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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

Auf einer kleinen Landzunge, die ein paar uralte Kastanien beschatteten, hatte er sich niedergelassen und er war so vertieft in seine Arbeit, daß er Adelheid erst bemerkte, als sie schon hinter ihm stand. Er sprang so rasch auf, daß die Mappe, auf der er gezeichnet, ihren Inhalt in einer Menge loser Blätter umherstreute. Erschrocken bückte er sich darnach, aber bevor er sie zusammenraffen konnte, hatte Adelheid eine Zeichnung erblickt, die ihr eigenes sprechend ähnliches Portrait war. Sie entriß es dem Candidaten, ehe er es fassen konnte, und ein holdseliges Erglühen überflog sie, wie ein sechszehnjähriges Mädchen.

„O, Sie haben mich gezeichnet!“ rief sie, „wie unfreundlich, uns das Bild zu verbergen!“

„Es ist ja nur eine Studie, gnädige Frau,“ sagte der Candidat kalt.

„Was heißt das griechische Wort, das Sie darunter schrieben?“ fragte sie.

„Eine Phantasie – weiter nichts, gnädige Frau!“

„Herr Feldheim, warum sind Sie so fremd und zurückhaltend gegen mich geworden?“

Er schwieg.

„Herr Feldheim,“ rief Adelheid mit plötzlichem Entschluß und hob die kleine weichgeformte Hand auf, „diese meine rechte Hand gäbe ich darum, wenn Alles wieder zwischen uns werden könnte, wie es war, wenn wir die alte Unbefangenheit, die alte Herzlichkeit wiederfänden, die uns im Laufe der Zeit abhanden kam! Wüßte ich nur wenigstens, wer von uns Beiden die Schuld daran trägt – Sie oder ich?“

Feldheim schaute über sie weg und schwieg mit einem Ausdruck, als habe er so viel zu sagen, daß er nicht wüßte, wie er es in Worte kleiden solle.

Sie sah es und wartete geduldig auf Antwort, aber die Antwort war ganz im Gegensatz zu der erwarteten ein gezwungenes: „Sie beschämen mich, gnädige Frau!“

„Das heißt, Sie fühlen sich als den schuldigen Theil?“ frug Adelheid.

Jetzt fiel der Blick des Candidaten voll und ernst auf sie, und sie bereute die Lüge, sie demüthigte sich unter diesem Blick und wurde wahr.

„Nein, Herr Feldheim,“ sagte sie, „ich fühle, daß ich die Schuld trage, und doch, wenn Sie wüßten – wenn Sie in meiner Seele lesen könnten, Sie würden mir es nicht anrechnen, gewiß nicht!“

„Ich rechne Ihnen nichts an, gnädige Frau, als die Güte, welche Sie mir, seit ich in Ihrem Hause bin, erwiesen, denn diese ist das Beherrschende, das, was immer die Oberhand behielt in Ihrem Wesen.“

„Ich danke Ihnen für dieses Wort,“ sagte Adelheid, „haben Sie Geduld mit mir. Sie sind ja mein einziger Halt in diesem nichtigen Treiben, an Ihnen will ich mich aufrichten, denn Sie allein sind ohne Fehl unter uns Allen.“

„Gnädige Frau“ sagte der Candidat bewegt, „ich bin nichts als ein Mensch, der seine Pflichten liebt.“

„Und ist das nicht Alles, ist es nicht das Höchste? Liebte Jeder seine Pflichten, wer würde sie dann versäumen? Wo blieben dann Schuld und Reue in der Welt? Und welch traurige Pflichten sind es, die Sie lieben! Wahrlich, ich bewundere Sie! Wo ist die Freude, die Zerstreuung, die Erholung, die Sie sich gönnen, wo der Lohn den wir Ihnen bieten könnten, über den Sie nicht hoch erhaben wären? O Herr Feldheim, schelten Sie mich nicht eitel und zudringlich, wenn ich immer wieder versuche, Ihnen etwas sein zu können, trotz meiner Unvollkommenheit, wenn ich Sie bitte: erziehen Sie mich zu dem, was ich sein müßte, um Ihnen würdig zu danken, um Ihnen einen Schimmer von Glück in Ihr entsagungsvolles Dasein zu bringen.“

Der Candidat lauschte diesen Worten wie einer fernen Musik, die Strenge wich von seiner finstern Stirn und sein Auge ruhte mit einem unbeschreiblichen Ausdruck auf ihr.

Sie lehnte sich an den Stamm einer mächtige Kastanie, die Strahlen der Mittagssonne fielen golden durch das Laubdach auf ihre rothen wilden Locken und durchschimmerten ihre glühenden Augen, mit denen sie zu dem Candidaten aufsah. Ein Tizian, ein Fleisch und Blut gewordener Tizian stand sie vor dem stillen Mann, dem Asceten, und der Hintergrund des Bildes war der blaue See und das schneeige Gebirge, der Vordergrund ein einsames lauschiges Kastanienwäldchen, durch dessen Dickicht kein Auge blickte, als das der kleinen Bachstelze, die auf dem Busche saß und neugierig das Köpfchen drehte. Weder das schöne üppige Weib, dessen unbestimmtes Verlangen gleich dem scheuen Vogel den verschlossenen Mann umflatterte, noch die kleine beobachtende Bachstelze hatten eine Ahnung von dem Sturm, der sich inmitten dieses friedlichen Stilllebens in der starren Brust Feldheim’s erhoben hatte. Hätten die Stürme in einer Menschenbrust nach außen Kraft, den See hätte er aufgewühlt und den Himmel verdüstert. Aber die Schmerzen und Kämpfe einer Seele kann auch nur eine verwandte Seele empfinden und Adelheid war zu weit ab von dem Verständniß des Lehrers, um zu fühlen, was in ihm vorging.

