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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

„Unglückliche; Sie kennen den Mann nicht, den Sie lieben!“ rief der Doctor im furchtbarsten Seelenschmerz.

„Doch, Reinhard!“ sagte sie einfach und legte die Hand auf’s Herz.

„Denken Sie an Ihren Vater,“ beschwor er sie, „und fragen Sie sich, ob er Ihre Wahl segnen würde! Ich, als der jüngere, aber vertraute Freund Ihres Vaters, glaube zu wissen, daß er Ihrem Vetter die Hand seiner Tochter nimmer gewährt haben würde!“

„O, er!“ sagte Eva, und ein verklärter Ausdruck durchleuchtete ihre Züge, „wenn ich nicht gewußt hätte, daß er Adalbert als seinen eigenen Sohn betrachtete, so würde mir die tiefe Trauer, mit der dieser von dem Gestorbenen spricht, gesagt haben, daß auch er seinen Vater in ihm verloren hat.“

„Vielleicht war das Verhältniß früher so – aber später, Eva, bei Adalbert’s letztem Hiersein waren Sie abwesend, und Sie haben mir selbst gesagt, daß Ihnen keine günstige Meinung von ihm beigebracht ist; müssen Sie sich nicht fragen, ob nicht auch Ihr Vater ihm damals abgeneigt wurde?“

Sie lächelte fast im Gefühl ihrer Sicherheit, als sie erwiderte: „Mein Vater hatte ihm eine Zuneigung bewahrt, von der er selbst sagte, daß sie bis zur Schwäche ginge. O, ich habe den Brief noch und habe ihn in dieser Zeit oft wieder gelesen;“ fuhr sie erröthend fort, „in welchem er mir von dem Vetter erzählt, seine Geradheit und sein edles, warmes Herz preist, das sich bei allen tollen Streichen nicht verleugne und ihm Bürgschaft sei, daß das Leben noch einen ganzen Mann aus ihm machen werde. O, der Vater hat ihn besser gekannt als alle Anderen, die ihn nachher verlästerten und denen ich anfangs mehr glaubte als der Meinung des Todten!“

„Wie wissen Sie aber, daß er selbst seine Meinung nicht nachher noch geändert hat?“ fragte Reinhard erregt.

„Der Brief war am Tage vor seiner Erkrankung geschrieben,“ sagte Eva, als wenn sie damit jeden weiteren Einwurf abschneiden müsse.

„Aber es lagen Stunden, es lag ein ganzer Tag dazwischen,“ sagte er finster; „ein Augenblick zeigt oft das Wesen und den Charakter eines Menschen in seinem wahren Lichte, den wir jahrelang verkannt haben!“

Eine dunkle Röthe übergoß in diesem Augenblicke Eva’s Gesicht, und sie blickte den Doctor fest und zürnend an. „Reinhard,“ sagte sie, „Sie wissen nicht, wie wehe Sie mir thun, denn Sie zeigen sich von einer Seite, die ich bisher nicht an Ihnen kannte. Ich habe Sie für edler und großmüthiger gehalten!“

Er hatte sich in heftigster Bewegung abgewandt und kämpfte augenscheinlich mit sich; dann trat er zu ihr, ergriff ihre beiden Hände und sagte traurig: „Eva, auf Ihren Besitz muß ich verzichten, ich fühle es; aber gönnen Sie mir den Trost, daß Sie sich keinem Unwürdigen zuwenden. Ich kann, ich darf nicht mehr sagen – aber ich beschwöre Sie, nur das eine Mal noch: schenken Sie mir Vertrauen!“

„Reinhard,“ sagte sie fast stolz, „ich verzeihe Ihnen, was Sie in diesem Augenblicke sprechen, um des Leides willen, was auch ich Ihnen zufügen muß; und auch deshalb,“ fuhr sie mit einer wunderbaren Freudigkeit fort, „weil ich durch Sie erst inne geworden bin, wie tief und heiß ich Adalbert liebe. Was mir selbst vor einer Stunde noch dunkel und unklar war, ist nun in ein helles, goldenes Licht getreten, und darum sage ich Ihnen: wäre Adalbert auch mit einer schweren Schuld beladen, wäre er von der ganzen Welt angefeindet und verleumdet – dennoch würde ich mich an seine Seite stellen, würde mein Herz mir sagen: das ist der Mann, dem Du eigen bist und sein mußt, er und kein anderer!“

„Eva,“ rief er außer sich, „der Augenblick bethört Sie, reißt Sie hin – es kann nicht so sein!“

„Es ist so und bleibt so,“ entgegnete sie fest, indem sie die Hand auf’s Herz legte, „so wahr mir Gott helfe!“

„Nun, dann scheiden sich unsere Wege!“ sagte er düster. „Ich habe Ihnen nichts mehr zu sagen, Eva!“

„Ich Ihnen aber noch ein Wort,“ sagte sie und die frühere Weichheit, welche einem gänzlich veränderten Wesen Platz gemacht hatte, das sie plötzlich um Jahre hinaus älter und reifer hatte erscheinen lassen, kehrte zurück. „Bleiben Sie mir, was Sie waren, Reinhard – mein Freund!“

Sie hatte ihm bittend die Hand hingereicht, er aber wandte sich ab und sagte, während sich ein Zug eigenthümlicher Härte über sein Gesicht legte: „Ich bin keines halben Gefühls fähig, Eva, vermag auch nicht, es von Anderen anzunehmen, darum ist es besser, wir lösen jetzt jedes bestehende Band und gewöhnen uns, als Fremde an einander zu denken.“

„Sie zürnen mir!“ sagte sie traurig.

