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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

Da kam aber Tante Bella mit dem Thee herein und jetzt umkreiste er wieder das müde Köpfchen seines Opfers, daß es war, als höre man seinen eulenartigen schweren Flügelschlag.

Der Candidat ging Bella entgegen und nahm mit einer an ihm ganz ungewohnten Dienstbeflissenheit die Tasse in Empfang. Ja, es war sogar, als spiele ein Lächeln um seine Lippen, als er sie zum Munde führte, um zu prüfen, „ob der Thee auch nicht zu heiß sei?“

Tante Bella war zu blind um zu sehen, daß er das widerliche, für Alfred so schädliche Gebräu mit einem Zuge austrank und dem Knaben nur noch wenige Tropfen überbrachte. Alfred selbst hatte es nicht gewahrt. Sein Lehrer wollte das Kind nicht zum Mitschuldigen des kleinen wohlgemeinten Betruges machen, durch den er es schon oft vor den schädlichen Einflüssen der Hausapotheke seiner Tanten bewahrt hatte. So schonte er zugleich den Magen und das Wahrheitsgefühl seines Zöglings.

„Aber Tante,“ sagte Alfred, „warum bekomme ich nur immer das Bischen Thee in der großen Bouillonschale?“

Der Candidat erschrak. Aber Tante Bella war entzückt, daß die Masse Thee dem lieben Kinde noch zu wenig dünkte. „Sehen Sie, Herr von Feldheim,“ rief sie, „der Knabe weiß, was ihm gut thut!“




3. Der Kastengeist.

Als Tante Bella eine Stunde später dem Vater seinen neugeretteten Sohn zuführte, fand sie den alten Herrn in tiefer Verstimmung und durchaus nicht zugänglich für die Geschichte ihres ausgezeichneten Heilverfahrens.

„Da lies diesen Brief und dann suche Adelheid zu finden; Gott weiß, wo sie wieder ist, wir wollen uns berathen, was etwa zu thun wäre.“

Er zog Alfred zu sich hin, während Tante Bella den Brief las, und streichelte mit seiner knochigen Hand des Kleinen Backe. Er war ein alter Herr, dem man noch jetzt die Spuren einstiger Schönheit ansah. Der weiße spärliche Backenbart deckte jedoch kaum die tiefen Höhlen, die sich rechts und links des Mundes gebildet hatten. Unter den dünnen weißen Augenbrauen blickten verblichene lebensmüde Augen hervor und die eingesunkenen Schläfe waren kaum von wenigen silbernen Locken bedeckt. – Es war ein Anblick, wie wenn in einer Winterlandschaft der Schnee die todte kahle Erde nicht ganz überzieht und einzelne Stellen offen läßt, deren trostlose Abgestorbenheit erst recht den Winter zeigt. Es giebt weiße Haare auf jugendfrischen Köpfen, die den Eindruck machen, als sei verfrühter Schnee auf eine noch herbstlich grüne Flur gefallen. Solch’ kräftigem Manneshaupte, meint man, müßten über kurz oder lang wieder dunkle Haare entsprießen, die Farbe sei nur auf einen Augenblick ausgeblieben. Aber dies gebeugte bleiche Haupt war das Bild versiechter Kraft, erloschenen Lebensfeuers; man konnte nichts Traurigeres sehen, als diesen Vater und diesen Sohn, von denen der Eine aussah, als sollte er eben in das Grab steigen, der Andere, als sei er demselben kaum entstiegen. Ein erlöschendes Licht und eines, das sich nicht recht entzünden kann, nebeneinander, geben eine trübselige Beleuchtung.

Tante Bella hatte sich mittlerweile auf einen der wurmstichigen eichenen Stühle gesetzt, welche vor mehr denn hundert Jahren in der Schloßcapelle der Salten gestanden und von dem Freihern, der sich die Zeit gern mit Holzsägerei vertrieb und dabei niemals, wo er nur konnte, sein Wappen anzubringen vergaß, ganz im Geiste ihrer Zeit gestickt worden waren. Sie versuchte den Brief, welcher ihren Bruder so verstimmt hatte, zu entziffern, aber es ging nicht, und sie mußte bitten, ihr denselben vorzulesen. Er lautete kurz und bündig:

 „Hochgeehrter Herr!“

„Nicht einmal ‚Ew. Hochwohlgeboren‘ schreiben diese Leute,“ bemerkte Bella.

„Ihre geehrte Frau Gemahlin hat diesen Morgen meine kleine Tochter in einer wenig freundlichen Weise nach Hause geschickt, und wir besorgen daher ernstlich, daß das wilde Kind sich irgend welche Ungehörigkeit habe zu Schulden kommen lassen. Meine Frau sowohl als ich bitten Sie dringend, uns dieselbe nicht zu verschweigen, damit wir in Stand gesetzt werden, sie zu rügen oder zu bestrafen, wie es sich gehört.

