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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

Mörders zu beschwichtigen und ihn zu bestimmen, sich in das Unvermeidliche zu fügen.

Es vergingen Tage, Wochen, Monate. Der Mörder berührte in dieser Zeit mit keiner Sylbe die Vollstreckung seines Urtheils. Er sprach überhaupt nur, wenn er gefragt wurde, und dann auch kurz, mit den Worten förmlich geizend. Wenn ich am Morgen in seine Zelle trat, so richtete sich jedesmal sein Blick rasch auf mich. Er sagte kein Wort. Ich wußte aber, daß dieser Blick ihm über seine Zukunft Gewißheit geben, daß er mir von dem Gesicht ablesen wollte, ob die erwartete Entscheidung eingegangen sei. Wenn ich nichts sagte, wie dies regelmäßig geschah, so fielen die Lider langsam über die Augen hinweg, der Kopf beugte sich vorn über, und still wurde dann die kaum auf Augenblicke unterbrochene Beschäftigung wieder aufgenommen. Mit jedem Tage aber mehrte sich die Niedergeschlagenheit des Gefangenen, die bald auch das körperliche Befinden desselben beeinflußte. Es trat nach und nach Appetitlosigkeit und eine vollständige Abmagerung ein. Und dennoch kam kein Laut der Klage uber seine Lippen.

Ich hatte mich an das still leidende Wesen des Gefangenen gewöhnt, und war daher nicht wenig überrascht, als er mir eines Morgens entgegentrat und in großer Erregung ausrief:

„Ich ertrage das nicht länger, es muß ein Ende nehmen. Die Herren wissen nicht, wie mir zu Muthe ist, ich will es ihnen sagen. Das Schwurgericht hat mich zur Todesstrafe verurtheilt. Weshalb wird dieses Urtheil nicht vollzogen? Soll das Urtheil nichts gelten? Dann wäre die Verhandlung vor den Geschworenen nur Komödie! Und wenn sie das nicht sein soll, weshalb noch die Menge Berichte? Und wenn auch diese nothwendig sein sollten, weshalb die Sache nicht beschleunigen, weshalb die Entscheidung so unendlich lange hinhalten? Jeder Tag, den man mich leben läßt, steigert meine Leiden. Am Tage sind diese noch erträglich, aber während der Nacht! Ach, das ist haarsträubend, das ist grauenhaft! Jede Nacht dasselbe sehen und hören müssen, und nichts, auch gar nichts thun können, das zu hindern! O ja, ich könnte es hindern, ich könnte der Sache mit einem Male ein Ende machen. Aber ich will das nicht, ich will der alten nicht eine neue, größere Schuld hinzufügen. Und weshalb auch das thun? Ich habe ja das Recht zu fordern, daß man mir giebt, was ich mir geben könnte, den Tod. Der Tod ist mir Wohlthat, das Leben – Qual. Mit dem Augenblicke, wo ich aufhöre zu leben, haben ja auch alle Schrecknisse ein Ende. Dort oben hoffe ich Gnade zu finden, denn ich habe hier schwer getragen und noch schwerer gebüßt. Heute sind es gerade zehn Monate, daß ich verurtheilt wurde –“

„Woher wissen Sie das so genau?“ fragte ich ihn unterbrechend, um ihn abzulenken.

„Sie glauben nicht? Sehen Sie hierher, das ist mein Kalender. So viel Striche Sie hier wahrnehmen, so viele Nächte habe ich nach meiner Verurtheilung Todesangst ausgestanden, und viele tausend Mal mehr habe ich gewünscht, daß die überstandene Nacht die letzte für mich gewesen sein möchte.“

Der Mörder führte mich an den kleinen, am Fußboden mit starken eisernen Bändern festgemachten Tisch, und zeigte mir an dem Rande desselben kaum bemerkbare Risse, die er mit dem Nagel seines Fingers gemacht haben wollte. Seine Stimme wurde weich und sein Auge naß, als er hierauf fortfuhr:

„Ich weiß es wohl, daß ich das Gesetz mit Füßen getreten habe, daß ich ein Verbrecher bin, wie es selten giebt. Allein ich weiß auch, daß ich nach dem Gesetz bestraft werden muß, und daß mir dies nicht länger vorenthalten werden darf. Ich bitte Sie, melden Sie dem Untersuchungsrichter, daß ich ihn sprechen und noch heute verhört werden müsse.“

Das Verhör fand noch an demselben Tage statt. Der Untersuchungsrichter gab sich die größte Mühe, den Mörder zu belehren, daß es für ihn gerathener sei, ruhig und geduldig zu warten. Seine Worte fanden indeß keinen Eingang. Er mußte niederschreiben lassen, daß der Verbrecher keine Gnade annehmen wolle, daß derselbe die Vollstreckung des Urtheils mit Entschiedenheit fordere und um Beschleunigung der Entscheidung bitte.

Nach der Unterschrift des Protokolls wurde der Mörder wieder ruhiger.

