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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

zu legen. Mich aber hatte der Ruf nicht wenig erregt, neugierig spähte ich hinaus und wirklich erblickte auch ich nun die Verkündeten: zwei geweihte stattliche Edelhirsche nebst einem dergleichen Spießer, die von Weitem vertraulich an die Försterei herangezogen kamen, beim Fensteröffnen aber doch verschüchtert ein paar Schritte zurückwichen. Doch nicht lange dauerte es, so kamen sie wieder näher, aber dabei immer erst wieder einmal Halt machend und sichernd, was jedoch, wie mich der Förster versicherte, von ihnen heute nur ausnahmsweise in so zögernder Art geschah, wahrscheinlich weil sie den ungewohnten Lichtglanz des Weihnachtsbaumes scheuten. Endlich, nach ziemlich langem Besinnen, kamen die Forschenden plötzlich trollend heran, und begehrlich, wenn auch immerhin vorsichtig genug, langte der eine von den Hirschen, der, welcher nur sechs Enden auf dem Schädel trug, sofort zu, die schmackhaften Christäpfel sich trefflich munden lassend. Der Spießer hingegen wie der stolze Zwölfender (denn ein solcher war der dritte Mitgekommene) zögerten mißtrauisch noch lange, ehe sie sich entschlossen, die verlockenden Früchte zu berühren. Ich aber schlich mich nun auf des Försters Rath zum Hinterpförtchen hinaus, den seltenen Anblick mit allen seinen Reizen unmittelbar im Freien zu genießen, was mir auch, da ich natürlich gegen den Wind mich stellte, die Hirsche aber überhaupt den Verkehr am Hause gewöhnt waren, im vollsten Maße gelang.

So stand ich denn draußen in monderhellter Waldespracht, vor mir das malerische fichtenumschlossene Jägerhaus mit den alten Linden, hinter deren einem Stamme hervor der Spießer neugierig nach dem lichtschimmernden kleinen Fensterchen der trauten Waidmannswohnung, welche so herzige Kinderlust in sich barg, äugte. Die beiden starken Hirsche aber, die sich seit Langem schon gewöhnt hatten, allabendlich von der nahen Wildfütterung herüber an die Wohnstätte ihres freundlichen Hüters zu kommen, wo ihnen durch dessen Kinder jedesmal noch ein Mund voll Körner, Kastanien, Möhren oder Obst geboten wurde, ließen sich auch heute statt der gewöhnlichen Holzapfel die süßere Christkost der kleinen Geber wohlschmecken, dabei aber mit nicht weniger Verwunderung, als ihr jugendlicher Cumpan, die außergewöhnliche Helle im heimischen Raume betrachtend.

Mir aber ward durch diese Scene eine seltene und unübertroffene Weihnachtsfreude bereitet, und nicht satt schauen konnte ich mich an dem so eigenthümlich fesselnden, herrlichen Bilde. Schier zauberhaft waren die hochgeweihten Häupter der Hirsche von dem goldenen Glanz der Weihnachtslichter angestrahlt, daß die prunkenden Enden ihrer Kopfzier bei jeder Bewegung hell aufblitzten, während die dem Lichtstrom sonst abgewandten Gestalten bläulich glänzende Mondhelle umspielte. Dazu die Stille der geisterhaft durchhellten Waldesnacht, die nur zuweilen durch das laute Aufjubeln der Kinder drinnen im schmucken Stübchen unterbrochen wurde, während der mondbestrahlte Quell den ausgehöhlten Baumstamm im Gehöfte des Försters unter leisem Plätschern geschäftig füllte.

Lange, lange gab ich mich den bestrickenden Eindrücken hin; dann aber rasch, fast wehmüthig von der glücklichen Familie Abschied nehmend, trat ich den weiten einsamen Heimweg an, der mich erst in weit vorgeschrittener Nacht meiner stillen Behausung zuführte.

Guido Hammer.




Das Glück in Utopien.

So sehr der Name Utopien, der ein Land „Nirgendwo“ bedeutet, zum Allgemeingut der gebildeten Welt geworden ist, so vergessen ist das Buch, das ihn vor dreihundertundfünfzig Jahren in die Literatur einführte: die Utopia des Thomas Morus, des trefflichen Mannes, der als früherer Kanzler Heinrich’s des Achten von England die beiden von ihm geforderten Eide (daß die erste Ehe des Königs mit seiner Gemahlin Katharine nichtig und daß der König rechtmäßiges Oberhaupt der Kirche sei) standhaft verweigerte und dafür im Jahr 1535 das Haupt auf den Block legte. Nicht bloß um ihres Verfassers, auch um ihrer selbst willen verdient die geistreiche und in vieler Beziehung interessante Schrift, daß ihr Andenken wieder aufgefrischt werde.

