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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

sagen sollte. „Sie sind zu kindlich,“ brachte er endlich heraus, denn er meinte, „kindlich“ sei dasselbe wie kindly (gütig).

Fräulein Körner hatte ihm den Fehler schon früher corrigirt und wußte, was er meinte: „O,“ sagte sie, „ich thue nur, was Frau Hösli an meiner Statt auch thun würde, wenn sie könnte – ja, sie ließe sich’s gewiß nicht nehmen, wäre sie bei Besinnung, denn ach, lieber Herr Frank, was Sie für uns heute gethan haben, das ist etwas so Großes, so himmlisch Schönes! Aennchen ist nicht mein Kind, und doch könnte ich von nun an mein Leben für Sie lassen aus Dankbarkeit – wie muß es da erst der Mutter sein, der Sie das Kind gerettet!“

Frank hatte diesen Worten gelauscht wie im Traum, und als Fräulein Körner, von ihrer Bewegung überwältigt, schwieg – da wußte er sich gar nicht mehr zu fassen und zu lassen, er legte das Gesicht auf den Rand von Aenny’s Bettchen und fing an laut zu weinen und zu schluchzen, daß es den mächtigen Körper ordentlich auf und nieder warf.

Fräulein Körner erschrak und Aenny fuhr auf: „Frank, Frank, ich halte mich nicht mehr, Frank, wo bist Du?“

Da ward er sogleich still, schlang wieder seine Arme um das Kind und verwendete kein Auge mehr von ihm.

Es begann zu dunkeln. Fräulein Körner stahl sich leise hinaus und kam bald mit einem reichlichen Vesperbrod zurück. „Lieber Herr Frank, Sie müssen etwas essen! Sie sind ja auch nur ein Mensch und hatten nichts zu Mittag.“

Aber Frank schüttelte mit dem Kopfe und deutete auf Aennchen.

„Ei nun, da schaffe ich Rath. Essen und Trinken hält Leib und Seele zusammen, sagte mein seliger Vater immer.“ Und sie hielt ihm ein Glas schäumenden Bieres an die Lippen, daß er trinken mußte, ob er wollte oder nicht. Und er trank. So hat noch kein Mensch getrunken. Es fiel, was man sagt, wie Wasser auf einen heißen Stein. Seit der furchtbaren übermenschlichen Anstrengung bei der Hitze der erste Tropfen, der seinen vertrockneten Gaumen netzte. Fräulein Körner sah, wie er das kühle Naß einsog, in ihrem Leben hatte ihr nichts so wohl gethan, wie die Wohlthat, die sie dem durstenden Mann erwies. Sie neigte geschickt das Glas, daß er in vollen Zügen schlucken konnte ohne abzusetzen, bis kein Tropfen mehr drinn war.

„O thank you, thank you, Miss!“, sagte er mit einem tiefen Athemzug – „o, war das gut, Miß, war das gut!“

Fräulein Körner wischte sich die Augen – es war doch eigentlich gar kein so rührender und poetischer Moment, und doch waren sie ihr feucht geworden. „Kein Mensch auf Erden hat den Trunk, der ihn labte, besser verdient als Sie heute,“ sagte sie so recht aus ihrem vollen warmen Herzen heraus. Und dann schnitt sie Brod und Fleisch, das sie mitgebracht, steckte ihm die Bissen mit ihren schlanken Fingern in den Mund und sah vergnüglich zu, wie die glänzend weißen Zähne das knusperige Brod zermalmten.

„Dearest Miss, dearest Miss, was soll ich thun for Ihnen – for zu danken Ihnen, daß Sie sind so gut for mich?“

Fräulein Körner legte ihm die Hand auf die Schulter, während sie ihm das letzte Stück reichte, und schaute in seine schwarzen Augen, in diese wunderbar schönen traurigen, unergründlich tiefen Augen und sagte weich: „Sie lieber, guter Herr Frank, helfen Sie mir, unserer braven Herrschaft das Kind wieder aufbringen, ich fürchte, es wird von der Angst recht krank. Wir wollen’s nie verlassen, wir sind ja doch die Einzigen unter den Dienstboten, die es lieb hat. Nicht wahr?“

„Yes, o ja!“ rief Frank und diesmal zog er sogar seine Hand aus der Aenny’s, um die dargebotene Rechte des Fräulein Körner zu schütteln.

Die Beiden waren in dem Augenblick so glücklich, sie konnten sich gar nicht sagen wie sehr. Sie schüttelten und schüttelten sich immerfort die Hände und wäre Fräulein Duchèsne nicht eingetreten, sie hätten gar nicht mehr aufgehört.

„Monsieur est arrivé,“ sagte sie so ruhig, als sei Herr Hösli von einer Spazierfahrt zurückgekommen, und setzte sich an das Fenster möglichst weit von Frank weg.

„O lieber Gott, der arme, arme Herr!“ rief Fräulein Körner, „wie wird er’s tragen?“

Sie kannte die Schweizer nicht, sonst hätte sie’s gewußt!

Herr Hösli war sogleich nach Eintritt des Unglücks von demselben telegraphisch unterrichtet worden. – Der Candidat erwartete ihn mit dem Großvater an der Bahn.