„Ich hätte das schon früher thun sollen,“ sagte er auf dem Wege nach dem Gefängnisse, „dann hätte ich weniger zu leiden gehabt. Jetzt kann die Entscheidung nicht lange mehr ausbleiben.“

Es vergingen aber doch noch mehr als vier Wochen. Der Verbrecher wurde, wie vorauszusehen war, nicht begnadigt; der Gerechtigkeit sollte freier Lauf gelassen werden. Bei der Verkündigung dieser Entscheidung blieb der Verbrecher vollkommen ruhig; er unterschrieb das Protokoll, in welchem ihm zugleich die Stunde der Hinrichtung bekannt gemacht wurde, ohne zu zittern, mit fester Hand.

Am Abende vor der Vollstreckung des Urtheils blieb ich bis nach elf Uhr in der Zelle des Mörders. Ich hatte mir einen Stuhl in die entlegenste Ecke des kleinen Raumes setzen lassen und beobachtete von hier aus still das Thun und Treiben des Delinquenten. Ich sah, daß derselbe sein Abendessen, dem ausnahmsweise eine halbe Flasche leichter Wein beigegeben war, ohne alle Hast und mit wahrem Appetit verzehrte, daß er vor und nach dem Essen die Hände faltete und still vor sich betete, daß er dann das Gesangbuch nahm, wiederum die Hände faltete und aufmerksam und andächtig in diesem Buche las. Ich wurde nicht müde zuzusehen, obwohl das Lesen eine Stunde Zeit hinwegnahm. Der Delinquent blieb hierbei vollkommen ruhig, ich konnte kein Zeichen innerer Bewegung wahrnehmen. Als er das Buch geschlossen hatte, sagte er mehr vor sich hin:

„So, nun soll es genug sein. Ich fühle mich, was ich lange nicht war, müde; ich will versuchen, einige Stunden zu schlafen. Vielleicht schlafe ich heute noch einmal ruhig, wie ich als unschuldiges Kind geschlafen habe; es ist ja die letzte Nacht.“

Er legte sich alsdann auf den Strohsack, schlug die Decke um sich herum, und nicht lange darauf hörte ich Laute, die zweifellos andeuteten, daß er fest eingeschlafen war.

Am andern Morgen war ich schon vor vier Uhr wieder in der Zelle. Der Delinquent lag noch ebenso, wie ich ihn am Abend vorher verlassen hatte, und schlief noch so fest, daß er meinen Zuruf nicht hörte und erst durch Rütteln ermuntert werden mußte.

„Ach, habe ich schön geschlafen!“ sagte er, als er auf den Füßen stand. „So wohl wie heute ist mir lange Zeit nicht gewesen. Solcher Schlaf ist süß. Ich werde nun immer, bis in alle Ewigkeit so schlafen.“

Dies waren seine letzten Worte im Gefängnisse. Er sagte sie ruhig, würdevoll, als ob er bete.

Gegen sechs Uhr führte ich ihn aus dem Gefängnisse. Er lehnte jede Unterstützung ab und schritt fest und sicher die Treppen hinab bis auf den Hof. Es war ein wundervoller Frühlingsmorgen, der wohl die Lust am Leben hätte erwecken können. Bei dem Betreten des Hofes fiel der erste Sonnenstrahl über die hohe Mauer, durch welche der Hof von der Außenwelt abgeschlossen wurde. Der Delinquent wendete sein Gesicht der aufsteigenden Sonne zu und blieb in dieser Stellung bei der Verlesung des Urtheils und der Bestätigungsordre; er änderte sie erst, als der Scharfrichter durch Vorlegen einer Binde ihm das Sehen unmöglich machte. Nur einige Secunden später hatte das Beil seinen Lebensfaden zerrissen. Für diesen Verbrecher war der Tod keine Strafe.

Der zweite Fall, den ich den Lesern der Gartenlaube später erzählen werde, wird allerdings das Gegentheil des heutigen beweisen.




Die Sicherheitsapparate der Eisenbahnen.
Uebereinstimmung der Geleise. – Die hohen Masten und ihre Arme. – Der Semaphor. – Das elektrische Läutewerk. – Elektrische Distancesignale. – Quittungszeichen. – Haltesignale. – Die Weichenapparate in London. – Der Verkehr innerhalb eines Zuges. – Luftpumpen in den Wagen. – Der Sicherheits-Schreibapparat.

Nicht nur in Amerika, dessen großartiges Verkehrswesen uns immer als Muster gepriesen wird, auch in Deutschland erfreut man sich auf den Eisenbahnen großer directer Linien, welche vermittelst der auf ihnen laufenden Eilzüge rasch, ohne Aufenthalt, ohne Wagenwechsel, den Reisenden Hunderte von Meilen weit befördern.

Daß aber der Mensch so leicht, schnell und ungestört wie in Oberon’s Wagen über solch weite trennende Strecken triumphirend dahinziehen kann, dies verdankt er einem kleinen unbedeutend scheinenden Umstand: der Uebereinstimmung der Geleise. Alle europäischen Eisenbahnen, mit Ausnahme der russischen und einiger irischen Bahnen, haben eine gleiche Spurbreite, das heißt,

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