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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

weil dies die durch Mauern und Nebengebäude geschützteste Seite des Hauses war, aber die fehlende Sonnenwärme wurde an jedem leidlich kühlen Tage durch Ofenhitze ersetzt, denn Fredy’s Mutter behauptete, er müsse eine stets gleichmäßige Temperatur von mindestens sechszehn bis achtzehn Grad Réaumur haben. Da es seither geregnet hatte, war natürlich gefeuert worden und auch heute hatte man noch nicht den Muth gehabt, damit aufzuhören. Der Morgen war doch noch nebelig gewesen.

„Alfred, süßes Kind, Du siehst blaß aus. Sage, fühlst Du Dich schon erkältet, ist Dir unwohl?“ fragte die Mutter mit banger Zärtlichkeit, während sie ihm die frischen Strümpfe am Kamine wärmte.

„Liebe Mutter, mir ist ganz wohl,“ versicherte er, dachte aber doch bei sich mit heimlicher Besorgniß darüber nach, was sein „Leichtsinn“ für Folgen haben könne. Versunken war der See, der unendliche, silberschimmernde, verschwunden das millionenfach wiedergestrahlte Sonnenlicht, das wilde liebliche Aennchen und alle Schmetterlinge und Libellen, die sich badeten in dem feuchten Aether, versunken Alles mit einem Schlage in den Abgrund seiner feuchten Strümpfe. Der Knabe saß in sich zusammengekauert am Kamin und starrte bleich und entgeistert in die matt glimmenden winterlichen Kohlen. „Armes Kind!“ hauchten die geschlossenen Lippen des Candidaten unwillkürlich vor sich hin.




2. Der Zweiaugengeist.

„Was ist Alfred? Fehlt Alfred etwas? Ist Alfred etwas geschehen?“

Diese ängstlichen Fragen ertönten hintereinander und drei ängstliche alte runzlige Gesichter erschienen hintereinander in der Thür. Das waren die drei Tanten, die unverheiratheten Schwestern von Alfred’s Vater. Alfred’s Mutter, die vor dem Knaben am Boden kniete, um die Maschine an seinem Beine zu lösen, blickte besorgt zu ihnen auf, eine Seite ihres zarten schönen Gesichts war vom Scheine des Kaminfeuers geröthet, sie sah aus wie die verkörperte Muttersorge, die zu den Parzen fleht, den Lebensfaden ihres Kindes nicht abzuschneiden.

„Er hat sich nasse Füße geholt. Glaubt Ihr, daß es ihm schaden wird?“ fragte sie.

Die drei Parzen schüttelten die Köpfe.

„Man muß ihm gleich einen warmen Thee geben,“ lautete der Chor.

„Was für einen?“

„Lindenblüthe! Flieder! Kirschenstielthee!“

Es entstand eine lange Berathung unter den Schwestern, fast ein Streit. Alfred erwartete still ergeben sein Schicksal. Der Candidat schaute regungslos auf die lächerliche Gesellschaft nieder.

Bella, die älteste der Schwestern, war eine sechs Schuh lange hagere Greisin von siebenundsechszig Jahren. Alles an ihr war schief, der Kopf, der graue dünne Scheitel, eine Schulter und eine Hüfte, sogar die Augen, denn sie schielte. Die Ellenbogen gingen ihr bis über die Hüften herab. Sie hatte eine seitwärts gebeugte Haltung, als wolle sie sich immer entschuldigen, daß sie so groß sei. Ihre Hände waren auch krumm von der Gicht, sie konnte nur noch stricken. Sie versorgte die ganze Familie und unendlich viele Freunde mit wollenen Leibchen, Röckchen und Binden, ohne sie wäre längst Alles, was sie liebte, an zu leichter Kleidung zu Grunde gegangen. Sie hatte zu ihren Gichtknoten auch noch Schwielen von den Stricknadeln an den Fingern, aber sie hörte doch nicht auf zu stricken. Nur wenn ihr die Hände gar zu wehe taten, machte sie Filet, und am Sonntag las sie in Zschokke’s Stunden der Andacht. Sie konnte nur alte Bücher lesen, die sie fast auswendig wußte, neue vermochten ihre schlechten Augen nicht mehr zu entziffern.

