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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

„Keinesweges,“ erwiderte er, „es ist genau so, wie ich sagte.“

„Nun, denn, so erzählen Sie mir Ihren Lebensgang, der absonderlich genug gewesen sein muß, wenn er einen zwanzigjährigen Bauernknecht zu einem dreißigjährigen Virtuosen ersten Ranges umzumodeln vermochte.“

Ich fasse seine Mittheilungen hier kurz zusammen. Joseph Diem ist der Sohn armer Bauerleute, geboren zu Kellmünz bei Memmingen in Baiern. Die Musik war ihm allerdings angeboren, denn schon als Kind in der Schule lernte er bei seinem Schulmeister Violine spielen, wobei sich, was seine spätere Ausbildung allein erklärlich macht, eine schnelle geistige Fassungskraft und mechanische, gelenke Ausübungsfähigkeit zeigte. Nach einem halbjährigen Unterricht, in seinem neunten bis zehnten Jahre, spielte er bereits Ouvertüren, so fertig wenigstens, als es sein Meister selbst vermochte.

Talent, Lust, Fleiß – aber ringsum kein Auge und Ohr und Herz dafür! Mit dem zehnten Jahre mußte er hinaus auf die einsame Weide, um Kühe und Ochsen zu hüten. Aber die Musik verließ ihn nicht, sie folgte ihm auch dahin. Sie hatte sich schon fest eingenistet in seine Seele, und alle Gedanken des armen Hirtenjungen richteten sich entschieden und entschlossen nur auf das eine Ziel, ein berühmter Tonkünstler zu werden.

Der ganze Jahreslohn des jungen Hirten bestand in einigen Gulden, einem Paar Stiefeln und einem Hemde. Dennoch ersparte er sich davon fünf Gulden, kaufte sich in Memmingen eine Flöte und Scala dazu, und lernte damit, umgeben von seinen vierbeinigen Genossen auf den sonnigen Höhen der Alm sitzend, fern von den Wohnungen und dem Getriebe der Menschen, dieses Instrument spielen. Auf eben solche Art ging’s nach und nach weiter mit Clarinette, Horn, Trompete etc. Während dreier Jahre, die er später in Kellershausen als Senne verlebte, zog er nun schon alle Musikanten ringsherum an sich, und bildete daraus eine kleine Capelle. Aber unter welchen Umständen! Die Uebungen und Proben mit seinen Schülern mußte er lange Zeit – im Kuhstalle abhalten. Endlich erhielt er die Erlaubniß, das Schulzimmer als Uebungslocal benutzen zu dürfen. Er brachte es dahin, daß er mit seinen Leuten zum Tanzaufspielen, bei Kirchweihen und Kirchenmusiken verlangt wurde. Unbegreiflich fast ist die Energie, die physische Kraft, die Ausdauer, die er dabei zeigte. Wenn Diem von Nachmittag an bis Morgens zwei bis drei Uhr ununterbrochen zum Tanze aufgespielt hatte und ganz erschöpft nach Hause kam, mußte er sofort fünfundzwanzig bis dreißig Kühe melken, und er konnte den Melkkübel gewandt handhaben. Er war als „guter Senn“ bekannt, denn was er war, war er ganz. Seine Käse wären immer sauber und gut gerathen. Auch hatte er die Natur, Krankheiten und Heilarten seiner Thiere fleißig beobachtet, und so wurde der junge Senn oft stundenweit gerufen bei Gebresten und Nöthen der Kühe, was ihm neben Geld auch einmal drei Tage Einsperrung zuzog und zwar auf Klage des Thierarztes wegen unbefugter Ausübung der Thierheilkunde.

Daß er ein Musiker in höherem Sinne werden wolle und müsse und könne, stand fest bei ihm; aber wie, das wußte er nicht. Nur Eins begriff er, daß vor Allem Geld dazu nöthig sei. Zu diesem Zwecke lebte er mit der Sparsamkeit eines Geizhalses, trieb die Entbehrungen bis auf’s Maximum und sah sich endlich dadurch und mit Hülfe der Einnahmen von dem Tanzaufspielen, von den Concerten etc. im Besitz eines Sümmchens von zweihundertfünfzig Gulden. Was und wo aber damit anfangen? Hier nun sandte ihm das Schicksal zum ersten Male seinen Beistand – durch einen Ochsen! Im Jahre 1857 nämlich trieb Diem einen solchen Vierfüßler nach Memmingen, um ihn für seinen Herrn zu verkaufen. Auf dem Heimwege kam er an der katholischen Kirche vorbei, gerade als drinnen Probe zur Kirchenmusik gehalten wurde. Diem ging auf die Orgel und ersuchte den Nächsten, ihm seine Violine zu überlassen, er wolle spielen. Der Angeredete schaute den Bauerburschen, mit der nicht ganz saubern Schürze verwundert an, gab ihm aber, wohl in Erwartung eines zu erlebenden Spaßes, die Geige. Chordirigent und Pfarrer staunten über den sichern Mitspieler und riethen ihm dringend, sich der Musik ausschließlich zu widmen und vor Allem ordentlichen Unterricht zu nehmen. Da bekam er denn endlich den nöthigen Muth. Entschlossen gab er seinen Dienst als Bauerknecht auf und ging mit seinen zweihundertfünfzig ersparten Gulden nach Augsburg, um Musik zu studiren. Er nahm Unterricht bei Fehlner.

