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verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

sind natürlich auch mit ausgestellt.“ Das wirkte. Ich hatte in Griechenland und Spanien vergeblich ausgeschaut nach diesem Vogel, dem reizendsten, harmlosesten Kinde der Alpen, dessen milde Schönheit mich, so oft ich die todte Hülle betrachte – warum soll ich es nicht sagen – eigenthümlich ergreift, ja, förmlich rührt. Jetzt sollte ich den Vogel lebend, in Gefangenschaft, hoffentlich sogar in der Freiheit sehen: – also auf, nach St. Gallen!

Die Ausstellung bot weit mehr, als ich erwartet hatte; denn die alpine Vogelwelt war trefflich vertreten. Vom Bartgeier an bis zum Steinhuhn herab fehlten nur wenige Arten. Und das will etwas sagen, wenn man bedenkt, daß die drei genannten Männer, vielbeschäftigte Aerzte, aus eigenem Antriebe die Ausstellung geschaffen, mit eigenen Mitteln zwei- bis dreihundert Vögel zusammengebracht, gefangen, vom Ei an aufgefüttert, verschrieben, monatelang eigenhändig gepflegt hatten, ohne bestimmte Aussicht auf Erfolg, ohne im Entferntesten an Ersatz ihres Aufwandes an Zeit, Mühe und Geld zu denken. Jeder von ihnen hatte sich’s über tausend Franken kosten lassen, um den Landsleuten eine Freude zu bereiten, den Unkundigen ein „Schutz den Vögeln“ in der allverständlichsten Weise zuzurufen. Das war echt schweizerisch gedacht und gehandelt; schweizerisch aber war es auch, daß man den wackeren Männern den großen Saal des Schulgebäudes zur Verfügung gestellt hatte, ohne sich vor dem ketzerischen Geruche, in welchem die Naturwissenschaft verdientermaßen steht, zu scheuen oder zu fürchten.

Ich will hier keine Schilderung dieser Ausstellung geben, auch keine Vogelnamen nennen; es genüge zu sagen, daß erstere mit großem Verständniß hergerichtet, künstlerisch geschmückt war und lebhaft besucht wurde, sowie, daß ich unter den Gefiederten viele alte Bekannte und liebe Freunde antraf, aber auch neue Bekanntschaften machte. Wie sehr mich der Käfig mit den beiden Mauerläufern fesselte, fühlt mir wohl nur der Fachmann nach, welcher weiß, daß vor Girtanner’s Berichten über diesen Vogel dessen Naturgeschichte dürftiger war, als die jedes anderen Alpenvogels. Im allerhöchsten Grade aber fesselte mich die schlichte Erzählung meines Freundes, wie er die gleichsam unnahbaren Vögel in seine Gewalt gebracht, und ich wäre am liebsten schon am nächsten Tage mit ihm aufgebrochen, um Ort und Stelle der Geschichte zu besuchen, hätte der neidische, seit Tagen mit Regenwolken verhüllte Himmel es gestattet.

„Beruhigen Sie sich,“ sagte Girtanner, „bei Bad Pfäffers, gerade dort, wo die Felsenwände sich über der wildbrausenden Tamina zusammenschließen, unmittelbar hinter dem Badehause, sehen Sie den Vogel ganz gewiß; auch in der Nähe der Teufelsbrücke auf dem Gotthard dürften Sie schwerlich vergeblich suchen; – freilich, beim Wildkirchli hätten wir ihn ganz bestimmt zu Gesicht bekommen!

Ich spähte vergeblich an der erstbezeichneten Stelle, suchte umsonst alle Wände des Taminathales ab, kam bei den geputzten Bade- und Reisemenschen, deren fade Himmelei mich ununterbrochen störte, in den entschiedensten Verdacht, ein deutscher Professor zu sein; – der „Murspecht“ sei vorhanden, sagten befragte Hirten, Straßenarbeiter und andere Weltweise, ließe sich aber manchmal in vierzehn Tagen nicht sehen etc. Auch beim ersten Besuche der Teufelsbrücke erging es mir nicht nach Wunsch, und erst, als ich, die Rastzeit der Gefährten in Andermatt benutzend und auf das Wort des kundigen Nagler vertrauend, zur Brücke zurückging, gewahrte ich den lieblichen Vogel, hängend an einer kleinen Capelle, deren fratzenhafte Bilder von mir unbekannten, unzweifelhaft aber höchst bedeutsamen Heiligen vorher meinen Geschmack empfindlich verletzt hatten, gleichsam zum Beweise, daß die Urbilder besagter Fratzen ihre Werkthätigkeit selbst auf Ungläubige zu erstrecken vermögen. Die Capelle steht seitdem unvertilgbar vor meinem geistigen Auge; die Fratzen sind vergeben und vergessen: an ihrer Stelle hat sich mir eingeprägt das freundliche Bild des – Felsenwiedehopfes, „Mauerläufer“ oder „Alpenspecht“ genannt.

Ja, ein Wiedehopf mit Kletterfüßen, nicht aber ein Specht oder Läufer ist dieser seltsame Vogel, das Urbild einer besonderen Sippe und Familie, verbreitet über die Hochgebirge Europas und Asiens, einem Schmetterlinge vergleichbar in seinem Wesen, in seinen Bewegungen, und wie dieser im Flug erst seine volle Pracht entfaltend, ein Wiedehopf, trotz aller hochgelahrten systematischen Auseinandersetzungen der Altmeister, Meister und Lehrlinge unserer Wissenschaft: das sah ich mit dem ersten Blicke und glaubte damit vollen Lohn für meine Ausdauer erzielt zu haben, so lächerlich unbedeutend dieser Gewinn auch scheinen und sein mag.

