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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

Mahl- und Schlachtsteuer neben einer Communal-Einkommensteuer wie in Berlin, – das ist eine Einrichtung, wie sie nur selten in der Welt zu treffen ist und auf die die Metropole der Intelligenz wirklich stolz sein könnte, wenn sie sich nicht ihrer schämen müßte.

Kehren wir von dieser Abschweifung zurück nach Rotterdam in das Hôtel Sanct Lucas.

Der vornehm-feierliche Oberkellner, den seine Untergebenen Mijnheer anredeten, leuchtete mir die Treppe hinauf zu einem in der ersten Etage gelegenen Zimmer, welches etwa sechsmal so groß war als die in unseren deutschen Hôtels für Passanten bestimmten Zimmer, welche ich „Menschenfutterale“ nenne; denn wir armen Sterblichen werden förmlich hineingepreßt wie Löffel in das Löffelfutteral. Am hintern Ende des großen Zimmers befanden sich zwei durch Vorhänge davon geschlossen gesonderte Schlafräume oder Alkoven, jeder größer für sich als ein deutsches Durchschnitts-Hôtel-Zimmer. Auch die Betten haben dreifach so viel Flächenraum als die deutschen. Ich habe mir oft den Kopf darüber zerbrochen, warum wir Deutsche verurtheilt sind, in schmäleren und kürzeren Betten zu schlafen als die übrigen Völker Europas. In alten Patrizier- oder reichen Bauernfamilien finden wir auch in Deutschland heute noch Bettstellen, welche mehrere Jahrhunderte alt sind und uns durch ihre Dimensionen den Beweis liefern, daß diese Zurücksetzung in der nächtlichen Ruhe, unter welcher wir jetzt im Vergleich zu unseren Nachbarnationen leiden, neueren Datums ist und wir uns ehedem besserer Verhältnisse erfreut haben. Aber heut zu Tage ist es, trotz des Norddeutschen Bundes und seiner Reformen, in der Beziehung wenigstens immer noch schlecht bestellt im deutschen Vaterlande; und die Gelegenheit, diese Existenzfrage zu regeln, welche sich bei dem Gesetz über Maß und Gewicht vielleicht geboten hätte, ist leider versäumt worden.

Während ich in dem geräumigsten Alkoven des Zimmers Nr. 2 in dem Hôtel Sanct Lucas in Rotterdam mich in das ebenfalls sehr geräumige Bett legte, und zwar zunächst einmal quer, um mich zu überzeugen, daß es wirklich auch in der Breite mehr als sechs Fuß maß, dachte ich darüber nach, was ich im deutschen Vaterlande in Betreff räumlich allzusehr beengter Betten „schaudernd selbst erlebt“. Das Schlimmste war in Weimar, also in einer deutschen Residenz, die längere Zeit hindurch den Culminationspunkt des geistigen Lebens der Nation bildete, aber auch nur des geistigen. Es war, wenn ich nicht irre, im Herbste 1862 auf dem Abgeordnetentag oder einer der anderen politischen Versammlungen, in welchen damals das deutsche Volk umging, wie ein Geist, der seinen Körper verloren und ihn noch nicht wieder gefunden hat.

Da die Hôtels der kleinen Residenz nicht ausreichten, um ein paar hundert Fremdlinge zu beherbergen, so hatte ein Local-Comité mit dankenswerther Bereitwilligkeit für Privatwohnungen gesorgt. Ich hatte eine freundliche Wohnung bei einem ehrsamen Barbier am Markte gefunden und war anfänglich wohl damit zufrieden. Aber die Qual ging an, als ich spät in der Nacht zu Bette ging. Unter meiner sterblichen Hülle, die zwei Centner Zollgewicht wiegt, stöhnte das Bette fast so, wie ein allzuschwer beladenes Kameel ächzt. Außerdem hing entweder mein Haupt oder mein Fußgestell über, stets in Gefahr, wie unsere Bergleute sagen: „in’s Freie zu fallen“, und selbst auf beiden Seiten reichte der Raum nicht. Am andern Morgen machte ich meiner Wirthin gütliche Vorstellungen, ob sie mir nicht eine andere, etwas geräumigere Bettstelle beschaffen könne. Die gute Frau sah mich groß an; sie schien mich nicht zu verstehen. Als ich ihr nun unter Aufwand aller Beredsamkeit schilderte, wie wenig die Proportionen des Bettes denen meines ungeschlachten fränkischen Körpers entsprechen, lachte sie und sagte: „Ach, Sie sollten erst einmal das Bette sehn, in welchem der selige Schiller geschlafen, als er noch lebte.“

