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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

riß und zerrte er. „Herr, mein Gott, was ist die Wahrheit, was soll ich glauben, wen soll ich lieben, wen hassen?“ rief es in ihm.

Und während er so dalag, sanft gewiegt von dem angebundenen Kahn, haftete sein Auge in der klaren Fluth, die über bunte Kiesel dem Ufer zuebbte. Allmählich wurde es ruhiger in der empörten Seele des Knaben und es kam eine stille Tröstung über ihn. Er legte sich auf den Rücken und blickte empor zu der blauen Kuppel, die sich über ihm wölbte und die ihm noch nie so schön, so herrlich erschienen war.

Er blickte zum ersten Male ohne Schirm zu ihr auf. Er war wegen des Schirms so von Victor verhöhnt worden, daß er ihn ablegte, kostete es was es wollte! Und zu seiner unbeschreiblichen Freude vertrugen es seine Augen und gewöhnten sich an das Licht und heute zum ersten Male sah er den Himmel ganz und groß wie er war. Diese Pracht hatte ihn umgeben, so lange er lebte, und er hatte geglaubt sie zu kennen und hatte doch nicht geahnt, wie viel er entbehrte! Und jetzt plötzlich sprang er auf und breitete entzückt die Arme aus: das Wunder – da war das Wunder! Das Licht, die Wahrheit, die Liebe, sie hatten seit Ewigkeit die Welt umschlossen wie der blaue Himmel, aber das Volk konnte sie nicht erkennen, denn es trug eine Binde vor den Augen, die Binde der Unwissenheit, der Thorheit. Und wenn es daran rückte und sie lüften wollte, dann schlug ihm die Tyrannei auf die Hände, bis es in wilder Empörung die Tyrannei und alles, was damit zusammenhing, niederschlug und die Binde von den Augen riß. Da strömte ihm das Licht der Wahrheit golden entgegen und die Liebe wölbte die blaue friedliche Kuppel über ihm, da erkannte es erst, welch göttlich schöner Tempel es war, den es in seiner Blindheit geschändet, sank nieder auf die Kniee und wusch mit Thränen das Blut ab, womit es ihn besudelt hatte. Und Friede war fortan mit ihm!

Und der Knabe sank in dem Kahn auf die Kniee und begrub das Gesicht in den Armen, als wolle er das Tageslicht absperren, um desto besser das Licht sehen zu können, das ihm die Seele durchleuchtete.




12. Schweizer.

Es war kein guter Stern, der seit Kurzem über den beiden Villen am See aufgegangen. Selbst der feste Boden eines langen arbeitsamen Lebens sonder Fehl und Irren, in dem das Glück der Hösli’s begründet lag, wurde erschüttert unter seinem feindlichen Strahl.

Seit Wiedereröffnung der Fabrik war kein frohes Lächeln mehr über Herrn Hösli’s Lippen gekommen. Damals hatte er den ersten Zusammenstoß mit seinem Sohne gehabt, und obgleich es sich dabei nur um eine Kleinigkeit handelte, war er für alles spätere Unheil maßgebend gewesen: Heiri hatte nämlich nebst anderen defecten Maschinen auch den Handwebestuhl ausrangiren und verkaufen wollen, auf dem der erste Vorfahr der Hösli’s Bänder für das Landvolk webte.

Dies war der Anfang der großartigen Hösli’schen Seidenindustrie gewesen und der einfache Webestuhl, auf dem der Aeltervater ihren Wohlstand mit seiner Hände Arbeit begründet, war von einer Generation auf die andere vererbt und heilig gehalten worden. Denn der Mensch hängt unzerreißbar fest an den Wurzeln seiner Ehre, wie weit sie auch in die graueste Vergangenheit hineinragen; er saugt aus ihnen geheimnißvolle Kräfte, wie das frische Blatt aus den hundertjährigen Wurzeln seines Stammes. Das bleibt sich gleich durch alle Stände beim Adel wie beim Bürgersmann; Art will nicht von Art lassen und es wäre noch zu entscheiden, wo diese Eigenthümlichkeit am zähesten haftet!

Herr Hösli jun. aber war das Kind einer Zeit und insbesondere eines Landes, wo so Viele sich ohne alle Familientradition lediglich aus dem Dunkel emporarbeiten und sich ihre eigene Ehre schaffen aus eigener Kraft, daß dieses fromme Kleben am Alten mehr und mehr als ein Vorurtheil betrachtet wird.

Ohne irgend etwas Schlimmes dabei zu denken, wollte er den alten wurmstichigen Webestuhl, der ihm zu nichts nütze schien, fortschaffen. Das gab schweren Verdruß mit Vater und Großvater, ein Wort gab das andere und hier stellte es sich zum ersten Male heraus, wie ganz anders der Ideenkreis des jungen Mannes war, als der, in dem sich sein Großvater und Vater bewegten. Seit der Zeit schwand die Hoffnung, den Sohn im Vaterhaus und Land heimisch zu machen, mehr und mehr. Wo einmal ein kaum merklicher Riß entstand, da drängt sich jede Kleinigkeit hinein und erweitert ihn.

