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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

Inkognito, allein in einer Postchaise, mit Dachsranzen und Köfferchen, ohne dienende Begleitung, reiste Goethe von Karlsbad am 3. September 1786 ab und ging über die Alpen nach dem Lande seiner Sehnsucht. In Italien fühlte er sich nach und nach kleinlichen Vorstellungen entrissen, falschen Wünschen enthoben, und an die Stelle der Sehnsucht nach dem Lande, der Künste setzte sich die Sehnsucht nach der Kunst selbst. Es war die Zeit, wo sich unter der eifrigen Mitwirkung talentvoller Maler, eines Hackert, eines Tischbein, einer Angelika Kaufmann und Anderer in Rom jene Neugestaltung der Kunst vollzog, die im genialen Carstens ihren Abschluß finden sollte. Mit ganzem Feuereifer gab sich Goethe diesen Anregungen und Bestrebungen hin. Während er seine Iphigenie vollendete, widmete er sich zugleich der Malerei mit aller Leidenschaft.

Von Neapel, von Sicilien nach Rom zurückgekehrt, verweilte er vom 6. Juni 1787 bis 22. April 1788 zum zweiten Male in der ewigen Stadt. In Rom und auf den Ausflügen nach Tivoli, Albano etc. übte er sich unter Hackert’s Anleitung im Landschaftszeichnen nach der Natur und, als die menschliche Gestalt ihn vor Allem interessirte, im Figurenzeichnen und Modelliren. Schon am 16. Juni, kaum wieder in Rom, schreibt er von dort: „In Tivoli war ich mit Hackert, der eine unglaubliche Meisterschaft hat, die Natur abzuschreiben und der Zeichnung gleich eine Gestalten geben. Ich habe in diesen wenigen Tagen viel von ihm gelernt. Er hat mich gelobt und getadelt und mir weitergeholfen.“ Das A und O aller uns bekannten Dinge (wie er sich ausdrückt), die menschliche Figur fesselte ihn, er entschloß sich zum Modelliren und freute sich nicht wenig, als ihm die Zeichnung eines Köpfchens nach Gyps gelang. „Meine erste Angelegenheit ist und bleibt, daß ich es im Zeichnen zu einem gewissen Grade bringe, wo man mit Leichtigkeit Etwas macht und nicht wieder zurücklernt, noch so lange stillsteht, wie ich wohl leider die schönste Zeit des Lebens versäumt habe. Doch muß man sich selbst entschuldigen. Zeichnen um zu zeichnen wäre wie reden um zu reden. Wenn ich nichts auszudrücken habe, wenn mich nichts anreizt, wenn ich würdige Gegenstände erst mühsam aufsuchen muß, ja mit allem Suchen sie kaum finde, wo soll da der Nachahmungstrieb herkommen? In diesen Gegenden muß man zum Künstler werden, so dringt sich Alles auf.“

Die Anregung zum Portraitiren sollte er bald genug in Castel Gandolfo in anmuthigster Weise empfangen. – Man hat ihm aus diesen Bemühungen, in der Malerei sich auszubilden, den Vorwurf der Zeitvergeudung gemacht, gewiß aber mit Unrecht. Wohl hatte ihm die Natur ein wahrhaftes productives Talent für die bildende Kunst versagt, er war von ihr nicht zum Maler geschaffen; indem er aber sich im Zeichnen nach der Natur auszubilden emsig und unter verständiger Leitung tüchtigster Künstler bestrebt war, bildete er überhaupt seine Natur- und Kunstanschauung harmonisch aus, was seine Dichtungen förderte und veredelte. Das fühlte er selbst auch recht wohl. „Daß ich zeichne, und die Kunst studire“ – schrieb er von Rom „hilft dem Dichtungsvermögen auf, statt es zu hindern: denn schreiben muß man nur wenig, zeichnen viel. Wenn ich bei meiner Ankunft in Italien wie neugeboren war, so fange ich jetzt an, wie neuerzogen zu sein.“

Noch ehe er nach Castel Gandolfo ging, am 5. September, hatte er seine Umarbeitung des Egmont vollendet.

Sein damaliges Leben gleicht einem Jugendtraum und erschien ihm selbst einem Jugendtraum völlig ähnlich. Nur Eines fehlte noch in diesem Traum gänzlich: Beziehungen zum schönen Geschlecht. Einen Abguß des kolossalen Junokopfes, wovon das Original in der Villa Ludovisi steht, hatte er bei sich, ausgestellt und nennt denselben „seine erste Liebschaft in Rom“. Andere Liebschaften vermied er. „Ich scheue mich,“ gesteht er in den Briefen von dort, „vor den Herren und Damen wie vor einer bösen Krankheit, es wird mir schon weh, wenn ich sie fahren sehe.“ „Die italienischen Mäuschen, “ schrieb er ferner, „haben ihre Eigenthümlichkeiten; vor zehn Jahren hätten einige passiren können; nun ist diese Ader aber vertrocknet.“ Er hielt sich von Frauen „bis zur trocknen Unhöflichkeit“ fern. Als er aber im October zur Villeggiatur nach Castel Ganholfo gegangen, war es mit dieser kühlen Zurückhaltung vorbei. Am 8. October schrieb er von dort:. „Wir leben hier, wie man in Bädern lebt, nur mache ich mich des Morgens bei Seite, um zu zeichnen; dann muß man den ganzen Tag in der Gesellschaft sein, welches mir denn auch ganz recht ist für diese kurze Zeit; ich sehe doch auch einmal Menschen, ohne großen Zeitverlust und viele auf einmal.“ Er verschwieg, was ihn eigentlich bewegte; jetzt kann man es aber zwischen den Zeilen lesen. Die blauen Augen der schönen Mailänderin hatten es ihm angethan. Sie sehen und von heftiger Liebe zu ihr entbrennen, war das Werk Eines Augenblicks. Um so größer war das Entsetzen, das ihn ergriff, als er vernahm, daß die Geliebte bereits Braut sei. Doch er hatte Jahre und Erfahrungen genug, um sich, obwohl im tiefen Schmerz, zu fassen. Es wäre wunderbar, sagte er sich selbst, wenn ein Werther-ähnliches Schicksal dich in Rom aufgesucht hatte, um dir so bedeutende, bisher wohlbewahrte Zustände zu verderben! Er zog sich zurück und wandte sich wieder der Kunst zu.

