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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

No. 8. 1870.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Aus eigener Kraft.
Von W. v. Hillern geb. Birch.
(Fortsetzung.)


Wochen vergingen dem armen Alfred in Beschwerden aller Art und lähmten den Schwung seiner Seele auf’s Neue. Der unglückliche Knabe verfiel in eine an Stumpfheit grenzende Resignation. Die Krankheit, ein heftiges Scharlachfieber, hatte, nachdem sie gehoben, eine Augenentzündung zurückgelassen, so daß Alfred nun beständig mit verbundenen Augen gehen mußte. Der moralische Anlauf, den seine Mutter in der ersten Angst bei seiner Erkrankung genommen, wich während der endlos langsamen Reconvalescenz einer Erschlaffung, die bei solchen schwachen Naturen unausbleiblich ist, und in einer trüben Abspannung erlosch endlich die neuentfachte Mutterfreudigkeit. Wohl versuchte sie dieselbe durch eine verdoppelte, ja übertriebene Sorgfalt zu ersetzen, aber Alfred empfand es doch und erschreckte Adelheid eines Tages mit der einfachen Frage: „Nicht wahr, Mütterchen, Du hast’s satt, das immerwährende Krankenpflegen?“

Warum fiel so etwas dem Knaben nie bei seinem Vater, dem Candidaten oder Tante Lilly ein? Und seine Mutter that doch, was nur möglich war, wich nie von seinem Bette und seiner Seite, ja, sie erlaubte sogar, nachdem jede Ansteckungsgefahr vorüber, daß Aennchen ihn täglich besuchte, die trotz ihrer neun Jahre ein unbedingtes Uebergewicht über den phantastischen, allem wirklichen Leben fremden Knaben gewann, ihm alle möglichen Wunderdinge von der Welt da draußen erzählte und ihn dabei so lieb hatte, daß sie’s keinen Tag aushielt, ohne bei ihm zu sein. Und seit er auch noch die Binde um die Augen trug und sich gar nicht helfen konnte, hatte sie ihn doppelt gern, viel lieber als ihre Brüder, nun that er ihr auch noch so leid! Sie durfte ihn oft im Garten herumführen, das war eine Freude! Sie that es so behutsam, Schrittchen vor Schrittchen, und war gar nicht wild, sondern recht vorsichtig, daß er sich nicht stieß oder stolperte, und strengte sich so an mit Stillsein und Achtgeben, daß ihr ordentlich das kleine Herz dabei schlug.

Ein außerordentliches Ereigniß war es für ihn, als eines Tages Herr und Frau Hösli selbst kamen und den Eltern ihren Sohn Heiri brachten. Das Herz schlug ihm hörbar, als ihn Tante Lilly, die in Aennchens Abwesenheit seine treue Begleiterin war, in das Empfangszimmer holte und er sogleich Frau Hösli’s Stimme erkannte. Man nahm ihm die Binde ab und er sah nun in das helle klare Auge der Frau, die er mit dem ganzen Enthusiasmus einer warmen Kinderseele verehrte. Er konnte vor freudigem Schrecken kein Wort herausbringen. Sein Vater, der neben Frau Hösli saß, sah mit Staunen die Bewegung, die den Knaben ergriff, und faßte ihn in die Arme, als fürchte er, daß ihm in diesem Augenblicke das Herz seines Kindes abtrünnig werde. Doch Alfred schmiegte sich innig an den Vater, und als wolle er einen magnetischen Rapport zwischen den beiden geliebten Menschen herstellen, hielt er in der einen Hand die des Vaters, in der andern die der Frau Hösli, und es that ihm so wohl, daß die Beiden so gut und liebenswürdig mit einander waren, während seine Mutter zu seiner Verwunderung sich fast ausschließlich mit den Herren Hösli Vater und Sohn beschäftigte. Der Knabe konnte nicht ahnen, daß die strenge Aristokratin es, ohne sich Rechenschaft darüber zu geben, bei Männern weniger genau mit dem Standesunterschiede nahm als bei Frauen, namentlich wenn diese Männer so artig wie Herr Hösli Vater und so schön wie Herr Hösli Sohn waren! Und ein herrlicheres Bild blühender Jugend konnte es freilich nicht geben als den jungen Hösli. Wenn sich Apoll in einer muthwilligen Laune in die Kleidung eines eleganten Engländers gesteckt hätte, er würde ungefähr so ausgesehen haben wie Herr Heiri. Und dabei war der Jüngling so ruhig, selbstbewußt und doch von so angemessener bescheidener Haltung. Von dem Vater hatte er das scharfe Profil und die schwarzen Haare, von der Mutter die hellen meerestiefen Augen unter seinen dunkeln Wimpern und Brauen. Fürwahr, es war ein Anblick, der das Herz einer jungen gelangweilten Frau von Adelheid’s Temperament wohl erfreuen konnte. Aber nicht nur mit den Augen des Weibes, auch mit denen einer Mutter betrachtete Adelheid Herrn Heiri. „Wenn dir Gott einen solchen Sohn beschieden hätte,“ sprach es in ihr, „statt dieses armen Kranken, aus dem in seinem Leben nichts werden kann!“ Unwillkürlich stieg in Adelheid der Gedanke auf, daß sie um den Preis ihres Wappens gern mit Frau Hösli tauschen und gern ihren Adel für ein Glück, wie das dieser Frau, hingeben würde. Sie erschrak fast über einen solchen Gedanken; wenn Tante Wika oder Graf Egon eine Ahnung davon hätten!

Und in der That trat auch Wika soeben ein zum größten Schrecken Adelheid’s, die sich nun ganz anders benehmen mußte. Bella erschien nicht, denn sie verrichtete soeben ihre Zwölfuhrandacht. Wika aber hatte sich’s doch nicht versagen können, sich die „Geldsäcke“ wieder einmal anzusehen. Und sie begrüßte mit einem kurzen Kopfnicken die Gesellschaft, schaute mit ihren schlauen Aeuglein bald auf den jungen Hösli, bald auf Adelheid und flüsterte Lilly, die auch einmal etwas sagen wollte, ein zärtliches

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 113. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_113.jpg&oldid=- (Version vom 6.1.2019)