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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

Dieselbe gesellige Tendenz bewirkt es, daß er auch im Hôtel massenweise zusammen hausen will. Kein Gasthof ist in seinen Augen ein „gutes Hôtel“, der seine Gäste nicht nach Tausenden oder mindestens nach Hunderten zählt und ihm nicht eine Reihe prachtvoll möblirter Zimmer darzubieten vermag, in denen er eine große Zahl von Freunden und Bekannten empfangen und seine Frau oder Tochter ihre umfängliche Garderobe vor einer kritischen Menge entfalten kann. Nimmermehr würde er es für möglich halten, daß die stille Thorfahrt eines europäischen Hôtels, in dessen Vorhalle sich kein anderes Wesen erblicken läßt als ein stattlicher Portier mit Dreimaster und silberbeknauftem Gigantenstocke, zu einem Hôtel „erster Classe“ führen könne. Den ganzen Tag in seinem Zimmer sitzen zu müssen, wäre ihm unerträglich, und der Gedanke, mit seiner Familie allein in einem gemächlichen abgesonderten Gemache speisen zu sollen, lächerlich und verächtlich zumal. Er verlangt vielmehr, daß er, sowie er nur das Hôtel betritt, auf einen Schwarm rauchender und spuckender Männer stößt, der sich in dem weiten Vestibul auf und ab bewegt, bis auf die Straße hinaus ergießt und die Treppe überfluthet und durch den er sich gewaltsam Bahn brechen muß, wenn er bis zu dem Comptoirtische vordringen will, hinter welchem in gelassener Haltung das Individuum steht, das während seines Verweilens im Hôtel sein unumschränkter Gebieter ist.

Wehe ihm, wenn er sich nicht vorher telegraphisch Zimmer bestellt hat! Einer kühlen Abweisung ist er dann sicher, oder höchstens weist man ihm widerstrebend ein Zimmer im siebenten oder achten Stockwerke an, das er mit verschiedenen anderen Gästen zu theilen hat. Gegen den letztern Umstand hat er in der Regel nichts einzuwenden, denn der Amerikaner trägt kein Bedenken, auch en masse zu schlafen, ja gar mancher Gast begehrt ausdrücklich, nicht nur in das nämliche Zimmer, nein, selbst in das nämliche Bett mit Anderen quartiert zu werden. Hat doch ein bekannter Präsident der Union einst sein Bett mit einem renommirten Staatsmanne getheilt und ihre gemeinschaftlichen Berathungen während der Nacht nachmals veröffentlicht!

In dieser Zimmervertheilung liegt ein wesentlicher Mißstand der amerikanischen Hôtels. Die Zimmer haben nämlich sammt und sonders den gleichen Preis, ob sie in der ersten Etage liegen und glänzend ausgestattet sind, oder sich unter dem Dache befinden und nichts weiter enthalten, als Bett, Waschtisch und Stuhl. So kommt es, daß es ausschließlich Sache des Zufalls, oft auch der Parteilichkeit ist, in welchen Räumlichkeiten der arme Reisende untergebracht wird. Jederzeit hat sich der Amerikaner durch seine ritterliche Galanterie gegen Damen, das heißt in seiner Sprache, gegen alle weißen, anständig gekleideten weiblichen Wesen ausgezeichnet, der Gentleman dagegen ist ihm durchgängig noch ein mythischer Begriff. Zwar die Tage sind glücklicher Weise vorüber, wo man es für bedenklich erachtete, bei der Table d’hôte der Damen auch Männern Zutritt zu gewähren, und das Vorrecht, an dieser Tafel mit speisen zu dürfen, noch besonders bezahlt werden mußte, allein in den Augen des Hôteliers oder seines Geschäftsführers ist ein Mann eben ein Mann, und wenn er nicht so glücklich ist, den einen oder den andern der hohen Gebieter zu kennen und ihm über das Büffet hinüber die Hand schütteln zu dürfen, so müssen gebildete Fremde sonder Widerrede mit dem sonntäglich aufgeputzten Handwerksgesellen oder, schlimmer, mit dem wüsten Spieler von Profession, der selten in einem amerikanischen Hôtel fehlt, eines Weges wandeln und zusammen campiren, wo möglich in Einem Bette schlafen. Bittet er nun ein Zimmer für sich allein, so sieht man ihn mit erstaunten Augen an und antwortet ihm mürrisch, das Haus sei voll, und bei dem wunderbaren Verkehr, der fortwährend die großen Straßen des Landes belebt, ist diese Antwort meist keine Ausflucht und gewöhnlich auch jeder Gang, jeder Corridor, jeder Vorsaal des Hauses mit einer Menge von Betten und Schlafeinrichtungen besetzt.