Mit aller Hochachtung zeichnet
 Hans Hösli-Pallender, Cantonsrath.“

Das war zu viel für die christliche Demuth der Tante Bella. Sie faltete die Hände: „Guter Gott, was muß man sich gefallen lassen in diesem republikanischen Lande! Das kommt davon, wenn man seine von Gott überlieferte Scholle verläßt und sich in ein neues Erdreich verpflanzt. Es ist schrecklich! Ich sah es gleich, diese Leute haben gar keine Ahnung, wer und was wir sind!“

Die Thür ging auf und Wika erschien auf der Schwelle: „Die Suppe ist angerichtet.“

„O liebe Schwester, wer kann jetzt essen!“ klagte Bella. „Lies diesen Brief und überzeuge Dich, wie Recht ich hatte, als ich Euch alle Arten von Unannehmlichkeiten im Verkehr mit Leuten, die so tief unter uns stehen, weissagte!“

Wika las, und ihre dicken Backen blähten sich auf vor Zorn, daß ihr kleines Näschen völlig dahinter verschwand. „Diese Seidenspinner, diese Seidenwürmer! Die haben’s nöthig, so unverschämt zu sein. Wenn man sich einmal erlaubt, ihren ungezogenen Balg, der trotz seiner zwei Gouvernanten keine Lebensart lernt, nach Hause zu schicken, da machen sie gleich ein Geschrei, als habe man eine Majestätsbeleidigung begangen!“

„Adelheid muß aber doch sehr scharf gegen die Kleine gewesen sein“ meinte der alte Herr kopfschüttelnd.

„Gegen wen soll ich scharf gewesen sein?“ fragte die Genannte eintretend.

„Gegen die kleine Hösli, der Vater beschwert sich deshalb.“

Frau Adelheid schüttelte ihr üppiges rothes Haar zurück, daß sich das blaue Band verschob, das hindurch gewunden war, und der Greis bewundernd auf sie niedersah wie auf eine schöne Jugenderinnerung. Sie zerknitterte das Billet, nachdem sie es gelesen, und lächelte. „Wie könnt Ihr Euch so aufregen um eine solche Bagatelle. Wer sind – was sind diese Leute, daß sie uns beleidigen können?“

„Beleidigen kann uns Jeder, der uns an Zurechnungsfähigkeit gleich steht,“ sprach der alte Herr verweisend. „Ich finde überdies nicht, daß sie uns beleidigen wollen, sondern daß sie von uns beleidigt sind. Was hast Du mit der Kleinen gehabt, Adelheid?“

„Nicht das Geringste. Ich habe ihr verwehrt, mit in das Haus zu kommen, weil ich Alfred ausruhen lassen wollte.“

„So wirst Du wohl so freundlich sein und nach Tisch hinübergehen, um Dich zu entschuldigen,“ sagte der Freiherr.

Nun erhob sich ein Sturm von Unwillen unter den Tanten, daß man dem Seidenraupengezücht auch noch nachlaufen solle. Aber der alte Mann erwiderte ruhig und bestimmt: „Ich werde nie dulden, daß Jemand, der meinen Namen trägt, sich irgend welcher Unhöflichkeit zeihen lasse. Sind wir vornehmer als Andere, so sollen wir auch Niemandem an Noblesse der Gesinnung nachstehen, und es ist ignoble, sich seines Ranges Anderen gegenüber zu überheben.“

„Ich wäre jedenfalls dafür, daß man bei dieser Gelegenheit den Umgang mit diesen Leuten gänzlich abbräche,“ lispelte Tante Bella mit ihrer frommen Stimme. „Was hat Alfred von solchem Verkehre? Er kann dabei nur verbauern; denn wie groß auch der Luxus ist, mit dem sie sich überfirnissen – die innere Rohheit bricht doch immer heraus.“

Alfred hatte bis jetzt bescheiden und still wie immer an dem Tische mit dem Schnitzgeräthe gestanden, Niemand hatte ihn beachtet. Jetzt plötzlich trat er vor Bella hin. Seine Brust arbeitete heftig, er zitterte am ganzen Leibe. „Tante, ich bitte Dich – Aennchen ist nicht plump und roh und ihre Eltern sind es auch nicht. – Ich – ich dulde das nicht! Wenn Du so von Hösli’s sprichst, kommst Du mir so böse vor, daß ich meine, ich könnte Dich nicht mehr leiden!“

„Alfred!“ sagte der Freiherr verwarnend. Dieser eine strenge Blick des Vaters brachte den Knaben zur Besinnung.

Er warf sich ihm an die Brust: „Vater, verzeih’ mir! Ach, ich kann es nicht begreifen und werde es nie begreifen, daß ein guter Mensch weniger werth sein soll als der andere, daß wir nicht Alle, die gleich liebenswerth sind, mit der gleichen Liebe umfassen sollen! Sieh, Vater, das dünkt mich so hart, daß ich es nicht ertragen kann. – Ich möchte alle Menschen, gegen die Ihr so hart seid, für Euch um Verzeihung bitten; mir ist, als müsse ich die Liebe an ihnen hereinbringen, die Ihr ihnen verweigert.“

Er barg das Haupt an seines Vaters Brust und schluchzte leise. Der alte Herr legte stolz die Hand auf seinen Kopf, – ein schöner Strahl der Freude brach aus seinen müden Augen:

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 51. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_051.jpg&oldid=- (Version vom 6.1.2019)