„Lebt er noch?“ war das Einzige, was er schon aus dem Wagenfenster ihnen entgegen rief. Sie schwiegen – da schwieg auch er. Es war nichts weiter zu sagen. Er strauchelte, als er in die Droschke stieg, die Herren mußten ihn stützen. „Excusez,“ stammelte er nach Züricher Art, dann kam kein Wort mehr über seine Lippen. Von Aenny’s Todesgefahr und Rettung wußte er noch nichts. Sie wollten es ihm erst auf der Heimfahrt erzählen, aber sie brachten es nicht über sich. Beide fühlten gleichmäßig die heilige Unnahbarkeit solch eines stummen Schmerzes, sie wagten nicht mit einem Wort das Schweigen zu unterbrechen. Wo ein Sterbender liegt und wo ein großes Glück im Menschenherzen mit dem Tode ringt, da muß es still sein ringsumher und die theilnehmende Liebe verharrt in ehrfurchtsvoller Scheu.

So kamen sie an. Der Candidat entfernte rasch die laut weinende Dienerschaft, die sich herandrängte. Auf den Arm des Großvaters gestützt, schritt Herr Hösli durch die Hausflur. Er blieb stehen. „Wo ist meine Frau?“

„Auf ihrem Zimmer bewußtlos.“

„Und er?“

„Wir haben ihn einstweilen in seine Stube gelegt,“ sagte der Großvater. „Willst ihn sehen? Wart’ lieber noch ein wenig.“

„Ich muß zu ihm!“ sprach Hösli und der Großvater führte den Sohn zu der Leiche des Enkels. „Geh’, Großvater – geh’ lieber,“ stammelte Herr Hösli und der alte Herr ging hinaus zu dem Candidaten und beide warteten vor der Thür.

Als Herr Hösli allein war, schloß er zuvor alle Riegel zu. Dann schwankte er zu dem Bette und nahm die Hülle von der Leiche. Das schöne Antlitz war unversehrt, aber – – – Die draußen hörten einen schweren dumpfen Fall, sie wollten eintreten, doch es war geschlossen. Sie horchten, lange rührte sich nichts mehr. Es ward Nacht.

Da endlich vernahmen sie Geräusch und sahen einen Lichtstrahl durch die Spalte. Der Großvater rief hinein, ob Hösli nicht öffnen wolle, aber er antwortete wieder nicht. Der alte Mann ängstigte sich mehr und mehr, endlich ertrug er es nicht länger.

„Herr Candidat,“ sagte er, „wenn Sie auch nur wollte um’s Haus ummeschliche und am Fenster lohse, ob ihm öbbe nit guet isch!“

Der Candidat war gerne bereit, auch ihn beunruhigte das Schweigen Hösli’s. Er ging um das Haus und trat zu dem niedrigen Fenster des Erdgeschosses. Die Vorhänge waren herabgelassen, aber das Fenster geöffnet. Er konnte durch die Spalten sehen. Da saß Herr Hösli auf dem Bettrand und hatte den verstümmelten Körper des Sohnes wie ein Kind im Arm und wiegte und streichelte und küßte ihn und flüsterte zwischendurch immer dasselbe: „Mi Büebli, mi lieb’s Büebli!“

Und das klang so erstickt durch die Thränen und war so unbeschreiblich zärtlich, so herzzerreißend in der steten Wiederholung, als hoffe er, der Todte könne es doch endlich hören, wenn er nur nicht müde werde es ihm zuzurufen, und als finde der namenlose Schmerz keinen anderen Ausdruck, als den, mit welchem vor zwanzig Jahren der glückliche Vater den erstgeborenen Sohn in seinen Armen empfangen haben mochte. Alles, alles war vergessen, jeder Zwiespalt des Lebens verwischt und der hülflose Leichnam ward für das Herz des Vaters wieder jenes hülflose unschuldige Knäblein, das er einst in unnennbarer Liebe an seine Brust gedrückt. Damals hatte er das Kind zum ersten Schlummer in die trauliche Wiege gebettet, und nun sollte er’s in eine andere Wiege betten zum letzten, zum ewigen Schlaf. Ende und Anfang stießen aneinander, der Ring hatte sich geschlossen, aber ach! so früh – zu früh. Der Ring war zu eng, er schnürte das zuckende Vaterherz zusammen wie ein eiserner Reif, daß es zwischen dem Einst und Jetzt fast zermalmt ward.

„Mi Büebli, mi arm’s lieb’s Büebli,“ schluchzte der unglückliche Mann laut und lauter, und Feldheim eilte vom Fenster, das Herz wollte ihm brechen.

Am andern Morgen erst trat Herr Hösli aus dem Leichenzimmer. Er sprach nicht und weinte nicht, aber die ihn sahen, meinten, er sei über Nacht einen Kopf kleiner geworden, so gebeugt war die hohe Gestalt. Als er den Flur nach Frau Hösli’s Zimmer hinschritt, kam sie ihm, von den Großeltern geführt, entgegen und sank still an seine Brust. Sie hatte sich mit Mühe vom Bette aufgerafft, auch sie weinte und klagte nicht. Sie konnte nur nicht recht gehen, ihre Füße waren wie gelähmt und versagten ihr immer

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 194. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_194.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)