Ich ließ mir das nicht zweimal sagen und ging zur selbigen Stunde in das Schillerhaus. Ich fühlte mich beschämt, als ich die elenden Dachstübchen sah, worin unser großer Dichter gewohnt, und das schmale Brett, worauf er geschlafen, und das man meines Erachtens nur mit euphemistischem Unrecht ein „Bette“ genannt hat. Nachdem ich die nächtliche Tortur in Weimar überstanden und meinen politischen Pflichten als deutscher Reichsbürger genügt hatte, reiste ich zu meinem Vergnügen gen Süden. Die schlechten Betten begleiteten mich, so weit die deutsche Zunge klingt, das heißt bis Bruneck an der Rienz in Deutsch-Tirol. Dann überschritt ich die Sprach- und Wasserscheide, die hier durch riesenhafte und phantastische Dolomit-Felsen gebildet wird. Mein nächstes Nachtquartier war in Wälsch-Tirol, in Cortina d’Ampezzo, einem viertausend Fuß über Meer gelegenen Städtchen mit etwa dreitausend Einwohnern, die vom Holzhandel leben, von den „Schwarz-Gelben“ nichts wissen wollen und sich lebhaft der Zeit erinnern, da sie zur Republik Venedig gehörten. Ob sie Recht haben, für diese Zeit zu schwärmen, will ich dahingestellt sein lassen; denn der hohe Rath von Venedig regierte seine Vasallen nicht allzu milde. Gewiß aber ist, daß die Ampezzoer nach Sprache und Sitte Italiener sind und ihre wirtschaftlichen Interessen sie nach Süden und nicht nach Norden weisen. Sie empfinden es daher schmerzlich, daß sie von dem Venetianischen durch eine Landesgrenze getrennt sind. In Cortina d’Ampezzo war sofort das Bette wieder von derselben Ausdehnung, wie hier in Rotterdam. Warum?

Ich nahm in meiner Betrachtung (denn ich hielt es für passend, über diese culturhistorische Frage noch kurz vor dem Einschlafen zu philosophiren) als gewiß an, daß wir auch in Deutschland ehedem geräumige Betten hatten. In den fürstlichen Schlössern, in den wenigen alten und wohlconservirten Patrizier- und Bauernhäusern, welche bis heute übrig geblieben, finden wir sie noch. Der Masse der Bevölkerung aber sind sie abhanden gekommen in dem wirthschaftlichen Ruin, in welchen Deutschland vom sechszehnten Jahrhundert an immer tiefer versank. Wir verloren das Bewußtsein des vornehmen Mannes. Im neunzehnten sind wir wieder in die Höhe gekommen. Wir verdanken es zunächst dem Zollverein und der unzerstörbaren Tüchtigkeit des deutschen Bürgerthums. Aber häuslich eingezwängt sind wir doch vielfach auch heute noch. Und darum ist es Zeit, daß sich auch das deutsche Bürgerthum wieder breit mache, wie es in der That schon längst an Besitz und Intelligenz breit ist. Warum soll es nicht auch in seinen Lebensgewohnheiten wieder auf der Leiter der socialen Ordnung emporsteigen? Sind wir doch in Deutschland überall im Wiederaufstreben, in der Regeneration begriffen. Werde ich, obgleich im Alter schon Ende der Vierzig stehend, es auch noch erleben, daß man in Deutschland, in Weimar, in dem Ilm- Athen, in einem geräumigeren Bette schläft, als unser „seliger Schiller“? …

Deutsche Träume in einem holländischen Bette! – „Und ein Narr wartet auf Antwort,“ sagt Heinrich Heine. – Da ich es aber nach Möglichkeit vermeiden wollte, Argumente dafür zu liefern, daß man mich für einen Narren halte, und da ich ohnehin den ganzen Tag auf der Eisenbahn gefahren war, so schlief ich unter dem Schutze des heiligen Lucas ein, ohne jene wichtigen Fragen auszutragen. – –

Das Hôtel St. Lucas in Rotterdam ist das, was man in Graz in Steiermark auf gut Oesterreichisch „ein durchgehendes Haus“ nennt, womit man dort ein solches solides altes Haus keineswegs beschuldigen will, daß es wild geworden ist, wie ein Pferd, und im Begriffe steht, „durchzugehn“, sondern nur ausdrückt, daß es durch die ganze Häuserinsel hindurch sich erstreckt und sowohl auf die diesseitige, wie auf die jenseitige Straße aufstößt. St. Lucas stößt also mit seiner vorderen Façade auf die Hoogstreet (Hochstraße) und mit der hinteren auf die Torenstreet und den Groenmarkt. Auf letzterem liegt die Lorenzikirche, gewöhnlich die „groote Kerk“ (große Kirche) genannt. Ich glaube, es kam von dieser Kirche, nach welcher hin mein Zimmer lag, das seltsame Glockenspiel, das mich am andern Morgen aus einem erquickenden Schlaf weckte. Bei uns kennt man solche Schnurrpfeifereien nur noch bei Spieldosen. Es klingt merkwürdig feierlich prätentiös und doch dabei so außerordentlich verzopft und verschnörkelt. Aber es ist typisch. Kein richtiger holländischer Kirch-, Glocken- oder Uhrthurm darf seiner entbehren. Und überhaupt hat der Holländer, so ehrbar, gesetzt und phlegmatisch er ist, eine auffallende Liebhaberei an dergleichen kirchlichen Possen und Spielen. Diesen merkwürdigen Gegensatz hatte ich schon als Student kennen gelernt.

Mit mir zusammen studirte auf einer deutschen Hochschule ein junger Mann aus den Niederlanden, dessen Person und dessen Verhalten zu uns ein Vorbild war für das Wechselverhältniß zwischen Deutschland und Holland. Er hieß im Anfange – auf deutschen Hochschulen muß ja Jeder seinen Spitz- oder Kneip- oder Cerevis-Namen haben – „der fliegende Holländer“, weil seine außergewöhnlich langen Rockschöße beim Gehen hinter ihm drein exentrisch flaggenhafte Bewegungen machten. In Holland trugen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 135. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_135.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)