Wika, die zweite Schwester, war nur fünfundsechszig Jahre alt. Sie konnte noch besser sehen als Bella und war eine kleine untersetzte Figur mit braunen falschen Zöpfchen, die schneckenförmig an dem schwarzgefärbten Scheitel befestigt waren und sich nicht die geringste Mühe gaben, für echte gehalten zu werden. Sie war zweifellos die dominirende unter dem Kleeblatt. Ihre breite behäbige Figur, ihr energisches Auftreten und eine kleine heimliche Tabaksdose gaben ihr etwas frauenhaft Ueberlegenes. Auch war sie die einzige von den Dreien, welche eine oder gar zwei wirklich gute Partien ausgeschlagen, weil ihr der Freier nicht gefallen hatte. Seit der unerhörten That staunten die Schwestern sie an wie ein höheres Wesen. Sie war auch erhaben über eine mechanische Gewohnheitsbeschäftigung. Sie trieb Politik, las Zeitungen, kochte sehr gut, spielte vortrefflich Whist und wurde grob, wenn sie verlor. Sie hatte Humor und brachte alle Leute zum Lachen, aber sie lachte nicht selbst mit, denn sie litt am Asthma und mußte ihren Athem sparen.

Jetzt blinzelte sie mit ihren klugen kleinen Aeugelchen über ihre dicken Backen zu dem Candidaten hinüber, während sie spöttisch Kirschenstielthee anrieth. Sie wußte, daß er sich ärgerte, und das machte ihr Spaß, denn sie waren sich beide durchaus nicht grün. Sie behauptete immer, er habe es dick hinter den Ohren und sie sei die einzige im ganzen Haus, die den Menschen durchschaue.

Lilly, die jüngste Schwester, das „Nestheckchen“, war erst neunundfünfzig Jahre alt. Sie war der leichtsinnige Springinsfeld unter den Schwestern, den man keine Minute aus den Augen lassen konnte, sonst machte er dummes Zeug, erkältete sich, verlief sich oder verdarb sich den Magen. Sie war gutmüthiger als Wika und natürlicher als Bella, aber seltsamerweise, obgleich die jüngste von den Dreien, war sie doch die erste, die Spuren von Altersschwäche zeigte und im Alter wie in der Jugend rettungslos von den beiden anderen bevormundet wurde. Sie hatte fast immer eine Schmarre im Gesicht, weil sie sehr schusselig war und alle Augenblicke die Treppe hinunter fiel, was ihr viel Schelte zuzog. Aber es war doch ein herzensgutes, liebes Gesichtchen, das immer unter einer unbeschreiblichen verkehrten Haube hervorguckte, ein altes runzeliges Kindergesicht. Tante Lilly war die einzige, die unermüdlich mit Alfred Domino oder Schach spielte und sich freute, wenn der Junge sie matt machte. Tante Lilly konnte auch noch das „Steh nur auf, Du lust’ger Schweizerbub“ auf dem Clavier spielen und wenn sie gleich manchmal daneben griff, Alfred fand doch nichts, nicht einmal die Chopin’schen Phantasien seiner Mutter, so schön und so rührend wie Tante Lilly’s „lustigen Schweizerbub’“!

Dies waren die Schwägerinnen von Alfred’s jugendlicher mädchenhafter Mutter, die letzten Freiinnen von Salten-Hermersdorf, die jüngeren Schwestern von Alfred’s Vater – denn dieser war ein Greis von siebenzig Jahren.

Aus solcher Umgebung sollte die kümmerliche Blüthe des zarten Knaben ihre Nahrung ziehen. Dies schattenhaft verhängte dunstige Krankenzimmer mit den launischen, allem Leben absterbenden Pflegerinnen war der Hintergrund, auf dem die Kindheit des letzten Stammhalters eines ritterlichen Geschlechts trübselig hindämmerte.

(Fortsetzung folgt.)




Kaisergräber in Wien.

Von dem Platze der alten Kaiserstadt, auf dem die herrliche Pyramide des Stephansdomes in die Lüfte steigt, während die Sonne in dem bunten Mosaik des Riesendaches darunter spielt, strahlen, wie von einem bedeutungsvollen Mittelpunkte, enge Gassen nach allen Richtungen aus. Eine derselben führt uns in wenigen Augenblicken nach einem kleineren Platze, der von einem der gefeiertsten Kunstwerke Wiens, dem trefflichen Donner’schen Brunnen, geschmückt wird. Auf den Rändern eines weiten Bassins gruppiren sich da vier gewaltige Gestalten in den großartigsten Stellungen, während die fünfte majestätisch über sie und das Ganze emporragt –: die Personificirung der Donau und ihrer Nebenflüsse im Gebiete des Erzherzogthums Oesterreich. Aber höheres Interesse hat das unscheinbare Gebäude an der Ecke dem Brunnen gegenüber. Die spitze Giebelwand, die es dem Platze zukehrt, überragt kaum die umliegenden Häuser; aber daß seine Bestimmung keine profane ist, erkennt man, wäre es nur an dem kreuzhaltenden Mönch, der oben in einer Nische steht. Er trägt das Gewand des Capuzinerordens, dem das anstoßende Kloster und die Kirche gehören.

Schon zwei Mal war ich umsonst an der Pforte gewesen.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 36. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_036.jpg&oldid=- (Version vom 6.1.2019)