andere. Neubesetzt ist Christus (der frühere ist von Ammergau fortgezogen) und zwar durch den Schnitzer Joseph Maier, einen jungen Mann von hoher schlanker Gestalt, ernstem Angesicht mit dichtem dunklen Bart und reichem langen Haar, würdiger Haltung und gutem Organ, so daß er wohl hinter seinem ausgezeichneten Vorgänger nicht zurückbleiben wird, wenn auch vielleicht seiner Nase etwas mehr ideale Länge zu wünschen wäre. Neu ist auch die Maria, Franziska Flunger, die Tochter des Schnitzers und Zeichnungslehrers, welcher vor zwanzig Jahren den Christus gespielt hat und nun wiederholt den Hohepriester Annas darstellt, eine schlanke, zarte, echt jungfräuliche Erscheinung von mildem und angenehmem Gesichtsausdruck und einem nicht starken, aber angenehmen Organ, das namentlich die etwas hohe weinerlich schrillende Sprechweise vermeidet, von der die frühere Maria nicht freizusprechen war. Es macht allerdings einen eigenthümlichen Eindruck, wenn Christus seiner Mutter beim Abschiede für die seit dreiunddreißig Jahren erwiesene Liebe und Sorge dankt, und diese, die hiernach doch immerhin schon eine reife Frau sein müßte, ihm in jugendlicher Mädchenerscheinung gegenübersteht, allein mit der Vorstellung der Madonna ist im Sinne des Volks die der Jungfräulichkeit so verwachsen, daß sie gar nicht anders gedacht werden kann als in ewiger Jugend. Endlich hat auch der Lieblingsjünger Johannes einen neuen Vertreter gefunden in dem Bildschnitzer Johann Zwink, einem Jüngling, der mit aller hierzu erforderlichen Erscheinung so vollständig begabt ist, daß er, mit den üblichen Gewändern bekleidet, den Eindruck machen muß, als wäre er aus dem Rahmen irgend eines alten Kreuzbildes herausgetreten. Auch Martha und Magdalena sind sehr glücklich ausgewählt, jene ganz die einfache häuslich sorgsame, diese die mehr ideal-schwärmerische Frauennatur.

Noch während der Probe wurde mir mehrfach die schüchtern besorgte Frage gestellt, wie ich wohl zufrieden sei und was ich auszusetzen habe; man bat mich, es ja zu sagen, damit man sich etwa darnach richten könne, aber ich hütete mich wohl, irgend einen Tadel auszusprechen. Was wollte es auch sagen, wenn hie und da einer der Kehltöne, die der Ammergauer mit dem Tiroler gemein hat, etwas stärker hervortrat, oder wenn manchmal das Wort Vater, zu scharf ausgesprochen, wie Vatter klang, oder wenn ich mir sagen mußte, daß ein kunstgemäß geschulter Vortrag irgend einen Satz vielleicht anders gestaltet haben würde! Ich trug die Ueberzeugung in mir, daß das Ganze nur durch seine unberührte Naivetät und Eigenthümlichkeit von Bestand und Bedeutung sei, und daß an diese nicht getastet werden dürfe, ohne Unsicherheit und mit ihr Künstelei hervorzurufen.