Nur in beträchtlicher Höhe über dem Meere, auf den Alpen, Pyrenäen, Karpathen, den spanischen und griechischen Gebirge wie auf dem Himalaya lebt der Mauerläufer, paarweise ein ausgedehntes Gebiet bewohnend und dasselbe tagtäglich mehrere Male durchstreifend, und nur vom Gestein liest er sich seine Nahrung ab: Kerbthiere verschiedener Arten, Spinnen, deren Eier und Puppen. Man sieht ihn schwankenden Fluges wie einen Schmetterling von einer Stelle zur andern flattern, hier sich anhängen, die großen bogig gekrümmten Nägel der langen Zehen, mit denen er eine umfangreiche Fläche zu umklammern vermag, an das Gestein heften, bei jedem Schritte oder Sprunge wie aus Uebermuth die Flügel zuckend lüften, und mit dem seinen sanft gekrümmten Schnabel alle Ritzen der Felsenwand untersuchen. Nirgends hält er sich längere Zeit auf einem und demselben Flecke auf, durchsucht aber gründlich die Stelle, zu welcher er heran flog, und kümmert sich nicht im Geringsten darum, welche Lage er zu ihr einnehmen muß. Unterhalb des vorspringenden Gesimses hängt er sich mit derselben Sicherheit fest wie oberhalb oder am senkrechten Abfalle desselben, bezüglich der ganzen Felsenwand, über breite Steine gleitet er mit derselben Sicherheit weg, immer mit den Flügeln zuckend, als könne er es gar nicht lassen zu zeigen, wie prachtvoll das beim Sitzen größtentheils versteckte Purpurroth der Flügel gegen das zarte Aschgrau des Kleingefieders, das Mattschwarz (im Winter Grauweiß) der Kehle, der Schwingen und des Schwanzes absticht. Heitere Fröhlichkeit scheint der fast ununterbrochen ausgestoßene Lockruf zu bekunden, vertrauensselige Sicherheit oder schmetterlingshafte Harmlosigkeit die Art und Weise, wie er auftritt. Man weiß nicht, soll man sich mehr ergötzen an all’ dem oder mehr gefesselt werden durch ein geistiges Sichausmalen des stillen Lebens und seiner Schicksale da oben in der hehren Alpenwelt mit ihrer gewaltigen Herrlichkeit und ihrem grausigen Elende. Inmitten des Roseggletschers im Pontresinathal, auf Agagliouls, einer von Eismeeren umgebenen Felseninsel, lebt jahraus jahrein ein Pärchen dieses Vogels und fristet doch sein Dasein, ohne daß wir das Wie zu begreifen vermögen. Was mag es zu ertragen haben in den langen Winternächten; wie eifrig mag es flattern und klettern während des kurzen, oft genug sonnenlosen Tages, um sich dieses Tages Nahrung zu gewinnen! Allerdings geschieht es regelmäßig, daß Winterkälte und Winternoth den Mauerläufer in das tiefere Land herabdrücken; er erscheint z. B. in jedem Winter regelmäßig an den Nagelfluhwänden bei, an den Kirchenmauern in St. Gallen; doch scheint es, als ob von vielen sich nur wenige bewegen ließen, die heimathliche Höhe mit der nicht selten ungastlichen Niederung zu vertauschen, und ehe noch der Föhn vom kommenden Frühling zu reden begonnen, sind auch diese wenigen bereits wieder unten verschwunden und zu den Hochbergen zurückgeflogen.

Solchen Vogel mußte ich mehr als einmal sehen, mindestens noch mehr über ihn erfahren; die herzliche Einladung der liebenswürdigen Gastfreunde in St. Gallen, auf dem Rückwege noch einmal hier vorzusprechen und das Wildkirchli zu besuchen, kam mir daher um so willkommener. Girtanner geleitete uns als kundiger Führer zum ersehnten Orte. Während die Uebrigen Auge und Herz an der herrlichen Landschaft weideten, suchte ich die Felsenwände ab, bis ich den Vogel wieder erspäht, und während Jene ruhten, kletterten wir zu der Stelle, über welcher hoch an der Felsenwand das Nest mit dem damals sehr jungen, nunmehr ausgewachsenen und ausgefärbten Gefangenen Girtanner’s gestanden. Ich besichtigte Alles, jeden Stein, so zu sagen, und bewunderte den Mannesmuth meines Freundes fortan noch mehr als sein aufopferndes Streben, sich und Anderen Kenntniß der Alpenthiere zu erwerben.

„Hier war es, wo wir lange rathlos standen; hierher stellten wir die zusammengebundenen Leitern, dorthin die Sennen; und –“

„Aber, liebster Girtanner, nur nicht so ohne Vorwort! Sie haben mir zwar die Geschichte Ihrer Heldenthaten bereits mitgetheilt; hier jedoch, auf diesem classischen Boden, muß ich den Bericht nochmals von Anfang bis zu Ende hören. Erzählen Sie, bitte, noch einmal.“

Er sagte zu, ging mit mir zum Wildkirchli zurück, sammelte beim Veltliner die zerstreuten Gefährten und begann:

„Sie wissen, daß ich mir schon vor einigen Jahren einen

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verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1870, Seite 6. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_006.jpg&oldid=- (Version vom 6.1.2019)