Am 27. October war er wieder in Rom, musterte die Zeichnungen, die er auf dem Lande gemacht, und gab sich neuen landschaftlichen Studien, insbesondere aber dem Interesse an der menschlichen Gestalt hin, welche doch das non p1us ultra alles menschlichen Wissens und Thuns sei. Aber die Gedanken an die Geliebte blieben. Amor war es, der als Landschaftsmaler seinem Auge die Natur und demzufolge auch seine Landschaften durchgeistigte; Cupido, der lose, eigensinnige Knabe, war es, der ihm jetzt so hohe Begeisterung für die körperliche Schönheit des Menschen einflößte er war es endlich, der ihn dazu trieb, das Bild der Geliebten selbst zu zeichnen. Bei Hackert und unter dessen Leitung entwarf er das Bild der lieblichen Mailänderin mit dem hellbraunen oder vielmehr blonden Haar, dem klaren, zarten Teint, den „fast blauen“ Augen, dem offenen, nicht sowohl ansprechenden als gleichsam anfragenden Wesen. Er zeichnete sie „im reinlichen Morgenkleide“, wie er sie zuerst in Castel Gandolfo gesehen. Faßte er jenen Moment in das Auge, wo sie in liebenswürdiger Naivetät zu ihm sagte: „Man lehrt uns nicht schreiben, weil man fürchtet, wir würden die Feder zu Liebesbriefen benützen,“ oder den Moment, wo sie seinem englischen Unterricht aufmerksam schelmisch lauschte? Wer weiß? – So entstand die anmuthigste Aquarelle.

Im November 1787 konnte er wohl von sich sagen, daß er nun fast die rechten geraden Wege zu allen bildenden Künsten, vor sich sehe und erkenne, aber auch nun ihre Weiten und Fernen desto klarer ermesse; er fühlte, daß er zur bildenden Kunst schon zu alt sei, um von jetzt an mehr zu thun als zu „pfuschen“; er entschloß sich, auf das Ausüben der bildenden Kunst Verzicht zu thun, und wandte sich mit allem Feuereifer wieder der Poesie zu. Faust und Tasso beschäftigten ihn nun, sowohl in Rom, als auch nach dem schmerzlichen Abschied vom 22. April 1788 auf der Rückreise nach Weimar. Dahin begleiteten ihn auch seine italienischen Zeichnungen, unter ihnen das Portrait der schönen Mailänderin. Mit dreizehn anderen, in Italien gezeichneten Bildern (Landschaften in Aquarelle und Federzeichnungen: Wasserfall, Parkpartie, Ruinen, Felsengruppen, Säulen u. dergl.) legte er das Bild der Geliebten in ein Paket zusammen. Dort ruhte es siebenunddreißig Jahre.

Am Morgen des 28. August 1825 klopfte Goethe’s ehemaliger Privatsecretär, der Bibliothekar Rath Theodor Kräuter in Weimar, mein Oheim, an die Thür des hochverehrten Dichters. Freudig begrüßte Goethe den Mann, welcher sich mit emsigstem, unverdrossenem Fleiß aus sich selbst heraus gebildet und so hohe geistige Bildung errungen hatte, und nahm von dem treuergebenen Freund seines Hauses die ersten Glückwünsche zum sechsundsiebenzigsten Geburtstag entgegen. Um ihm eine Freude zu bereiten, ihm für alle Zeit ein Erinnerungszeichen zu geben, nahm Goethe jenes Paket Zeichnungen hervor und machte es „seinem ersten Gratulanten“ mit dieser schriftlichen Dedication zum Geschenk. So kam auch das Bild der Mailänderin in den Besitz der Familie Kräuter.

Erst drei Jahre später, im neunundsiebenzigsten Lebensjahre, nahm Goethe die Papiere über seinen zweiten Aufenthalt in Rom zur Hand und stellte sie so zusammen, wie sie im Jahr 1829 gedruckt erschienen. Daß dem fast achtzigjährigen Greis nicht gelingen konnte, die Liebesscene vom Castel Gandolfo nach vierzig Jahren mit dem damaligen jugendlichen Feuer zu schildern, ist natürlich. Gleichwohl machte ihm selbst noch in diesem Greisenalter die Erinnerung daran lebhaftes Vergnügen, und seinem Freund und Vertrauten Riemer sandte er seinen Aufsatz am 24. Februar 1829 für Riemer’s Frau Karoline, geborene Ulrich (die ehemalige

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 808. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_808.jpg&oldid=- (Version vom 24.12.2022)