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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

Augenblick auf mich losspringen, mich packen und den Hals mir umdrehen müsse,“ Diese Erklärung ist allerdings kernig, sie bezeichnet aber wahr den innern Zustand eines Menschen, der durch strafbare Verirrungen die Aufnahme in das Gefängniß verschuldet hat.

In gleicher Weise mußte mein Gefangener gefühlt und gefürchtet haben. Als ich am andern Morgen in seine Zelle trat, fand ich ihn bereits auf der Bank sitzend. Er schien das Lager gar nicht aufgesucht oder dasselbe schon am frühen Morgen wieder verlassen zu haben. Sein Oberkörper war in Form eines Sprenkels gebogen, der Kopf auf beide Hände gestützt. Die Füße, welche, weil sie kurz waren, auf dem Fußboden keinen Stützpunkt fanden, zeigten sich in ununterbrochener zitternder Bewegung. Er verblieb auch in dieser Stellung, obwohl er mein Eintreten bemerkt haben mußte. Erst als ich ihn fragte, wie er geschlafen habe, richtete er den Kopf langsam hoch. Sein Blick war matt und müde, das Gesicht entsetzlich bleich, jede Muskel schlaff. Die erste Nacht hatte ihm arg mitgespielt.

„Geschlafen?“ erwiderte er leise, „ich habe kein Auge zuthun können.“

„Aber weshalb denn nicht?“ fragte ich theilnehmend.

Ich bekam keine Antwort. Dies Schweigen ließ mich erkennen, daß ich keinen verstockten Sünder vor mir hatte und daß es nicht schwer halten werde, ein Bekenntniß der Schuld zu erhalten. Ich setzte mich auf die Bank dicht neben den Gefangenen und erfaßte seine Hände, die kalt waren wie Eis.

„Soll ich Ihnen sagen, weshalb Sie kein Auge haben zuthun können?“

Ich sagte dies leise und weich, hielt die Hände fest und suchte diese durch Reiben zu erwärmen. Der Gefangene erwiderte nichts, aber seine Brust hob und senkte sich lebhafter.

„Ich will es Ihnen sagen,“ fuhr ich fort. „Wenn Sie die Augen schlossen, so sahen Sie Blut. Und das nicht allein. Sie sahen auch die Wunden, die Sie geschlagen haben. Ach, und noch weit Entsetzlicheres sahen Sie. Soll ich Ihnen auch das sagen?“

Der Gefangene blieb still. Allein sein Athem wurde immer kürzer und der Körper erzitterte.

„Das Schrecklichste, was Sie sahen, das waren die Todeszuckungen der Erschlagenen. Nicht wahr?“

Ich hatte mich zu dem Ohr des Gefangenen herabgebeugt und die letzten Worte in dasselbe hineingeflüstert. Er ließ das ruhig geschehen, er machte nicht einmal eine abwehrende Bewegung, er verharrte nur in seinem dumpfen Hinstarren. Und doch mußte ich eine Antwort haben, ich durfte nicht aufhören, die Schrecknisse der ersten Nacht dem Gefangenen in das Gedächtniß zurückzurufen, wenn er geheilt werden und Ruhe finden sollte.

„Aber,“ sagte ich, indem ich die eine Hand leicht löste und mit dem freigewordenen Arm den Gefangenen umfaßte, „Sie sahen nicht nur, Sie hörten auch. Und das Ohr ist noch weit empfindlicher als das Auge. Das Gehörte vergißt sich nicht, es preßt sich tief, unauslöschlich tief in das Gedächtniß. Wenn Sie auch nichts mehr sehen sollten, in Ihren Ohren werden fort und fort die Laute wiederhallen, die Sie in der letzten Nacht gehört haben, die mit grauenvoller Gewalt Ihr Innerstes erschütterten.“

Der Gefangene riß mit einer hastigen Bewegung seine Hände von mir los. Er legte sie flach vor die Ohren und keuchte:

„Ja, ja, Sie haben Recht. Das Gehörte vergißt sich nicht. Wenn ich auch die Ohren zuhalte, fest, daß kein Laut von außen hindurch kann, ich höre doch –“

Die Folge dieser Unterredung war ein unumwundenes Geständniß. Der Gefangene bekannte nicht nur, sondern er erkannte auch seine Schuld und fühlte aufrichtige und tiefe Reue.

Die That selbst in ihren Einzelnheiten will ich nicht wiedergeben, die Veranlassung zu derselben aber muß ich kurz erwähnen, weil sie den Verbrecher charakterisirt.

