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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

Hinter der Klosterpforte.

Zu den grauenvollen Enthüllungen aus dem Klosterleben, die in den letzten Wochen und Monaten die Gemüther mit Recht so sehr in Aufregung versetzt und, wäre dies überhaupt noch nöthig gewesen, von Neuem unwiderleglich dargethan haben, wie zwingend es geboten ist, die endliche Beseitigung eines Instituts zu fordern, welches nicht nur mit dem Geiste der Zeit, sondern auch mit dem bürgerlichen Gesetze, mit Staat und Gesellschaft in directem Widerspruche steht und, jeder öffentlichen Controle entzogen, physisch und geistig den unheilvollsten Einfluß ausübt – zu diesen sehr wider den Willen der betheiligten Anstalten und Persönlichkeiten dem Publicum gewordenen Enthüllungen kommen jetzt die eigenen Bekenntnisse einer Nonne selbst. Sie lassen uns einen Blick hinter die Coulissen der Clausur thun, wie dies dem Laien nur selten vergönnt ist, indem sie uns in ein französisches Frauenkloster führen und ohne jedweden Anspruch auf literarische Kunst und schriftstellerische „Mache“, aber mit einer aus jeder Zeile sprechenden Wahrheit das innere Getriebe eines solchen Convents bloß legen und wiederum bezeugen, wie der Clerus, oder sagen wir lieber die Jesuiten, vor keinem Mittel zurückbeben, ihre Macht über die Geister der Menschen zu erweitern und die irdischen Besitzthümer derselben ihrem „unersättlichen Magen“ einzuverleiben. Im Augenblicke, wo die Jünger Loyola’s durch ihr gefügiges Werkzeug, den altersschwachen Papst, die Stirn haben, der gesammten modernen Bildung den Vernichtungskrieg zu erklären, gewinnen die Aufzeichnungen unserer Nonne, obschon harmloserer Art als jene obengedachten unfreiwilligen Enthüllungen, als warnendes Beispiel und Weckruf noch erhöhtes Interesse.

Schwester X. – ihren wahren Klosternamen verschweigt die Verfasserin in ihrem Buche – war die Tochter eines pensionirten französischen Officiers in St. Marceau, einer ansehnlichen Marktstadt der Provinz Orleans. Schon zeitig, noch nicht neunzehn Jahre alt, verlobte sie sich mit einem jungen elsässischen Lieutenant, welcher durch seine ungewöhnliche Tüchtigkeit auf eine glänzende Carrière Aussicht hatte. Der Bräutigam war Protestant, aber sowohl die Eltern des Mädchens, als der Beichtvater und Freund der Familie, ein würdiger Priester aus der toleranten alten Schule, sahen darin kein Hinderniß für die Verbindung der beiden jungen Leute. In einigen Monaten, sobald die Mutter für die nothwendigste Ausstattung gesorgt hatte, sollte die Hochzeit des Paares stattfinden. Da wurde der Lieutenant plötzlich nach Algier versetzt und zu gleicher Zeit starb der gute alte Pfarrer.

Diese beiden Umstände sollten verhängnißvoll werden. Der neue Pfarrer war sehr anders geartet als der heimgegangene; ein junger Mann, gehörte er nicht zu der freisinnigen, aufgeklärten Richtung seines Vorgängers, sondern zeigte sich als Jesuitenzögling – „zur größeren Ehre Gottes“ dem finstersten Zelotismus ergeben. Natürlich wurde Abbé Desherbiers – so hieß der glaubenseifrige Priester – der Beichtvater des jungen Mädchens, und es währte nicht lange, da hatte er dessen Seele völlig in seiner Gewalt. Er wußte in der Armen jedes Gefühl von kindlicher Liebe zu ersticken, machte ihr Herz ihrem Verlobten abwendig und redete ihr ein, ihre Eltern hätten das wahre Interesse der Tochter ihren eigenen Capricen aufgeopfert. Bald genug hatte er es dahin gebracht, daß sein Beichtkind, mit sich und der Welt zerfallen, an nichts mehr Theil nahm oder Freude empfand und in tiefen Trübsinn verfiel.

Einmal in solche Verfassung gebracht, hat ein schwärmerisches junges Gemüth nicht mehr weit bis zu dem Wunsche, in ein Kloster zu gehen. Der kurze Schritt war bald gethan. Das Mädchen hatte noch keinen Begriff, wie eigentlich ein Kloster beschaffen war, und der würdige Diener Gottes sorgte dafür, daß die nachmalige Schwester X. ein solches Frauenstift besuchen konnte, ohne daß die Eltern darum wußten.

Im Kloster wurde sie schon erwartet; die Nonnen spielten ihre Rollen mit vollendeter Meisterschaft. Nichts als Glückseligkeit begegnete ihrem Auge; ihr Ohr vernahm nichts als englische Segensworte; jedwedes Antlitz strahlte von Holdseligkeit und Befriedigung. In Folge dieses Besuchs und der immer kühner strömenden Beredsamkeit des Abbés wurde die Phantasie der Unglücklichen vollends verwirrt, und sie entschloß sich, alle Glieder zu zerbrechen, welche sie noch an die Welt ketteten. Trotzdem fürchtete sie die Heftigkeit ihres Vaters und ihrer Mutter kühlen, doch festen Widerstand. Zunächst hielten Beide ihren Vorsatz nicht für ernstlich gemeint, als sie aber darauf bestand und davon sprach, ihrem Bräutigam den Verlobungsring zurücksenden zu wollen, verbot ihr Vater dem Pfarrer ohne weiteres das Haus.

