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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

Ein Sennhirte.

Ich bin ein armer, alter, müder, abgespannter Musikant! Ich habe so viel und so lange in den Tönen geschwelgt, daß ich, nun übersatt, nicht selten an gänzlicher Musik-Appetitlosigkeit leide.

Ach! der Enthusiasmus für meine schöne Kunst ist dahin, – wenigstens für die neueren Wunder-Componisten und Wunder-Virtuosen. An dessen Stelle hat sich die eckligste, minutiöseste Kritik eingenistet, diese grämliche Canaille, die neidisch alle naiven Kunstfreuden zerstört. Es ist erschrecklich, wie tief ich dadurch heruntergekommen bin. Mir kann in Sachen der Kunst nichts mehr ganz recht gemacht werden; überall finde ich auszusetzen, zu mäkeln, denn immer muß ich vergleichen – alle Componisten mit Beethoven, alle Cellospieler mit Bernhard Romberg, alle Violinspieler mit Paganini, alle Clavierspieler mit Liszt, alle Concertsängerinnen mit der Catalani, alle dramatischen mit der Schröder-Devrient! – Denn alle diese höchsten Genien im Reiche der Tonkunst habe ich gehört und gesehen, und alle noch im Frühling und Sommer meines Lebens, da mein Blut durch die Kunstflammen noch leicht in’s Kochen zu bringen war. Sie leben, tönen, klingen, spielen in meiner Erinnerung fort, und da kann ich nun mit dem besten Willen bei den neueren Kunstproductionen nicht mehr in Erstaunen, Bewunderung und Entzückungskrämpfe gerathen.

Ach ja – das ist der Jammer des Alters! Man ist Alles gewohnt worden! Was daher die jüngere Generation als etwas ganz Neues, Unerhörtes, noch niemals Dagewesenes in wahre Wuthflammen des Enthusiasmus versetzt, sie zu hundertfachem Herausrufen, Dacaposchreien, Pferdeausspannen etc. treibt, das alles streicht an Unsereinem als schon längst und besser Dagewesenes wirkungslos vorüber. Das Schlimmste ist, daß ich das alte Lied „Zu meiner Zeit war’s besser!“ sehr wohl kenne und an Anderen oft genug verlacht habe, wie uns jetzt die frohe Jugend mit ihren frischeren, helleren Sinnen und wärmeren Herzen verlachen mag. Was hilft es aber, seine Schwächen zu erkennen, wenn man sie nicht besiegen kann?!

Solche miserabele trübselige Stimmungen suchen mich von Jahr zu Jahr immer öfter heim, und gerade zu einer derartigen melancholischsten Stunde tritt das Dienstmädchen in meine Arbeitsklause und meldet: „Ein fremder Virtuose wünscht Sie zu sprechen.“

„Kreuz und Schwert!“ zürn’ ich ihr entgegen, „wie oft soll ich Dir noch sagen, daß ich die Vormittage nicht zu Hause bin!“ – Nun hat sie’s aber schon verrathen, und ich muß den ungebetenen Gast annehmen.

Ich habe in meinem ganzen Leben keine Ader diplomatischer Verstellungskunst in mir verspürt, und mein von Natur grämliches Faltengesicht nicht freundlich glätten können, wenn sich eine ärgerliche Empfindung in mir regte. Ich fürchtete daher für mich und für den Fremden, suchte mich aber, gutmüthig, wie ich doch eigentlich bin, zusammenzunehmen.

„Laß ihn kommen!“

Ein junger, hübscher, blühender Mann, von gedrungenem Bau, ein Dreißiger wohl schon, tritt ein, und seine unbefangene treuherzige Ansprache macht einen guten Eindruck. Aber der Teufel traue einem Virtuosenbesuche!

Er heiße Diem, sei Cellovirtuos, im Begriff zum ersten Mal eine größere Kunstreise anzutreten, und wolle Leipzig nicht vorübergehen, ohne etc.

Ach ja, das ist die alte, abgedroschene Melodie, die sie jeder Feder vorsingen, von der sie einen Liebesdienst verlangen. Der Kern folgte denn auch gleich: Wenn ich in einer größeren Zeitung einige freundlich empfehlende Worte über ihn schreiben wolle, würde seine Laufbahn dadurch sicher bedeutend geebnet werden, die, „wie Sie ja am besten wissen, in unserer virtuosenreichen Zeit immer precärer und dornenvoller wird.“

In einer größeren Zeitung! Mein Gott, dachte ich, aus welchem fernen Winkel der Erde kommt denn der gute Mann her? Der führt ja noch alle Taschen voll unschuldigen Vertrauens auf die Menschen, und sogar auf die Recensenten mit sich!