Er schwieg einige Augenblicke und sagte dann: „Ich zürne vielmehr mir selbst, Eva, daß ich glauben konnte, ein Wesen wie Sie, jung, schön, mit vollem Anspruch an das Leben, könne sich in ruhiger Neigung glücklich fühlen. Nun, ich habe den Irrthum gebüßt und will zu vergessen suchen!“

Sie griff weinend nach seiner Hand, die er ihr nicht entzog; doch erwiderte er den Druck der ihrigen nicht und sie fühlte nur, daß dieselbe eiskalt zwischen ihren glühenden Fingern lag. In der nächsten Minute sah Eva sich allein und nun machte sich ihr Gefühl durch heiße Thränen Luft, die in diesem Augenblicke mehr dem Schmerz um den verlorenen Freund als der Seligkeit des vor ihr auftauchenden Glückes galten. Erst Adalbert’s Eintritt, der den Doctor hatte fortgehen sehen, rief dieselbe auf’s Neue in ihrem Herzen wach, und als er in fast athemloser Spannung fragte: „Nun, Eva, ist mein Loos entschieden?“ da warf sie sich in seine Arme und rief:

„Ja, Adalbert, ich habe Allem, Allem entsagt, um nur Dir anzugehören!“

Aus seinen Augen drangen Thränen, als er sie fest an seine Brust drückte und mit vor tiefer Rührung zitternder Stimme erwiderte: „Möge Gott mich nicht selig werden lassen, wenn ich Dich nicht auf meinen Händen durch’s Leben trage!“


Das junge Paar war nach seiner rasch auf die Verlobung folgenden Hochzeit von dem früheren Wohnort nach einer größeren Hafenstadt gezogen, wohin Adalbert durch seinen Dienst berufen war. Eva hatte gern die alte Heimath verlassen, weil sie damit peinigenden Erinnerungen, die immer noch wie Vorwürfe auf ihrem Gewissen lasteten, zu entgehen hoffte, und mehr noch hatte Adalbert geeilt, aus dem „verwünschten Nest“ – wie er es nannte – und all’ seiner „philisterhaften Misère“ fortzukommen. Seine Mutter hatte sich von ihrem Sohne, durch dessen Verheirathung mit Eva sie den höchsten Wunsch ihres Lebens erfüllt sah, nicht zu trennen vermocht und war ihm nach dem neuen Wohnorte gefolgt, hatte sich dort aber nur kurze Zeit in dem jungen Hausstande wohl fühlen können, denn ein rascher Tod raffte sie nach kurzer Krankheit unerwartet hinweg. Sie schied in dem festen Glauben an das ungetrübte Glück ihrer Kinder; denn auch von dem, was früher zwischen Eva und dem Doctor vorgegangen, war sie ohne Ahnung geblieben.

Ob Adalbert während des Jahres, das Eva nun als Gattin an seiner Seite gelebt hatte, stets des Schwurs jener Minute eingedenk gewesen war – wer mochte es entscheiden? Sah man die leidenschaftliche Zärtlichkeit, die er ihr zwischendurch bewies, war man Zeuge der weichen Hingebung, mit welcher er ihr sein ganzes Wesen und Leben gewissermaßen zu Füßen breiten konnte, so durfte Einem kaum ein Zweifel kommen, daß seine Gefühle noch ganz so waren wie in der Stunde, als er so verzweiflungsvoll um ihre Hand gefleht hatte. Und doch wieder wagte man nicht recht all das Glück dieser Ehe zu glauben, wenn man die etwas bleiche junge Frau ansah, in deren Zügen die frühere kindliche Heiterkeit längst einem ernsten Ausdruck, der nicht selten geradezu kummervoll war, Platz gemacht hatte. Zwar verrieth ihr Mund nie den Zustand ihres Herzens, ließ keine Klage über den Gatten laut werden, aber zu leugnen blieb nicht, und Eva selbst konnte es sich am wenigsten verhehlen, daß es ihr nicht gelungen war, seine leidenschaftliche Natur zu besänftigen, ihn zur Harmonie mit sich und der Welt zurückzuführen. Hatte sie einst in dem Vertrauen auf seine und ihre Liebe gehofft, den finstern Geist, welcher ihn zu Zeiten beherrschte, bannen zu dürfen, hatte sie sich begeistert und hingerissen gefühlt durch den Gedanken, daß sie berufen sei, sein Schutz- und Friedensengel zu werden – wie er selbst ihr gesagt –: so hatte sie längst mit heißem und tiefem Schmerz einsehen müssen, daß sie zu schwach war, den Dämon in seiner Brust zu besiegen, daß es ihr versagt blieb, einen dauernden Einfluß auf sein zerfahrenes Gemüth zu gewinnen. Nur langsam, nur allmählich war sie von all’ jenen Hoffnungen geschieden und immer wieder hatte

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 20. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_020.jpg&oldid=- (Version vom 6.1.2019)