Jedes Lächeln des Jünglings über irgend eine specifische Schweizerredensart war eine Beleidigung. Daß er keine Schwarzbrodsuppe und keine „Nükli“, ein Lieblingsessen der Schweizer, mochte, war ein boshafter Uebermuth; jede Gelegenheit, wo sich sein fremdes Wesen zeigte, steigerte die Spannung und der Vorfall bei dem Feste von neulich hatte endlich den Conflict auf die Spitze getrieben.

So stand es im Hause Hösli, während auch um das Haus Salten sich Wolke um Wolke zusammenballte. Nur unter den Kindern ging Alles seinen alten Gang. Aenny und ihre Brüder spielten nach wie vor mit Victor, und Alfred sah ihren lustigen Streichen von ferne zu. Er war und wurde immer mehr ausgeschlossen aus dem Kreise, auf den ihn doch seine Jugend angewiesen hatte, und das machte ihn mit jedem Tage um ein Jahr älter. Er hielt sich nur noch an den Candidaten. Seine Mutter hatte, seit Schorn anwesend war, so wenig Sinn für ihn; Tante Lilly bekam seit dessen Ankunft von den Schwestern so viel Scheltworte, daß sie ganz dumm davon wurde; nicht einmal Frank, mit dem er sonst manche halbe Stunde verplauderte, sah er mehr. Es war doch etwas von Schorn’s Rede über den Neger an Alfred hängen geblieben. Ja, ihm war, wie wenn er selbst an Herrn und Frau Hösli nicht mehr mit der früheren Ehrerbietung hinauf sehe; eine so unwiderstehliche Rednergabe hatte Egon, dem es in diesen Tagen sogar gelungen, den Freiherrn zu überzeugen, wie nothwendig es sei, daß er endlich wieder in die Heimath in den Verband seiner Standesgenossen zurückkehre, um seinem Sohne die Erziehung zu geben, deren ein Letzter von Salten bedürfe. Des Knaben Gesundheit schien ihm dazu hinlänglich gestärkt. „Was haben Sie davon, bester Cousin,“ hatte er gesagt, „wenn Sie der Erhaltung des Knaben alles opfern, was Ihr Stand verlangt, und Sie erziehen sich einen Abtrünnigen?“ Dazu kam noch, daß die Güter des Freiherrn unter fremder Verwaltung nicht so viel eintrugen, wie unter der eigenen; endlich hatte der Fürst, dessen Unterthan Salten war, sein langes Fortbleiben „höchst übel vermerkt“, was dem alten Herrn auch nicht gleichgültig war – kurz Egon brachte eine solche Wucht schlagender Gründe zusammen, wobei er heimlich einen triumphirenden Blick mit Adelheid wechselte, daß Salten sich endlich mit dem Gedanken einer Rückkehr zu beschäftigen begann.

Alfred sollte vorerst nichts erfahren; Adelheid fürchtete den Einfluß der Gemüthsbewegung auf seine Gesundheit und Egon fürchtete den seiner Thränen auf die weichen Herzen seiner Eltern. Aber man hatte die Unvorsichtigkeit begangen, nicht leise genug zu sprechen. Lilly, welche durch die harte Behandlung, die sie erfuhr, in letzter Zeit ganz störrisch geworden und auf allerhand neue Unarten gekommen war, hatte sich auch unter anderen das Horchen angewöhnt. Man sperrte sie, seit Egon da war, gar zu oft aus, und sie wollte doch auch wissen, was gesprochen wurde. So erlauschte sie denn das Geheimniß endlich, verhörte sich jedoch darin, daß sie für beschlossene Sache hielt, was noch im Bereich der Familienberathung schwebte, und sie ging sogleich, die wichtige Nachricht ihrem Verbündeten, Alfred, mitzutheilen.

Am selben Tage saß Herr Hösli in trüben Gedanken am Schreibetisch, da stürzte Aenny herein: „Du, Papa, das muß ich Dir sagen, die Buben Conrad und Martin waren wieder so unartig!“

„Laß mich, Aenny!“ sagte Herr Hösli verstimmt, „ich habe jetzt an Anderes zu denken.“

„Nein, Papa, Du mußt es hören. Denk’ nur, sie haben den Alfred und die kleine Tante Lilly mit der großen Gartenspritze vollgespritzt, daß sie ganz pudelnaß geworden sind!“

„Was?“ rief Herr Hösli. „Wie kamen sie zu solch einer Rohheit?“

„Wir spielten gerade beim Brunnen Haschens, und Alfred sah zu und stand bei Fräulein Körner, da kam die alte Tante hergelaufen und sagte ihm etwas, wir verstanden nicht, aber Fräulein Körner hat gehört, daß die Saltens von hier fortzögen. Da ist Alfred vor lauter Schreck umgefallen und war ganz von sich. Da haben die Buben gelacht und gesagt, sie wollten ihn schon wieder

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 163. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_163.jpg&oldid=- (Version vom 6.1.2019)