Seine Lust an Gesellschaft und dem mit dieser nothwendig verbundenen Lärm und Spectakel zeigt der Amerikaner vorzugsweise auch bei den verschiedenen Mahlzeiten. Wenn er nicht ein fürchterliches Geräusch, ein mächtiges Schwirren und Brausen um sich hört und sich dadurch beruhigt fühlt, daß er nicht allein, daß er vielmehr das Glied eines großen Ganzen ist, vermag er sich selbst am Ueberfluß der vortrefflichsten Schüsseln nicht zu letzen, wie solche das gute amerikanische Hôtel ohne Ausnahme liefert. Groß ist die Consternation des mit den Landesbräuchen unbekannten Fremden, der bescheiden den Wunsch ausspricht, zu einer bestimmten ihm gewohnten Stunde speisen zu wollen, noch größer die Bestürzung des armen Reisenden, welcher, müde und erschöpft nach einer langen Fahrt, auf der er nichts zu essen und zu trinken fand, zu einer Zeit im Hôtel eintrifft, wo das gemeinschaftliche Diner oder Souper eben beendet ist, wenn sie die peremptorische Mittheilung empfangen, daß die Thüren des ersehnten Speisesaals sich erst nach so und so vielen Stunden wieder aufthun werden! Der Gast eines amerikanischen Hôtels kann nicht frühstücken, wann er will, noch zu Mittag essen, wann und wie es mit seinen Geschäften und Neigungen übereinstimmt, einem Sclaven gleich ist er an einen Tyrannen gefesselt, der nach seiner Laune und Bequemlichkeit durch eine barbarische Handtrommel oder durch ein mark- und beinerschütterndes Donnern an der Fremdenthür den Beginn der Mahlzeiten verkünden läßt. Und wehe dem Unglücklichen von Neuem, wenn er in seiner Unschuld die Hoffnung hegen sollte, sich den Platz am Tische selber auswählen, sich neben etwaige Freunde und Bekannte setzen zu können! Ein gestrenger Herr wartet seiner, sowie er eintrifft, und überweist ihn mittels einer majestätischen Handbewegung einem andern Beamten, der ihm erst seinen Sitz bestimmt und sofort wieder verschwindet, ganz unbekümmert um die berechtigten Wünsche des Reisenden, nicht der gefährlichen Zugluft der Thür oder dem blendenden Lichte der Fenster ausgesetzt sein zu wollen. Die Geduld des Amerikaners bleibt auch hierbei bewundernswürdig. Er kommt in den Saal, nimmt den ihm zugetheilten Platz ein, wartet gleichmüthig das Signal seines Tyrannen ab und ißt unter zehn sicher neun Male, was sein sogenannter Diener hinter dem Stuhle ihm als Mittags- oder Abendbrod gnädigst decretirt. Seufzt er über diese Despotie, so wird der Diener mürrisch, erklärt, daß die gewünschten Schüsseln bereits vergriffen seien, und überläßt ihn ohne Weiteres seinem Schicksal, das heißt ohne Speise und Trank.

Schließlich erscheint der quart d’heure de Rabelais oder, wie wir Deutschen sagen, der Augenblick, wo wir „zuletzt zusammenkommen“. In keinem amerikanischen Hôtel wird dem Gaste die Rechnung auf sein Zimmer gebracht, er vielmehr beordert, sich vor einer Oeffnung in einem gewissen umgitterten Käfig zu präsentiren und hier seinen Namen und die Nummer seines Zimmers anzugeben. In wenigen Minuten ist die Rechnung ausgeschrieben, in runder Summe sonder Verzeichnung der einzelnen Posten, und man erwartet, daß der Fremde den geforderten Betrag bezahlt, ohne nach den Details zu fragen. Da für Kost und Logis pro Tag eine gewisse Summe festgesetzt ist und außer Wein – dessen man sich in den amerikanischen Gasthöfen indeß nur wenig bedient – nichts extra berechnet wird, so hat die gegenseitige Verständigung auch meistens keine Schwierigkeit. Doch auch hier tritt der vornehme Styl des amerikanischen Hôtels für den Reisenden in sehr empfindlicher Weise zu Tage. Auf eine Mahlzeit mehr oder weniger kommt es offenbar nicht an, und da der Tag von dem ersten Diner oder Souper zählt, welches dem Fremden nach seiner Ankunft vorgesetzt wird, so muß der scheidende Gast, der etwa um sechs Uhr Nachmittags vom Mittagstische aufsteht und kurz nach sieben Uhr abreist, unweigerlich auch den um die letztere Stunde servirten Thee mit bezahlen, da er zu dieser Zeit sich noch im Hause befand.

Für einen Vielesser hat der allgemeine Brauch, drei, vier oder fünf Dollars täglich für Wohnung und Kost in Anrechnung zu bringen, ohne Zweifel seine Vorzüge; er kann sich an fünf substantiellen Mahlzeiten erlaben, deren einfachste, Frühstück und Abendthee, allein mehr als genug der Nahrung auftischen, um einen hungrigen Handarbeiter über und über zu sättigen. Allein der minder glücklich Organisirte, dessen Appetit nicht so umfänglicher Art ist; der Reisende, welcher in der Stadt vielleicht Familienbekanntschaften besitzt und in deren Folge Gelegenheit findet, der mit Recht gerühmten amerikanischen Gastfreundschaft theilhaftig zu werden; der Kranke, dem sein Arzt eine strenge Diät vorgeschrieben hat, und der neugierige Forscher, welcher die Küche auch anderer vielgenannter Etablissements und Restaurants, in New-York etwa Delmonir oder Guy etc., erproben will – sie Alle leiden unter der Einrichtung jener normirten festen Preise, die man erlegen muß, man mag etwas im Hôtel genossen haben oder nicht. Die vornehme Dame in ihrem prachtvollen Gemache im ersten Stock und der unglückliche Gast in seinem Kämmerchen über der Dampfküche; der derbe Farmer, welcher jährlich nur einmal zur Stadt

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 170. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_170.jpg&oldid=- (Version vom 12.5.2019)