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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

No. 9. 1870.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Aus eigener Kraft.
Von W. v. Hillern geb. Birch.
(Fortsetzung.)
9. Helione.

Herbst und Winter waren vorüber. Alfred hatte die traurige Eiszeit, während deren er immer im Zimmer bleiben und vom Fenster aus zuschauen mußte, wie Aenny mit den Anderen im Schnee spielte, ziemlich gut überstanden, und sein Vater, der des Knaben Wachsthum alljährlich auf einem an die Wand genagelten Brette bezeichnete, konnte diesmal den Strich zur großen Freude der Familie um einen Finger weiter hinaufrücken. Aber gegen Aennchen kam er freilich nicht auf. Alle Säume hatten dem Riesenmädchen heruntergelassen werden müssen. Sie hatte im März ihren zehnten Geburtstag gefeiert, und doch war sie so groß wie der vierzehnjährige Junge, und ihre Ausgelassenheit kannte keine Grenzen mehr. Nicht genug, daß sie täglich ein paar Stunden regelrecht turnte und ihren Turnlehrer durch ihre Kraft und Ausdauer in Staunen setzte. Da war kein Baum, auf den sie nicht kletterte, kein Graben, über den sie nicht sprang, kein ausgespanntes Wäscheseil, an das sie sich nicht hing und woran sie sich wie eine Glocke hin und her schwang. Alle Abschüssigkeiten, Unebenheiten, Vorsprünge, Ecken und Kanten dieser Welt, an denen sich andere Menschen ängstlich vorbeidrückten, schienen nur dazu da, daß Aenny die Kraft ihrer jungen Muskeln daran erprobe, ungefähr wie junge Hunde an Allem nagen, was hart ist, um dem Reiz der durchbrechenden Zähne zu genügen.

So wuchsen und gediehen die Kinder der Hösli’s. Auch die Fabrik war vollendet; sie glich mit ihren hohen Schornsteinen einer kleinen betriebsamen Stadt mit vielen Kirchthürmen und zwar einer reichen, denn nirgends traf das Auge innerhalb ihres Weichbildes auf Armuth und Elend. Herr Hösli war ein Fürst, der seine Unterthanen glücklich zu machen verstand. Gelingen und Glück zeigte sich rings um ihn her und erschien den Saltens wie eine Zauberei, weil sie die natürliche Ursache desselben nicht kannten, den Fleiß. Nur Einer von ihnen kannte und besaß ihn, es war Alfred. Er war sich im vergleichenden Hinblick auf Alles, was sich seiner jungen Seele in dem eigenen und dem Leben der Nachbarn bot, bewußt geworden, daß Arbeit der Hebel ist, der Alles in Bewegung setzt; er hatte erkannt, daß es heutzutage keine Bedeutung mehr giebt als die der Leistungsfähigkeit, und ein unbezwinglicher Lerneifer – die erste Erscheinungsform eines männlichen Strebens in dem zarten Knaben – bemächtigte sich seiner. Der Candidat hatte ihn nur immer zurückzuhalten, nicht anzufeuern, und selbst in seinen Freistunden gönnte er sich nur eine Erholung, wenn Aenny kam; blieb sie weg – was jetzt öfter geschah als früher, denn der sanfte „vernünftige“ Alfred genügte dem kleinen Kraftgenie nicht mehr –, dann benutzte er die Zeit, wo der Candidat ihn sich selbst überließ, um heimlich weiter zu lernen. Auch hierin wie sonst beim Spielen mußte Tante Lilly herhalten. Sie mußte ihn überhören oder ihm dictiren, wenn er etwas rasch abschreiben wollte, um es besser einzuprägen. So saßen sie an einem herrlichen Junimittage in der Freistunde zwischen Zwölf und Eins beieinander und Lilly überhörte ihn lateinische Vocabeln, ein Ueberhören, welches darin bestand, daß sie Alfred die deutschen Vocabeln und er die lateinische Uebersetzung sagte. Sie hatten zu solch ernsten Beschäftigungen einen Aufenthaltsort gewählt, wo sie stets allein waren, einen alten verwahrlosten Pavillon, am Ende des Gutes, den nie Jemand betrat, weil er hinter dem Hause lag und keinen Blick auf den See bot. Die arme Lilly kam nicht recht mit ihrer Obliegenheit zu Stande, denn es war dunkel in dem Pavillon, dessen von Ranken und Gestrüpp überwachsene Fenster keinen Sonnenstrahl hereinließen, und sie hatten die Thür des Pavillons zugeschlossen, angeblich um des ungestörten Lernens willen, in der That aber nur, weil es Beiden ein behagliches Gefühl war, vor den übrigen Tanten sicher zu sein.

„Alfred,“ sagte Lilly, als die Aufgabe pflichtschuldigst hergesagt war, „ich habe was Gutes, da sieh her!“ Sie zog eine große Schachtel mit Chocolade hervor. „Das darfst Du auch essen; komm, wir wollen’s uns schmecken lassen.“

Alfred drohte ihr lächelnd mit dem Finger: „Tante, Tante – Du vernaschest wieder Dein ganzes Taschengeld! Was würde Tante Bella sagen, wenn sie das wüßte? Da, hörst Du? Sie ruft schon, als ob sie’s gemerkt hätte, daß Du hier etwas Verbotenes treibst.“

Lilly fuhr erschrocken mit der Chocolade in die Tasche, Beide horchten. Es war in der That Bella, aber sie hatte diesmal nicht die zitternde Lilly, sondern Adelheid zu ihrem Opfer auserkoren.

„Adelheid,“ rief sie, „wo bist Du? Adelheid!“

Lilly und Alfred rührten sich nicht in ihrem Versteck und athmeten auf, als die Gefahr vorüber war und Bella’s Stimme in der Ferne verhallte.

Adelheid war eine Strecke über das Gut hinausgegangen, um zu sehen, wie weit der Candidat mit einer Zeichnung gediehen sei, die er auf ihren Wunsch zum nahen Geburtstage des Freiherrn anfertigte.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 129. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_129.jpg&oldid=- (Version vom 17.1.2018)