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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

No. 4. 1870.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Aus eigener Kraft.
Von W. v. Hillern geb. Birch.
(Fortsetzung.)


Es waltete ein böser Geist über diesem jungen Haupte und über dem Hause, das seine Heimath war – der böse, Jahrhunderte alte Geist des Familienstolzes, der Erzeuger der Erstgeburtsrechte, der Majorate, der Mannslehen und wie sie alle heißen, die grausamen Einrichtungen, welche Kinder desselben Blutes, Kinder, die unter demselben Herzen geruht, ausschließen von den Rechten an dem Besitz der Väter, damit dieser, nur von zwei auf zwei Augen vererbt, ungeschmälert den Glanz der Familie erhalte. Man könnte ihn den Zweiaugengeist nennen, diesen finstern Dämon, der immer mächtiger wird, je weniger Augen desselben Namens und Stammes ihn bannen, und am mächtigsten, wo ein Geschlecht bis auf zwei Augen eingeschrumpft ist. Da entfaltet er seine ganze Macht, da würfelt er blindlings alternde Männer und junge Frauen zusammen, damit noch in der elften Stunde eine Nachkommenschaft erzielt werde. Da vergiftet er die erste keimende Hoffnung im Mutterschoße mit der Befürchtung, daß es kein Stammhalter sei. Da sitzt er als erstickendes Angstgespenst am Bette des ersehnten Sprossen und ein greiser Vater beweint in dem sterbenden Sohne den Untergang eines erlauchten Geschlechtes, der für ihn gleichbedeutend ist mit dem Untergang eines Weltgestirns – und eine Schaar dürftig apanagirter Schwestern, Tanten, Cousinen sieht mit seinem Ende dem langsamen standesgemäßen Verhungern unter der Hofschleppe entgegen! Wer beschreibt alle die Gestalten in denen dieser boshafte Kobold seine Opfer ängstigt, peinigt, um alles Menschenglück betrügt? Und das Haus, das stille friedliche, das der liebliche Zürichersee umspülte, das früh und Abends angehaucht war vom Widerschein sonnengeküßter Firnen – es barg solch eine Familie, die dem Zweiaugengeist verfallen war.

Name und Güter der stolzen norddeutschen Freiherren von Salten-Hermersdorf standen nur noch auf den zwei thränenden, lichtscheuen Augen des kleinen Alfred! Aus jedem ätzenden Tropfen, der über die bleiche Wange des Kindes rann, aus jedem ungleichen Athemzug seiner schmalen Brust, jedem Hüsteln, jedem fiebernden Pulsschlag hatte der Zweiaugengeist ein Marterwerkzeug für die Umgebung des Knaben geschaffen, wie es grausamer kein Teufel ersinnen kann und alle die Hände von Mutter, Vater und Tanten, sie hatten auf der Welt nichts mehr zu thun, als sich schützend um das flackernde Lebenslicht in der gebrechlichen Hülle zu breiten. Die Erhaltung von Alfred’s stets bedrohtem Leben war die fixe Idee der ganzen Familie, die Achse geworden, um die sich deren Thun und Denken drehte. Um seiner Gesundheit willen hatte man die Heimath verlassen und den rauhen Norden mit der milden Seeluft Zürichs vertauscht. Um seinetwillen hatte man das theure Landhaus gemiethet, um seinetwillen jede gesellige Beziehung zur Heimath abgebrochen, damit man nur ihm allein leben konnte!

Seinen Tanten war der Erbe der Salten’schen Güter, was dem Kaufmann das schwanke Schiff ist, das seinen ganzen Wohlstand trägt, denn wenn Alfred starb, so fiel das Majorat nach dem Tode des Freiherrn an eine Seitenlinie von der die vermögenslosen Tanten keine Unterstützung zu hoffen hatten. Seine Mutter endlich suchte in ihm den Ersatz für jedes an der Seite des aufgezwungenen Gatten geopferte Jugendglück. Und ach, das Schiff schien leck zu sein, und der Ersatz für die Entsagungen seiner Mutter mußte mit immer neuen Opfern an Lebenskraft und Muth, an Nachtruhe und Tageszerstreuung erkauft werden.

Und das Kind, was mußte aus diesem werden bei solch einer Erziehung? Daran dachte, das wußte nur Einer! Nur Einer fühlte, daß noch etwas Höheres in dem Knaben zu hüten sei als das Leben, daß da ein Schatz an Geist und Seelenadel verborgen liege, den nicht die eigene Mutter zu würdigen verstünde und den zu heben ihm eine göttlich schöne Aufgabe dünkte – dieser Eine war der Candidat. Aber weil doch er allein es war, der das, was in Alfred lag, verstand, so wollte er auch, daß es ihm allein gehöre, er wollte es entwickeln, wollte der Welt ein Geschenk damit machen nach seinem Sinne, und er mußte dabei vorsichtig und heimlich zu Werke gehen, wie der Schatzgräber auf fremdem Boden, der weiß, daß ihm sein Fund entrissen würde, sobald er ihn gehoben. Er war sich ja bewußt, daß er den Schatz besser und segensreicher verwenden würde, als die, welche ihm denselben streitig machen könnten. Das war es auch, was die kluge Tante Wika instinctmäßig gegen den verschlossenen Mann mit den zusammengewachsenen Augenbrauen einnahm. „Der Mensch ist ein Demagog,“ pflegte sie zu ihrem Bruder warnend zu sagen – und sie hatte nicht so unrecht! Er war der Einzige von Allen, der nicht unter dem Banne des Zweiaugengeistes stand, obgleich auch er völlig zu einem Opfer desselben erkoren gewesen wäre, denn er war gleichfalls ein „Letzter seines Stammes“ – eine hochadelige Familie erlosch mit ihm, wenn er kinderlos starb. Sein Vater, ein Herr von Feldheim, war im Kriege gefallen, ehe der Candidat das Licht der Welt erblickt, seine Mutter, eine mittellose Wittwe, erzog ihn zum Prediger. Die Macht des Zweiaugengeistes hatte er mit Ablegung eines einzigen Wörtchens abgeschüttelt, des

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 49. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_049.jpg&oldid=- (Version vom 30.12.2018)