So stand er noch immer unbeweglich und, wie es schien, unbewegt vor ihr, und die Mittagshitze brütete heiße und immer heißere Gedanken in den Beiden aus – ein Schritt, eine Spanne vorwärts und er hatte sie erreicht – eine Hand brauchte er auszustrecken und der Tizian trat aus seinem Rahmen und sank an seine Brust! Und er hatte nie gekostet, was Erdenwonne sei, er hatte nie den nervigen Arm um ein Weib geschlungen, hatte nie die schwellende Kraft des jugendlichen Herzens in einem heißen Kusse ausgeströmt. Am Büchertisch hatte er seine Jugend vertrauert, Sorge und Kummer um eine alte Mutter, die er ernährte, waren die Genossen seiner schlaflosen Nächte und vorwärts eilend auf dem rauhen Pfad der Pflicht hatte er sich nicht Zeit gelassen, eine einzige Blume zu pflücken – nicht eine einzige armselige Blume! Und hier neigte sich ihm zum ersten Male des Lebens üppigste Blüthe zu – er fühlte, daß sie sich ihm zuneigte – und er mußte an ihr vorübergehen, wenn er nicht vor sich zum Dieb werden sollte. O, tausendmal leichter im Schweiß seines Angesichts Felsblöcke aus seinem Wege räumen als diese Rose, die sich ihm bot, zur Seite schieben!

Und sie sah den Kampf lodern in seinen Blicken, sah die verschlossenen Lippen zucken, sah die seltsame süße Feindseligkeit des mit seiner Liebe ringenden Mannes auf seiner Stirne drohen – und ihr Herz schwoll an in unnennbarer Sehnsucht. Alles, Alles war vergessen, der Gatte, der Geliebte – was waren sie Alle gegen diesen Mann in seiner makellosen unnahbaren Hoheit! Und sie lehnte das Haupt wie trunken an den Stamm und schlang ihren weichen Arm um die rauhe Rinde. „Herr Feldheim,“ sagte sie fast flehend und engelhaft schüchtern im Gefühl ihrer Unwiderstehlichkeit, „Herr Feldheim, nicht wahr, was Sie jetzt bewegt, ist nicht Haß gegen mich?“

„Ich Sie hassen!“ rief der Candidat erglühend. „Das konnten Sie nicht im Ernste glauben, und es wäre eine Beleidigung, wollte ich Sie erst des Gegentheils versichern! Sie sind das Märchen meines gedankennüchternen Lebens, ein Wesen so gottbegnadet, wie ich keines sah. Sie fragten mich vorhin, was das griechische Wort heiße, das ich unter Ihr Bild geschrieben. Nun denn, Sie machen mir Muth, es Ihnen zu sagen: es heißt Helione! Die Gelehrten behaupten, wir seien Alle nichts anderes als verwandeltes Sonnenlicht! Bei Ihnen aber hat sich die Wandlung nicht ganz vollzogen, Sie haben noch mehr von dem Urelement an sich als alle Anderen, Sie sind noch lauter Sonnenlicht. Es ist als durchschimmere es Ihren ganzen Körper, als strahle es glühend von Ihnen aus. Wer Ihnen eine Ader öffnete, dem strömte wohl statt Blut Sonnengold entgegen. O Helione, sonnengeborene Frau, kein Staubgeborener kann das Auge auf Sie heften ohne geblendet zu sein! Und dennoch –“

„Und dennoch?“ fragte Adelheid in höchster Spannung. „Weiter, weiter!“

„Und dennoch haben auch Sie Ihre Sonnenflecken, wie das mächtige Gestirn, aus dem Sie hervorgegangen sind! Vergeben Sie das kühne Wort, ich glaube aber, die Güte, welche Sie mir erweisen, nicht besser lohnen zu können, als durch Wahrheit. Eine Lüge wäre zu klein für Sie. Ja, gnädige Frau – es ist manches in Ihnen, was mir Ihr glänzendes Wesen verdunkelt. Es ist dies vor Allem der Mangel an Liebe, den ich an Ihnen nach einer gewissen Richtung wahrgenommen. Sie sind gegen uns Alle so gut, der Fremdeste sonnt sich in Ihrer belebenden Nähe, und nur Einer ist ausgeschlossen aus dem Strahlenkreis Ihres Herzens und darbt und friert im Winter seiner Jahre: Ihr Gatte!“

Adelheid zuckte zusammen.

„Gnädige Frau, Sie haben es in der Hand, mich zu strafen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 130. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_130.jpg&oldid=- (Version vom 6.1.2019)