Der Verfasser erzählt, daß er in Antwerpen durch seinen Freund Petrus Aegidius, dem das Buch gewidmet ist, einen Portugiesen kennen gelernt, welcher den Amerigo Vespicci, nach dem bekanntlich der Erdtheil Amerika seinen Namen empfangen, auf seinen letzten drei Reisen nach der neuen Welt begleitet, zuletzt sich von ihm getrennt habe und nach Utopien gekommen war. In einem fünfjähriger Aufenthalt hatte er den dortigen Staat als den besten überhaupt existirenden kennen gelernt, dessen Verfassung er nun auf Wunsch des Morus und Aegidius ausführlich beschreibt. Ganz ohne Zusammenhang mit der Cultur der alten Welt ist Utopien übrigens nicht; denn nach den dortigen Chroniken war vor etwa eintausendzweihundert Jahren (also ungefähr dreihundert nach Christi Geburt) ein Schiff mit Römern und Aegyptern dorthin verschlagen worden, welche die Utopier mit den Hauptresultaten der antiken Civilisation bekannt gemacht hatten. Der Erzähler glaubt übrigens, daß die Utopier Abkömmlinge der (von ihm hoch verehrten) alten Griechen sind, denn er fand bei ihnen die Werke des Plato, Aristoteles und Galenus. Er machte sie mit den Erfindungen des Bücherdrucks und der Papierfabrikation bekannt, die bei ihnen den größten Anklang fanden und mit solchem Eifer in’s Werk gesetzt wurden, daß sie bereits tausende von gedruckten Büchern besitzen. Die übrigen wichtigen Erfindungen haben sie für sich selbst gemacht.

Der Staat der Utopier ist darum der vollkommenste, weil ihm das Grundübel aller übrigen Staaten abgeht: das Eigenthum und dessen ungleiche Vertheilung, daher die Utopier natürlich auch des Geldes nicht bedürfen. Während in Europa die Menschen vom öffentlichen Wohle zwar reden, aber nur ihre Privatinteressen im Auge haben und durch die Sorge für Erwerbung, Erhaltung und Vermehrung des Eigenthums ganz und gar in Anspruch genommen sind, widmen die Utopier, aller dieser Sorgen überhoben, sich ganz dem Gemeinwohl. Während in den übrigen Staaten die größte Ungerechtigkeit in der Vertheilung der Lebensschicksale herrscht, Adelige und Reiche (bei Morus: Wucherer und Goldschmiede, die damals in London Bankiergeschäfte trieben) müßig schwelgen, Arbeiter, Handwerker und Ackerbauer aber darben, so daß diese Zustände aus einem Complot der Wohlhabenden hervorgegangen zu sein scheinen, herrscht im Gegensatz dazu in Utopien die größte Gleichheit. Die Dauer dieses glücklichen Zustandes ist auch dem Verfasser nicht ohne Abgeschiedenheit von der übrigen Welt denkbar: Utopien hing einst als Halbinsel mit dem Festlande zusammen; der König Utopus aber ließ die verbindende Landenge durchgraben und verwandelte das Land so in eine Insel.

Alle Utopier, Männer und Frauen, treiben den Ackerbau, in dem sie von frühester Jugend an durch Unterricht und praktische Thätigkeit geübt werden. Niemand darf sich davon ausschließen, doch steht es jedem frei daneben ein beliebiges Handwerk zu treiben, als Woll- und Flachsspinnerei, oder das Maurer-, Schmiede-, Schlosser-, Zimmermannshandwerk, andere kommen kaum vor. Die Kleider, die, abgesehen von dem Unterschied in der Tracht der Geschlechter, der Verheiratheten und der Ehelosen, für alle dieselben sind, verfertigen die Familien sich selbst. Die Handwerke erben in den Familien fort, wer jedoch zu dem einer andern Familie Neigung hat, kann sich in diese adoptiren lassen. Indessen arbeiten die Utopier keineswegs wie Lastthiere oder wie Knechte, was leider, wie Morus sagt, das Schicksal der meisten Handwerker in der übrigen Welt ist, sondern nur sechs Stunden am Tage, drei am Vormittag, dann nach einer dreistündigen Ruhe die übrigen; acht Stunden schlafen sie. Die übrige Zeit verwenden die meisten auf wissenschaftliche Ausbildung. Täglich werden vor Sonnenaufgang belehrende Vorlesungen gehalten, die immer eine große Menge von Männern und Frauen besucht, obwohl Niemand dazu gezwungen ist. Eine Stunde, in welcher die Mahlzeit stattfindet, ist stets dem Spiel und der Erholung geweiht, im Sommer in Gärten, im Winter in gemeinsamen Höfen; sie unterhalten sich hauptsächlich durch Gespräche und Musik; Würfel- und Hasardspiele kennen sie nicht, doch haben sie zwei dem Damenbrett ähnliche Spiele. Daß eine so geringe Arbeitszeit zur Production alles Erforderlichen hinreicht, erklärt sich daraus, daß alle arbeiten, während in der übrigen Welt ein so großer Theil der Bevölkerungen müßig ist, namentlich die überwiegende Mehrzahl der Frauen, die

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 825. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_825.jpg&oldid=- (Version vom 31.12.2022)