Dieser hatte indeß andere Mittel und Wege, die Verbindung mit dem junger Mädchen zu unterhalten. Durch eine Dame seiner Bekanntschaft, eine Art von Abenteurerin, die erst mit ihm zugleich in St. Marceau aufgetaucht war und deren Vergangenheit hier Niemand kannte, ward eine lebhafte Correspondenz zwischen dem Abbé und seinem Beichtkinde in’s Werk gerichtet. Der Pfarrer überzeugte die junge Dame, daß sie „unter einem entsetzlichen Drucke lebe“, „das Opfer der Tyrannei“ sei, rieth ihr jedoch, vor der Hand allen Streit mit ihren Eltern zu vermeiden und ruhig zu warten, bis der Tag ihrer Mündigkeit herankäme.

Am 11. September 185* erschien dieser Tag. Halb wahnsinnig vor Aufregung und durch die ihr vom Pfarrer gesandten perfiden Rathschläge, konnte Fräulein Soubeyran – das war der weltliche Name des jungen Mädchens – kaum erwarten, bis sich eine Gelegenheit darbot, das Joch abzuwerfen. Weil es unmöglich schien, die Erlaubniß ihrer Eltern zu dem beabsichtigten Schritte zu erlangen, drängte sie der Abbé, das väterliche Haus heimlich zu verlassen, und suchte ihr die schwere That durch die Vorstellung zu erleichtern, daß sie ja nachträglich die Verzeihung der Ihrigen erbitten könne. Er habe erfahren, schrieb er weiter, daß am zweiten November ihr Vater eine Geschäftsreise antreten werde und die Anordnung getroffen, daß eine seiner Vertrauten, eine Madame R., bei Einbruch der Nacht, eine halbe Stunde von der Stadt mit einem Wagen auf sie warten solle.

„Wie mir dieser fürchterliche Tag verstrich, bin ich zu erzählen außer Stande,“ berichtet Schwester X. in ihrem Buche. „Von den widersprechendsten Gedanken und Gefühlen bewegt, schrak ich vor einem Schritte zurück, welchen ich vielleicht nachher bitter zu bereuen haben würde, und wünschte beinahe, daß ein von meinem eigenen Willen unabhängiges Ereigniß eintreten möchte, um mich an der Ausführung meines Vorhabens zu hindern. Auf alles Andere kann ich mich nur noch dunkel und verworren besinnen. Ich weiß blos noch, daß ich ein paar Zeilen an meine Mutter zusammenkritzelte, daß ich durch die Gartenthür mich entfernte und den kleinen Fußpfad hinablief, welcher nach der Loire führt. Hier fand ich die Person schon meiner harrend, welche es unternahm, die Mitschuldige meines unkindlichen Schrittes zu werden. Ohne daß Eines von uns Beiden ein Wort sprach, folgte ich ihr nach dem Wagen. Sobald wir indeß darin saßen, umarmte mich Madame R. unter vielen Betheuerungen ihrer Liebe und Bewunderung; ich war eine neue heilige Elisabeth und was weiß ich jetzt noch für eine sonstige Heilige. Gott würde mich segnen, daß ich ihn jeder irdischen Neigung vorgezogen und vor Allem mich geweigert habe, einen Protestanten zu heirathen etc. etc. Sie floß über von hochklingenden Phrasen; ich hatte weder Lust noch Kraft, etwas zu erwidern. Die Natur forderte ihr Recht: ich brach in Thränen aus.“

Madame R. führte die Entlaufene nach dem Kloster, in welchem diese schon einen Besuch gemacht hatte. Die Mutter Oberin, Madame Blandine, und zwei andere Nonnen empfingen sie. Sie umarmten sie warm und geleiteten sie zuerst nach der Capelle und hierauf nach der für sie in Bereitschaft gesetzten Wohnung. Abbé Desherbiers, der das heftige Temperament ihres Vaters kannte, hatte ihr ausdrücklich verboten, irgend etwas mitzunehmen, um der Eventualität zu entgehen, der Entwendung fremden Eigenthums beschuldigt zu werden. So hatte sie denn nichts bei sich, als was sie auf dem Leibe trug. Alles dies war vorgesehen worden. Auf dem Bette lagen alle die verschiedenen kleineren und größerer Dinge, deren sie bedurfte.

Sobald am anderen Morgen die Frühmesse vorüber war, bis zu deren Beendigung, außer in Fällen absoluter Nothwendigkeit, von den Klosterinsassen kein Wort gesprochen werden darf, umringten sie sämmtliche Nonnen und überhäuften sie mit Liebkosungen und übertriebenen Lobsprüchen. Eine derselben, eine stattliche und höchst liebenswürdige junge Arlesianerin, mit dem Klosternamen Claudia, nahm sie völlig unter ihre Obhut. Sie hatte den Befehl erhalten, ihr die Pensionsanstalt, die Gärten und die Schule für arme

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 72. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_072.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)