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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

Mannes vor dem Geiste, der für seine Freunde und Günstlinge (und zu diesen gehörte Agassiz in hohem Grade, was er ihm auch jetzt damit vergolten hat, daß er ihn dem puritanischen Publicum Neu-Englands als einen Gläubigen darzustellen sich nicht entblödete) Alles that, was ihm nur irgend möglich war, jede Gelegenheit benutzte, ihnen nützlich und förderlich zu sein; der mit ängstlicher Pünktlichkeit jeden erhaltenen Brief beantwortete und seiner Antwort stets eine gutmüthige und doch witzige und erheiternde Fassung zu geben verstand. Ohne ihn persönlich zu kennen, hatten sich doch diese Züge, wie die seines Portraits lebhaft in unser Gedächtniß geprägt. Zuweilen kam auch eine Anfrage von ihm über diesen oder jenen Punkt, den Agassiz’s Arbeiten speciell behandelten, und diese Anfragen waren stets so klar und bestimmt gefaßt, daß man wohl sah, er sei vollkommen im Stande, die ganze Tragweite der Antwort zu ermessen.

Zu dem Bilde sollten bald neue, unerwartete Züge sich gesellen. Ich kam im August 1844 nach Paris mit wenig Aussichten und noch weniger Geld, aber mit dem festen Vorsatze, auf eigenen Füßen zu stehen. Ich hatte einige Empfehlungen, und Bericht-Erstattungen über die Sitzungen der Akademie der Wissenschaften für die Cotta’sche Allgemeine Zeitung hielten mich wenigstens finanziell über dem Wasser. Auch hatten meine Arbeiten über die Entwicklungsgeschichte der Forellen und der Kröten mir die Wege gebahnt. Ich quartierte mich in dem alten Hôtel garni der Rue Copeau, gegenüber der Pitié und dem kleinen Pförtchen des Pflanzengartens ein, das heute seine Bestimmung ebenso wie die Straße den Namen geändert hat.

Damals war es das Rendez-vous aller fremden Naturforscher. An der Table d’hôte präsidirte Straus-Dürkheim, der die berühmte Monographie des Maikäfers gemacht hatte, weshalb er meist kurzweg der Maikäfer genannt wurde, mit einem grünen Lichtschirme über den Augen auf dem kahlen Schädel. Jeden neuen Ankömmling zerrte er mit Gewalt in sein Studirzimmer, zeigte ihm einen Sessel à la Louis quinze, in dessen Sitzpolster links eine große Vertiefung sich zeigte, und bewies ihm haarscharf, daß man nur dann Anatomie der Insecten treiben könne, wenn man einen solchen Sessel habe, so wie er darin sitze, so die rechte Hand aufstütze und so die linke. Die Zimmer im Hôtel hatten ihre besonderen Namen nach den Naturforschern, die darin gewohnt hatten – Johannes Müller, Meckel, Rudolphi, Matteucci, Agassiz, Kohn waren da in bunter Reihe vertreten. Ich kam bald in ersprießliche Thätigkeit und Lage.

Die Akademie der Wissenschaften war damals in zwei Parteien gespalten; das Haupt der einen war Alexander Brongniart, ein altes kleines Männchen, früherer Mitarbeiter Cuvier’s für den geologischen Teil; die andere Partei stand unter der Führung Arago’s. Nur einige Wilde, unter ihnen Blainville, waren unberechenbar. Die Brongniartisten waren der Regierung Ludwig Philipp’s zugethan – die Anhänger Arago’s gehörten zur Opposition. Mit den Ersteren war ich durch Milne-Edwards, der mir stets viel Freundschaft erwies, in Berührung gekommen; mit Arago war ich durch den edeln Martin de Strasbourg, der uns auf dem Aargletscher besuchte, bekannt geworden. Gingen Brongniart und Arago Hand in Hand, namentlich bei Wahlen, so konnte der Candidat auf beiden Ohren schlafen; waren beide Führer nicht einig, so wurden die hitzigsten Treffen geliefert. Arago, ein echter Provençale in diesem Stücke, konnte meinen Namen nie behalten und aussprechen; da er aber einmal, wenn auch ohne Resultat, aus Schiller’s Tell Deutsch zu lernen versucht hatte, so fand er den Ausweg, mich „Geßler“ zu nennen.

Bei dieser Lage der Sache war es begreiflich, daß Humboldt in der Akademie einen so unbeschränkten Einfluß ausübte, wie er ihn nicht hätte haben können ohne seine persönliche Bekanntschaft mit den beiden Parteiführern und mit allen älteren Größen, welche die Akademie damals noch zählte. Mit Arago dutzte er sich, was in Frankreich eigentlich nur unter Schulgenossen stattfindet; ich habe es mit eigenen Ohren gehört. Mit Brongniart war er, von Cuvier her, auf dem intimsten Fuße; mit Biot, Gay-Lussac, Chevreuil verband ihn langjährige Freundschaft. So kam es denn, daß die Wahlen zur Akademie nicht in Paris, sondern, wie mir ein Freund sagte, in Berlin gemacht wurden; die Candidaten empfahlen sich zuerst bei Humboldt, und wenn sie besondere Günstlinge von ihm waren, kam dieser selbst nach Paris, um für sie einzustehen. Da nun jeder Franzose, sobald er mit Wissenschaft sich zu beschäftigen beginnt, sich Sessel in der Akademie als Zielpunkt nimmt und alle Mittel in Bewegung setzt, um zu demselben zu gelangen, so war die Gunst Humboldt’s von Jedem gewünscht und gesucht. Ich bin häufig von ganz jungen Leuten, die erst in zwanzig Jahren vielleicht hoffen konnten, dies Ziel zu erreichen, gefragt worden, ob ich mit Humboldt bekannt sei, und wenn ich dies verneinte und sogar offen bekannte, daß ich mein Verhältniß zu Agassiz nicht benutzt habe, um ihm persönlich näher zu treten, schüttelten sie den Kopf und ihre Mienen deuteten ziemlich verständlich an, daß sie mich für einen vernagelten Gesellen ansahen.