Ich brauchte einige allgemeine Redensarten; da fing aber mein Besuch davon zu erzählen an, wie er vor zehn Jahren noch mit dem blauen Schurz als Knecht eines Allgäuer Bauern das Feld gepflügt, Kühe und Ochsen in benachbarte Städte zum Verkauf getrieben, und vor drei Jahren den ersten Strich auf dem Violoncell gethan habe. Ich machte gewiß ein etwas ungläubiges Gesicht; trotzdem aber konnte ich nun nicht mehr widerstehen und rief: „Nun denn, mit Vergnügen, wollen Sie heut’ Abend mit einem Butterbrot bei mir fürlieb nehmen, so sollen Sie willkommen sein.“

‚Mit Vergnügen!‘ ‚Willkommen sein!‘ So muß auch der ehrlichste Kerl zuweilen heucheln, wenn er bescheidenen Menschen nicht weh thun will. Ich seufzte ja bei diesem ‚willkommem sein‘ innerlich recht schwer über das zu erwartende – Vergnügen, denn was – um Gotteswillen, kann Einer nach erst dreijährigem Studium auf dem Cello leisten, dem schwersten aller Instrumente! Auf den zwei oberen Saiten, die, weich gesponnen, leicht und willig ihre Töne hergeben, geht’s wohl, da hört man sonore Klänge. Geräth aber die Composition in Leidenschaft, ich meine in die Passagenwühlereien, dann geht auf den borstigeren, tieferen Saiten ein Rumpeln, Grunzen, Glucksen los, als würde ein Schwein abgestochen, und schießen sie hinauf in die hohen und höchsten Regionen, so pfeift’s, fischelt’s, kratzt’s und schrillt’s, daß es Einem in die Zähne fährt, als würde mit Löschpapier über eine Glasscheibe gestrichen! Man hört eben bei den Streichkünstlern viel kunstreiche Töne, aber wenig schöne Klänge!

Dachte ich nun an die nur dreijährige Uebung meines Mannes, und sah ich dazu sein natürlich einfaches Benehmen, das so gar nichts Virtuosenhaftes zeigte, – manch vierteljähriger Conservatorist hat sich wahrlich schon ein genialeres Ansehen anzuschaffen gewußt, – so kann man sich denken, was ich von dem heutigen Abend erwartete! Nichts mehr und nichts weniger als die schrecklichste Pein für’s Ohr, und Langeweile für den Geist.

Herr Diem ließ Abends nicht auf sich warten. Er langte aus seinem Kasten, was mich einigermaßen wunderte, einen echten Guarneri heraus und begann zu spielen, natürlich, wie’s kein Virtuose jetzt anders mehr darf, auswendig, und, was mir auffiel, aber sehr gefiel, ohne alles äußerlich carrikirte Mitspiel des Körpers, womit jetzt so mancher Virtuose seine Genialität und innerlich tiefe Gefühlserregung anschaulich zu machen beliebt.

Ja, was soll ich sagen? Kaum hatte er begonnen, – das „Ave Maria“ war’s von Fr. Schubert, – so fühlte ich, daß meine Augen sich feuchteten. Warum soll ich mich schämen, zu sagen, was wahr ist? Erzählte mir doch Mendelssohn einstmals auch ohne die geringste Scham, daß ihm die Thränen jedesmal in die Augen träten, wenn er das Papagenolied in der Zauberflöte höre!

Sicher wirkte hier auf mich mit, daß ich, den gegebenen Umständen nach, doch nur etwas sehr Gewöhnliches erwarten zu dürfen glaubte. Und nun hörte ich einen Virtuosen allererster und allerbester Art! Ein Ton, voll und männlich in den kräftigen, weich und zart in den sanften Stellen, aber immer rein und edel; – eine Fertigkeit, die mit spielender Sicherheit die schwierigsten Stellen überwand, Läufer von rapider Schnelligkeit über das ganze Griffbrett hinweg bis in die höchste Flageoletregion, Terzen-Duodecimen-Doppelgriffe, ein seltenes Staccato, in den Cantilenen ein tief in’s Herz tönender Gesang. Und was am Cellospieler vorzüglich zu schätzen, war das geschickte Maßhalten mit dem Bogen in den Passagen und Kraftstellen, wodurch er das schreckliche Kratzen und Fischeln zu vermeiden wußte.

Er fing an, wie schon bemerkt, das „Ave Maria“ von Fr. Schubert auf den Tenorsaiten zu singen, so tief empfunden, so rührend, mit so wohllautendem Klang! Dann entfaltete er in dem Concert von Goltermann, darauf in der „Schweizermelodie“ von Goßmann die eminenteste Fertigkeit und Kürze, es war eine Virtuosenerscheinung, wie sie natürlicher, schöner, Herz, Seele und Geist befriedigender nicht gedacht werden kann.

Nun aber – als wir bei der Tasse Thee und einfachem Imbiß saßen, brach ich hervor: „Jetzt, Meister Diem, gestehen Sie vorerst gefälligst, daß Sie mit Ihrer Erzählung, Sie seien ‚vor zehn Jahren noch Bauerknecht gewesen‘ und ‚hätten vor drei Jahren den ersten Strich auf dem Cello gethan,‘ einen Scherz gemacht haben.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 216. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_216.jpg&oldid=- (Version vom 17.1.2018)