Abends fand sich ein kleiner geselliger Kreis zusammen; nachdem die Scheu vor dem Fremden überwunden war, galt er nicht mehr als fremd, sondern wurde mit zu dem Hause gezählt, in dessen Inneres er eingetreten: man wollte ihm zeigen, daß „der erste Passionsgast“ willkommen war. Wir saßen ziemlich lange in vertraulichem Gespräche beisammen; Petrus mit seinem ehrlichen Gesicht, der mit dem natürlichen Kahlkopf und Bart jeden Augenblick einem Bildner zum Modell dienen könnte; Judas mit seinem rothen Vollbart, dem bleichen klugen Angesicht und den dunklen Augen voll eigenthümlichen Feuers; Annas ein von schwarzgrauem Bart umrahmtes Antlitz von ernst sinnendem, um nicht zu sagen schwermüthigem Ausdruck. Es sind einfache, aber wohlunterrichtete, offene Männer, deren Leben in dem schlichten, kaum sehr einträglichen Geschäft dahingeht und, wie die Weltgeschichte durch große glänzende Ereignisse, so durch die Passion in seine Epochen getheilt wird, von ganzer Seele erfreut über die wachsende Theilnahme an demselben und nicht minder besorgt, ob es ihnen auch gelingen werde, vor derselben zu bestehen. Die Rollen, die sie darin gespielt, das war nicht zu verkennen, bildeten die Kleinode ihrer Erinnerung, und Annas schien nur mit einer Art Ehrfurcht der Zeit zu gedenken, da er den Heiland gespielt und am Kreuze gehangen. Es war anziehend zu hören, wie ihm zu Muthe gewesen, als er zum ersten Male mit dem Kreuze sich emporgehoben fühlte, von dessen Höhe (neun Schuh von den Füßen bis zum Boden) es sich wie in einen Abgrund herniederschaue, wie das Kreuz trotz anscheinender Ruhe immerwährend schwanke und nach vornüber zu stürzen scheine, daß wohl starke Nerven dazu gehörten, um nicht von Schwindel ergriffen und von Grauen überwältigt zu werden. Durch das Hängen am Kreuze, das immerhin über eine Viertelstunde dauert, trete überdies, obwohl der Körper in einem Gürtel hängt und auch die Arme leicht umschlungen sind, eine zuletzt schmerzliche Anspannung der Brustmuskeln ein und die Hände werden dunkelblau, so daß bei der Kreuzabnahme jede rasche Bewegung sorgfältig vermieden werden müsse. Das Gespräch kam auch auf die Vorbereitungen zum Passionsspiele während der zehnjährigen Zwischenräume, in welchen zur Uebung und Heranbildung des schauspielerischen Geschicks allerlei dramatische Vorstellungen stattfinden, früher in einer alten wegen Feuergefährlichkeit abgebrochenen Scheune, dann bei günstigen Umständen in der Mittelbühne des großen Passionstheaters, welche immer stehen bleibt, und dann auch den Zuschauerraum in sich aufnehmen mußte. Es waren meist religiöse Stücke, welche zur Darstellung kamen, wie die „Kreuzschule“ oder „Sanct Herminigild“ oder „Die Gründung von Kloster Ettal“; doch fehlten auch weltliche Werke nicht, darunter Körner’s „Toni“ oder „Der Karfunkel“ von Graf Pocci oder vollends Schiller’s „Wilhelm Tell“ – für ein Dorf ein wahrlich nicht zu unterschätzendes Unternehmen!

Tags darauf durchwanderte ich den im Schulhause befindlichen Malersaal, wo eben die Architecturverkleidungen für das Proscenium und der Hauptgiebel der Mittelbühne gemalt wurden und ich mich mit Vergnügen überzeugte, daß man den in dieser Hinsicht laut gewordenen Tadel wohl beachtet und sich bemüht hatte, den etwas stark zopfigen oder eigentlich räthselhaften Baustyl der Straßen Jerusalems durch eine historisch richtige Architectur zu ersetzen. Auch in den Costümen war das gleiche Streben erkennbar; sie nehmen ein ganzes Stockwerk eines hübschen Landhauses ein, das ein wohlhabender Ammergauer Bürger – der Sänger des Prologs – sich an sehr angenehmer Stelle erbaut hat und woselbst er die Anfertigung der neuen Anzüge, so wie die Umgestaltung der alten überwacht; ein Saal sitzt voll emsig beschäftigter Nähterinnen, ein großes Gemach nebenan ist mit Stoffen aller Art gefüllt. Die Trachten sind ebenfalls den geschichtlich richtigen näher gebracht und im Allgemeinen nach den in der Alliolischen Bibel gegebenen Bildern gehalten. Der Besuch der Bühne machte mich neuerdings die außerordentlichen Hülfsmittel derselben bewundern.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 235. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_235.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)