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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

worden. Außer dem Freigute Mosigkau selbst hatte die Prinzessin noch mehrere Güter in Anhalt, und ein Capital in Geld als Stiftsvermögen festgestellt. Dadurch ist es gekommen, daß die Stiftung nicht nur bis heute fortblüht, sondern daß sogar die Zahl der Kanonissinnen beträchtlich vermehrt werden konnte.

Die Prinzessin selbst hatte noch vor ihrem Tode eine Nachfolgerin als erste Aebtissin von Mosigkau ernannt und ihre Nichte, die älteste Tochter des verstorbenen Erbprinzen Wilhelm Gustav und seiner morganatisch angetrauten Frau, die Gräfin Sophie von Anhalt, dazu erwählt. –

Mehr als dreißig Jahre im neuen Jahrhundert sind vergangen, da treten wir wiederum in das Fräuleinstift zu Mosigkau. Die Schöpfung der Fürstin blüht so ziemlich unverändert im sechsten Jahrzehnte – nur die Personen darin sind andere geworden und genießen ihre Segnungen.

In dem mit einer Allee aus Orangenbäumen besetzten Hauptwege des Schloßgartens lustwandelte an einem Herbstnachmittage eine Dame, deren schwarzes Haar und feine Züge ihr Alter von sechszig Jahren zu verneinen schienen. Sie sah überhaupt wie eine Erscheinung aus einem andern Zeitalter aus. Ihr schwarzes Kleid trug den Schnitt des vorigen Jahrhunderts, nicht minder der schwarze Ueberwurf, den die behandschuhte Rechte leicht zusammenhielt. Ein blauer Hut in seltsam alterthümlicher Form mit wogender blauer Feder bedeckte, etwas nach links geneigt, das dunkle Haar und gab der Trägerin ein halb malerisches, halb phantastisches Ansehen, das gar sehr verschieden war von den Moden dieser Zeit.

Doch die Dame wußte dieses entweder gar nicht oder kümmerte sich nicht darum. Stolz und hoch aufgerichtet schritt sie auf dem mit feinem Kiese bedeckten Wege hin und her, erwiderte freundlich die ehrfurchtsvollen Grüße der Dorfbewohner, welche zum Schlosse gingen oder aus ihm kamen, und zog sich endlich ermüdet in einen kleinen Pavillon japanischen Styles zurück, um auf bereitem Ruhesitze zu rasten.

Auch Bücher lagen darin zur Lectüre bereit. Die Dame ergriff eines derselben auf’s Gerathewohl und blätterte darin – es war „Götz von Berlichingen“. Aber sie las nur wenige Zeilen, da sanken ihr Hand und Buch nieder und ihre Augen schienen in das Unendliche zu schweifen. Die Goethe’sche Dichtung hatte schöne, heilige Erinnerungen in ihr wachgerufen. Kaum zehn Jahre war es her, seit ihr jugendlicher Freund Wilhelm Müller, der Dichter der Griechenlieder, mit diesem selben Buche in der Hand vor ihr gesessen und ihr die Dichtung des Altmeisters vorgelesen hatte. Und wie hatte er sie gelesen! Das war nicht Lesen mehr, das war ein Mitleben gewesen – bei der Schlußscene waren Thränen seinen Augen entstürzt und seine Stimme war gebrochen. … So hatten sie einen heilig schönen Augenblick gefeiert! Wie hatte sie diesen jungen Dichter verehrt, und nun lag er mit gebrochenem Herzen schon fast ein Jahrzehnt in der Gruft, während sie, die ältere Freundin, welche gehofft hatte, dereinst von ihm betrauert zu werden, noch immer lebte, einsamer als jemals. Auch ein anderer Dichter, ein Freund von ehemals, o damals mehr als Freund! war Jenem nach wenigen Jahren gefolgt, und nur sie lebte immer noch. Was sollte sie noch allein auf Erden? War es denn nicht genug der Sühne, daß sie jetzt seit beinah vierzig Jahren in diesem Stifte weilte? – Doch, sie durfte ja noch einen Beruf erfüllen. Die Wahl des Ordenscapitels zur Aebtissin hatte sie kürzlich aus ihrer abgeschlossenen Einsamkeit herausgerissen. Sie war zwar überrascht, daß man ihren Jahren noch diese Bürde auferlegen wollte, aber sie nahm sie an mit den Worten: „Ich hatte mit der Welt abgeschlossen; nun aber tritt mir unerwartet dieser Beruf entgegen. Ich sehe ihn als einen Beruf von oben an.“ ...

Am Ausgange des Schloßgartens hielt ein Wagen still. Herrschaftliche Diener öffneten den Wagenschlag und halfen einem Paare beim Aussteigen. Es war ein stattlicher Herr in den besten Mannesjahren und von höchst distinguirtem Aeußern mit einer jungen und reizenden Dame. Der Herr winkte dem Diener, bei dem Wagen zu bleiben, der auf der Dorfstraße weiter fuhr, und trat mit seiner Begleiterin in den Garten.

Wer war das stattliche Paar, das hier in der Einsamkeit lustwandelte, das aber wohl geeignet gewesen wäre, selbst in dem glänzendsten Salon Aufsehen zu erregen?