Der Gefangene war ein junger, strebsamer und in seinem Fache äußerst geschickter Handwerker. In der Schule und in und außer dem Hause war seine Führung tadellos gewesen, und in dem gesellschaftlichen Verkehr war er sogar ein gern gesehener und beliebter Gast. Er hatte nicht verabsäumt, die Kirche regelmäßig zu besuchen und durch Lesen guter Bücher sein Wissen nach Möglichkeit zu bereichern. So hatte er bereits sein einundzwanzigstes Lebensjahr zurückgelegt, als in ihm der Wunsch nach Selbstständigkeit rege wurde. Geweckt wurde derselbe dadurch, daß er seinen Ansichten von dem Betriebe seines Gewerbes keine Geltung verschaffen konnte, daß sein Streben nach Ausbreitung und Vervollkommnung des Geschäfts zurückgewiesen wurde, und daß er, wie er sich ausdrückte, in dem alten Schlendrian fortarbeiten mußte. Der Zwang machte ihn zuerst nur unlustig, bald aber widerwillig und zuletzt wurde er für ihn unerträglich. Er suchte lange Zeit nach einem Mittel zur Abhülfe, fand aber keinen Weg, der zum vorgesteckten Ziele führte. Da endlich in einer schlaflos verbrachten Nacht kam ihm ein Gedanke in den Kopf. Dieser Gedanke, so entsetzlich er auch war, faßte Wurzel, er trieb mit riesenhafter Schnelligkeit zu Entschlüssen und nach einer kurzen Inbetrachtnahme zweckdienlicher Mittel ungesäumt zur Ausführung des in größter Eile entworfenen Planes.

Man wird zugeben daß der Gefangene, so schreiendes Unrecht er auch verübt hatte, bedauernswerth erscheinen muß, und daß seine gesellschaftliche und religiöse Bildung ihn befähigte, über seine That und deren nothwendige Folgen zu urtheilen.

Der Gefangene wurde wegen Mordes zur Todesstrafe verurtheilt. Er war darauf vorbereitet und wurde durch die Verkündung des Urtheils nicht überrascht und auch nicht erschreckt.

Am Morgen nach seiner Verurtheilung hatte der Mörder sorgfältig Toilette gemacht. Mir fiel dies sofort auf, da ich ihm in Bezug auf Reinhaltung des Körpers und der Kleidung regelmäßig hatte Verweise ertheilen müssen. Noch mehr aber überraschte es mich, als er sich rasch von seiner Bank erhob, mir einige Schritte entgegenkam, dicht vor mir stehen blieb; die Hände faltete und mir ernst, aber nicht finster, in das Gesicht sah.

„Was haben Sie denn vor?“ fragte ich freundlich.

„Ich bin fertig,“ erwiderte er ruhig und fest. „Ich habe mit dem Leben abgeschlossen. Lassen Sie uns gehen.“

„Wohin denn?“

„Sie fragen das? Ich habe ja nur noch einen Weg zu gehen, und das ist der zur Richtstätte.“

„Damit hat es noch Zeit, lieber Freund, wenn es überhaupt noch dazu kommt.“

„Wie meinen Sie? Ich bin doch verurtheilt, und habe erklärt, daß ich mich dem Urtheile unterwerfe. “

„Das ist richtig. Aber erst muß das Urtheil rechtskräftig werden. Darüber vergehen zehn Tage –“

„Auch wenn ich erkläre, daß ich dem Urtheile mich unterwerfe?“

„Auch dann –“

„Also erst in zehn Tagen! –“ rief er, mich unterbrechend, enttäuscht.

„Nein, dann immer noch nicht. Nach Ablauf dieser zehn Tage wird die Bestätigung des Urtheils nachgesucht.“

„Was ist denn das?“ fragte der Mörder erschreckt.

„Jedes Urtheil bedarf zur vollen Gültigkeit der landesherrlichen Bestätigung. Zu diesem Zwecke erstattet das Schwurgericht Bericht an das vorgesetzte Appellations-Gericht. Von dieser Behörde werden die Acten geprüft und demnächst, mittelst eines besonderen Berichts, dem Justiz-Minister vorgelegt. Hier erfolgt nochmals eine Prüfung der Acten und dann wiederum ein Bericht an des Königs Majestät; und erst auf diesen letzten[WS 1] Bericht Allerhöchste Entscheidung, die dann auf demselben Wege uns zugeht.“

„Und wie lange habe ich darauf zu warten?“

„Das läßt sich genau nicht bestimmen. Besonders schnell geht das nicht. Es mögen acht bis zehn Monate darüber hingehen, wir haben aber auch schon ein Jahr und noch länger warten müssen.“

„Ach, das ist entsetzlich!“ rief der Mörder mit allen Zeichen großer Erregung. „So lange in Ungewißheit zu sein, und unausgesetzt Todesangst ausstehen zu müssen, das ist ja viel schlimmer als den Tod erleiden. Das ist eine fortdauernde Folter des Gastes! Herr Inspector,“ schrie er laut und seine Stimme zitterte vor Erregung, „ich mag nicht leben. Der qualvollste Tod ist mir leichter als das Leben. Ich kann meine Schuld nicht ungeschehen machen. Könnte ich’s, ich wollte es thun und darüber mich selbst zu Grunde richten. Aber weil ich’s nicht kann, so will ich sterben. Wer kann das hindern?“

„Das kann der König. Er hat das Recht zu begnadigen.“

„Ich mag keine Gnade; ich würde diese anrufen, wenn ich zu Zuchthausstrafe verurtheilt wäre.“

Durch gütliches Zureden gelang es mir, die Erregung des

Anmerkungen (Wikisource)

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 200. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_200.jpg&oldid=- (Version vom 22.6.2019)