Es war damals eine lebhafte Candidatenjagd um einige erledigte Sessel und namentlich um einen Platz in der Section für Zoologie. Ein Candidat für die Akademie ist das geplagteste Thier, das man sich vorstellen kann. Schon mehrere Monate vor der Wahl miethet er einen Wagen für den ganzen Tag und fährt von Morgens früh bis nach Mitternacht in den Straßen umher, um Besuche ohne Zahl abzustatten. Er hat einen oder zwei Freunde, die für ihn arbeiten; diesen erstattet er täglich Bericht über seine Fortschritte und nimmt Verhaltungsmaßregeln entgegen. Er muß nicht nur allen Mitgliedern der Akademie Besuche abstatten, sondern auch deren Verwandten und Freunden, die für ihn ein gutes Wort einlegen könnten; er muß sich aus einem Salon in den andern stürzen, überall liebenswürdig sein, dort die Dame des Hauses, hier eine alte Jungfer gewinnen, mit welcher irgend eine der alten Perrücken eine Partie Domino zu spielen pflegt; er muß jedem seiner Gönner nicht nur seine Verdienste und Ansprüche auseinandersetzen, sondern ihm auch die Lection so lange wiederholen, bis er sie auswendig und Anderen aufsagen kann. Damit nicht genug! Der Candidat setzt auch alle wissenschaftliche Segel auf; er läßt eine Liste seiner Arbeiten und seiner Verdienste drucken, liest womöglich in jeder Sitzung eine neue Abhandlung, um die Augen auf sich zu ziehen, und bestürmt zu diesem Zwecke nicht nur Präsidenten und Sekretäre, sondern auch vor ihm eingeschriebene Redner, damit sie ihm ihren Platz abtreten; kurz, er ist Hans Dampf in allen Gassen. Am Ende einer solchen Campagne ist der Candidat hohläugig und abgemagert wie ein Schemen, und erreicht er endlich den Sessel, so fällt er erschöpft hinein und hat zuweilen für sein ganzes zukünftiges Leben genug.

Seit Jahren lebte am Pflanzengarten der Zoologe Valenciennes ein stilles gemüthliches Pflanzenleben. Er war ein guter, dicker, kurzathmiger Mann, der lieber gut und viel aß, als arbeitete, in den Alleen des Gartens in Pantoffeln und einem grauen Hausrocke umherschlenderte, einen unerträglich schreienden Ara fütterte und alljährlich mit großer Mühe einen Band eines großen Werkes über Fische zur Welt brachte, für dessen Redaction ihn Cuvier einst als Mitarbeiter angenommen hatte. Verstand hatte er gerade genug, um eine Species von einer andern unterscheiden und nothdürftig beschreiben zu können, freilich in einem fürchterlichen Französisch, dessen Fehler landläufig geworden waren. Er hatte auch für Humboldt einige zoologische Artikel zu dessen Reisewerk bearbeitet – Grund genug, daß dieser, den man überhaupt einer gewissen Schwäche für Mittelmäßigkeiten beschuldigte, ihn ganz besonders in sein Herz geschlossen hatte. Mein Weg zur Sammlung für vergleichende Anatomie, in der ich arbeitete, ging gewöhnlich an Valenciennes’ Wohnung vorbei – er stand dann meist, pustend und blasend, im Hausrocke bei seinem Papagei und fütterte diesen mit den Resten des Frühstücks. Eines Tages rennt mich ein schwarzgekleideter Herr beinahe um. Ich blicke auf – es ist Valenciennes, schnaubend wie ein Butzkopf. Frack und Hosen waren sehr eng, die Augen standen ihm vor dem Kopfe.

„Was haben Sie?“ rufe ich erstaunt.

„Ach! Sie sind es!“ sagte er. „Steht da draußen ein Wagen?“

„Ja, an der Ecke!“

„Adieu,“ ruft er, „ich muß fort!“

Einige Schritte weiter stoße ich auf meinen Freund Lemercier, den Unterbibliothekar des Pflanzengartens, der mich ganz besonders in’s Herz geschlossen hatte, weil ich manchmal die Gefälligkeit hatte, ihm deutsche Büchertitel in’s Französische zu übersetzen.

„Wissen Sie denn, was los ist?“ frage ich; „Valenciennes hat mich eben fast umgerannt. Er war ungemein aufgeregt und stürzte zum Garten hinaus, als wenn es brennte!“

„War er im Frack?“ fragte Lemercier.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 9. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_009.jpg&oldid=- (Version vom 6.1.2019)