Es war ein drittes Ehepaar aus dem fürstlichen Hause Anhalt, welches nur die Liebe, nicht aber die Gleichheit des Standes mit einander verbunden hatte. Prinz Georg von Dessau, der Bruder des regierenden Herzogs, hatte sich mit dem schönen Fräulein von Erdmannsdorf verbunden, welche vom Herzoge zur Gräfin von Reina ernannt wurde. Weniger nachsichtig als ihr Gemahl, der nicht vergessen hatte, daß seine Urgroßmutter die Tochter eines Apothekers gewesen war, zeigte sich die Herzogin Friederike, eine königliche Prinzessin von Preußen. Fräulein von Erdmannsdorff war vorher Kammerdame der Herzogin gewesen, und diese soll von einer Ohnmacht überrascht worden sein bei der Kunde, daß sie die seitherige Kammerdame in Zukunft als ihre Schwägerin zu begrüßen hätte. …

Die neue Gräfin Reina sollte es bald erkennen müssen, welches Opfer sie gebracht hatte, als sie die Liebe des Prinzen erhörte und seine Hand annahm. Nur diese Liebe ihres Gemahls eben versüßte ihr Alles – der Prinz bewies sich ihres Opfers würdig. Die Tafel seines herzoglichen Bruders stand dem Prinzen offen, allein der Gräfin nicht, und er hat sie nicht mehr besucht; die herzogliche Loge des Hoftheaters erschloß sich dem Bruder des Herzogs, aber nicht seiner Gemahlin: Prinz Georg miethete sich eine Privatloge, in welcher er fortan mit seinem geliebten Weibe zu sitzen pflegte, bis er endlich dieses Etikettentrödels überdrüssig wurde und seinen Wohnsitz in Dresden aufschlug, wo er erst vor wenigen Jahren gestorben ist.

Zu der Zeit, von welcher hier die Rede ist, lebte das Paar noch in Dessau, brachte aber wöchentlich mehrere Nachmittage in Mosigkau zu, wo der Prinz und seine Gemahlin an der Aebtissin eine treue Freundin besaßen.

Diese verließ den japanischen Pavillon, als sie die erwarteten Gäste des Weges daherkommen sah, und ging ihnen entgegen.

Wie seltsam nahm sich die ganze Erscheinung der Aebtissin neben der modernen Gräfin aus, wie wenn zwei Jahrhunderte neben einander gestellt worden wären! Es blieb den Bewohnern von Mosigkau kaum zu verdenken, wenn sie die Aebtissin, welche ihnen so treue Fürsorge weihte, trotzdem eine alte wunderliche Dame nannten, die sich wegen einer unglücklichen Liebe allerlei Sonderbares in den Kopf gesetzt hätte. Die Masse entscheidet ja immer nach dem, was sie gerade sieht.

„Frau Aebtissin,“ rief der Prinz ihr begrüßend zu, „wir kommen pünktlich, wie Sie es gefordert. Doch welche Ueberraschung bereiten Sie uns heute! Ein Concert in Mosigkau! Wollen Sie die schönen alten Zeiten wieder heraufzaubern, da nicht nur die Verbannten des Dessauer Hofes, sondern der Hof selbst öfter hierher kam und dort drüben im Theater mit seinen natürlichen Waldcoulissen die Stiftsdamen und die Cavaliere des Hofes Komödie spielten?“

„Wobei Sie stets eine tüchtige Actrice gewesen sein sollen!“ fügte die Gräfin hinzu.

Die Aebtissin schüttelte leicht das Haupt, während ein kurzes Lächeln wie ein Sonnenstrahl über ihre Züge flog, geweckt von freundlichen Erinnerungen.

„O nein,“ sagte sie dann, „lassen wir das Vergangene vergangen sein. Mein Concert gilt einem besondern Zwecke. Sie wissen, daß wir einmal im Jahre, am zweiten April, den Todestag der hohen Gründerin unseres Stifts, durch einen Privatgottesdienst im Saale des Schlosses feiern. Ich habe ihn ziemlich vierzig Male mitgefeiert und jedesmal den Klang der Orgel schmerzlich vermißt. Mein Concert gilt der Einweihung eines Orgel-Positivs, welches in Zukunft diesen Mangel ersetzen soll.“

Der Prinz und seine Gemahlin freuten sich dieses schönen Gedankens und wandelten mit der Aebtissin langsam dem Schlosse zu, wobei diese ihnen noch mittheilte, daß noch verschiedene Gäste als Zuhörer und als ausübende Künstler erwartet würden.

Sie schritten durch den freundlichen, blumengeschmückten Saal mit seiner reichen Sammlung von Oelgemälden hindurch, die Treppen empor, nach der Wohnung der Aebtissin. In einem Vorzimmer hing, gerade über der Eingangsthür zum Zimmer, ein Portrait des Dichters Matthisson in Oel gemalt. Wie gewöhnlich, wenn sie dieses Gemach durchschritt, ruhte der Blick der Aebtissin einen Augenblick lang auf des Dichters sanften edlen Zügen … durch die geöffnete Thür traten sie in ihr „Heidenthum“.

So nämlich nannte sie das erste ihrer beiden Wohnzimmer. Die Verzierungen desselben mahnten wirklich an das classische Heidenthum. Wo es der Geschmack erlaubte, da waren Nachbildungen der classischen Plastik aufgestellt worden. Dort rechts ein ägyptischer Apisdienst, links eine klagende Niobe, weiter ein

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 14. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_014.jpg&oldid=- (Version vom 6.1.2019)