Aber die paar Gulden schmolzen schneller, als die Fertigkeit kam, und der Geldmangel trieb ihn zu einer böhmischen Musikbande, wo ein Geiger fehlte; da machte der Schwabe, der Sechste im Bunde, als Pseudoböhmake die Reisen der fahrenden Künstler mit. Sie durchzogen die Schweiz und mehrere deutsche Länder, aber mit dem Verdienste stand’s schlecht. Diem mußte oft bitter Noth leiden. An ein Capitälchen sammeln, wie er gehofft, war nicht zu denken. Enttäuscht verließ er die Gesellschaft, um wieder heimwärts zu steuern.

Das war eine lange traurige Wanderung! Im Winter, acht Tage vor Weihnachten, trat er sie von Zürich aus an, mit einem einzigen Franc in der Tasche! Indessen hatte er bei sich, was ihm zur Noth durchhelfen konnte – seine Geige. Er kehrte Abends in einsamen Gehöften oder Dorfschenken ein, und es gelang ihm, für seinen Magen ein Nachtmahl und für seine müden Glieder ein Strohlager zu ergeigen. Wer, der ihn so durch Wind und Wetter, auf der öden menschenleeren Straße oft in die Nacht hinein, dahinwandern gesehen oder wie er in gemeinen Kneipen den Bauern aufspielte, wer hätte ihm prophezeien mögen, daß er einst in glänzenden Concertsälen vor dem feinsten Publicum als Virtuose ersten Ranges auftreten werde, und zwar auf einem Instrumente, an das er damals noch gar nicht dachte, auf dem Cello! Indessen muß er doch schon zu jener traurigen Wanderzeit eine nicht unbedeutende Fertigkeit auf der Violine gezeigt haben. Denn einmal, in St. Gallen, war ihm vergönnt, vor einer musikalischen Privatgesellschaft ein Violinsolo zu spielen, wofür ihm das für seine Lage honette Honorar von dreißig Francs gezahlt wurde; ein zweites Mal lächelte ihm ein ähnliches Glück in Lindau. Das waren aber doch nur einzelne Lichtblicke auf seiner dunklen Bahn. Das Ende dieses traurigen Wanderliedes war, daß er entblößt von allen Mitteln und in sehr defecter Kleidung nach Hause kam, wo es ihm nicht an Spott der plumpen unwissenden Bauern über den hochtrabenden Musikanten fehlte. Das entmuthigte ihn aber nicht, und um so weniger, als bald darauf eine Wendung in seinem Leben eintrat, die ihn für immer aus den niederen Kreisen herauszog und in die der feinen gebildeten Welt führte.

Ein wohlhabender Jude, der Gutsbesitzer Kaula, unterstützte den Katholiken Diem und gewann auch einige andere wackere Leute für ihn, wodurch er in den Stand gesetzt wurde, vier Jahre das Musikconservatorium in München zu frequentiren, immer noch in dem Glauben, für die Violine bestimmt zu sein, weshalb er sich in den Unterricht Lauterbach’s, des berühmten Geigenspielers, jetzigen Concertmeisters in Dresden, begab. Bald jedoch war es ihm, als warne ihn etwas, daß er dabei nicht bleiben solle. Das Cello war’s, das ihm zurief: wähle mich, gehe zu mir über, ich werde der beste Interpret deines reichen inneren Gefühlslebens werden! Mit dem fünfundzwanzigsten Jahre that er den ersten Griff und Strich darauf, und so bedeutend war die Kraft seines Talentes, so energisch sein Wille und so unermüdbar seine Ausdauer im Ueben Tag und Nacht, wobei ihn sein eiserner Körper willig unterstützte, daß er drei Jahre danach sein erstes Concert im Saale zur goldenen Traube in Augsburg gab. Immer unverrückbar auf sein Ziel blickend, hatte er sich nun auch wieder so viel gespart, daß er den berühmten Cellisten Coßmann, damals in Baden lebend, als Lehrer wählen, ihm auch später nach Weimar, wo derselbe als Kammermusicus angestellt war, folgen konnte.

Wie Diem als Cellovirtuos sich auf die Höhe der Ersten seines Fachs emporschwang, erwarb er sich auch durch unablässige Lecture und Umgang mit der feineren Gesellschaft eine Bildung, die immerhin merkwürdig ist, wenn man die niedere Sphäre kennt, in der er geboren und in der er einen großen Theil seiner Jugend festgehalten wurde. Auch für ein gutes Instrument sorgte der Himmel durch einen Gönner, den Fabrikbesitzer Zeltner in Nürnberg. Dieser edle Mann schenkte Diem das prachtvolle Instrument, das er jetzt besitzt, ein Werk des Jos. Guarneri, gut und gern seine siebenhundert Gulden werth.

Diem hat schon mehrere kleine Kunstreisen gemacht, hat in Stuttgart, Nürnberg, Hannover, Ulm etc. gespielt, immer mit außerordentlichem Erfolge. Jetzt will er weiter, in die große weite Welt hinaus, und eine nicht geringe Triebfeder dabei ist der Wunsch, seiner Mutter in ihren alten Tagen eine heitere Existenz

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 217. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_217.jpg&oldid=- (Version vom 17.1.2018)