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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)


heiße müde Stirn’ in die Hand gestützt, in die lautlose Nacht hinaus.

Das Abendroth war eben vollständig ausgeglüht; Finsterniß deckte es zu, aber hoch darüber aus dem Dunkel blitzte ein Stern, wie die hoch geschwungene Fackel eines Wegweisers. … So war es auch in des Mädchens tief betrübtem Gemüthe; was ihr das Leben schön gemacht hatte, was sie angestrahlt gleich einer hellen freudigen Sonne, war hinabgegangen – unwiederbringlich; aber vergebens spähte sie in undurchdringlicher Nacht nach einem Sternschimmer des Trostes und der Hoffnung.

Plötzlich schrak sie empor; in der Todesstille, die draußen waltete, drang das Rauschen eines wie im Traum sich regenden Blattes an das lauschende Ohr. Es war, als ob ein leiser, vorsichtig angehaltener Schritt durch das Gras des Baumgartens schlüpfe … sie horchte auf und sah gespannter in die Finsterniß … eine dunkle Gestalt glitt unter den Bäumen heran, und ehe sich ihre Gedanken zur Vermuthung bilden konnten, war dieselbe schon verwirklicht; die Gestalt war unter das Fenster heran getreten, und ein unterdrückter Ausruf, von der Freude erzeugt und im Werden wieder vom Schrecken getödtet, floh von ihren Lippen.

„Wendel!“ rief sie mit halberstickter Stimme. „Bist Du ’s denn … oder ist’s Dein Geist?“

„Ich bin’s wohl,“ erwiderte der Bursche, indem er sich auf den unter dem Fenster aufgeschichteten Stoß von Reisigbündeln schwang, so daß er stehend bis an’s Fenster reichen konnte. „Es ist kein Geist, sondern ein recht elendiger armer Mensch, der ’s nit ausgehalten hat, daß er im Zorn von Dir fortgehn soll, und ohne ein letztes ‚B’hüt’ Gott!‘ Ich hab’ Dich noch einmal sehn müssen, Christel, und drum bin ich her, und es ist mir Ein Ding, wenn sie mich fangen und gleich in Ketten und Banden legen …“

„Das ist recht, Wendel,“ erwiderte das Mädchen mit warmer Herzlichkeit, „ich dank’ Dir dafür, daß Du gekommen bist, und ist mir schier alleweil gewesen in meinem Sinn, als wenn Du kommen müßtest … aber wie red’st denn daher? Wenn Dich auch wer sehn thät’, wer sollt’ Dir was anthun? Du bist wohl noch verwirrt und geschreckt von gestern her …“

„Ja wohl, von gestern her!“ sagte der Bursche traurig. „Gestern ist mein Glück gestorben und begraben worden … ich wollt’, ich wär’ auch mit eingescharrt worden, statt daß ich fort muß, in die weite Welt, über’s Meer, in ein Land, wo mich Niemand find’t, und ich auch von keinem Menschen mehr etwas hör’ …“

„Von keinem Menschen?“ fragte Christel mit zärtlichem Vorwurf. „Also auch von mir nit?“

„Auch von Dir! Was würd’ es etwa sein, was ich von Dir hören könnt’? Was sonst, als daß es gegangen ist, wie ’s wohl gehen muß … daß Du mich vergessen hast mit der Zeit und daß ein Anderer …“

„Wenn Dich das trösten kann, Wendel, dann nimm’s mit auf den Weg, daß die Christel Dich nit vergißt und ihr Lebtag keinen Andern nimmt. … Ich hab’s heut’ meinem Vater noch einmal gesagt, und wenn er auch nichts von Dir wissen will – wer weiß ob nit einmal eine andere Zeit kommt! Das Eis zerschmilzt und ein Stein kann weich werden, warum sollt’ mein Vater nit auch seinen Sinn ändern können … ich will schon das Meinige dazu thun, daß es geschieht! Ich vergiss’ Dich niemals, Wendel, das versprech’ ich Dir, und wenn Du ’s auch treu und redlich im Sinn behältst, wer weiß, wie ’s dann noch werden kann … unser Herrgott wird uns nit verlassen …“

„Unser Herrgott weiß nichts mehr von mir,“ sagte Wendel dumpf, „er hat mich schon verlassen!“

„Wendel,“ rief Christel erschrocken, „was sind das alleweil für Reden … und wie kommst mir denn vor? Ich seh’s durch die Finsterniß, daß Du ganz bleich bist und verwacht, und wie verweint. … Komm’ zu Dir selber; wenn Du so red’st, bist ordentlich zum Fürchten …“

„Ja,“ rief er im Tone des tiefsten Schmerzes, „ich bin ein Mensch, vor dem man sich fürchten muß. … Mir wär’ besser, ich hätt’ einen Mühlstein am Hals und lieget’ drunten im Meer, wo ’s am tiefsten ist!“

Christel war aufgesprungen und stand erstarrt. „O du heilige Mutter … was soll das bedeuten?!“ stammelte sie.

Von dem Kleiderschranke in der Kammer ertönte leises Knarren – sie vernahm es nicht in ihrer Erregung.

Der Schmerz hatte Wendel die Sprache geraubt, unter Thränen fand er sie wieder. „Warum hab’ ich denn nit sterben können vor der entsetzlichen Stund’!“ jammerte er. „Gestern, wie ich Deine Lieb’ erfahren hab’ … da hätt’ ich sterben sollen, ich wär’ von Stund’ auf in den Himmel gekommen und hätt’ die Glückseligkeit gleich mitgebracht … Und jetzt …“

„Wendel …“ schrie das Mädchen von einer plötzlichen Ahnung durchblitzt … „Red! Sag’, daß ich Dich falsch verstanden hab’ … das Unglück von heut’ Nacht …“

(Fortsetzung folgt.)




Bei Henriette Hanke.


Aeltere Leserinnen der Gartenlaube, wenn sie in stiller Stunde innerer Einkehr einen Rückblick thun auf hinter ihnen liegendes Glück und Leid, erinnern sich gewiß noch heute mit innig empfundenen Nachgenuß lebhaft des Vergnügens, das ihnen einst die Lectüre der Schriften Henriette Hanke’s geschaffen hat. Vom Ende der zwanziger Jahre an bis fast hinauf zum Ausgang der fünfziger war die Feder dieser liebenswürdigen Schriftstellerin unermüdlich thätig, und wohl auf keinem Familienlesetische haben, namentlich während der dreißiger und dem ersten Lustrum der vierziger Jahre, die Schriften Frau Hanke’s gefehlt. Selten aber hat auch eine Schriftstellerin mit dem Aufwand so einfacher und geringer Mittel es verstanden, alle Phasen des Frauenlebens, die Lust und das Leid, das Glück und das Mißgeschick in Häuslichkeit und Familie in dem Grade anziehend und anschaulich zu schildern, für ihre simple Fabel die Leserin einzunehmen und zu erwärmen, für ihre Figuren das lebendigste Interesse, das innigste Mitgefühl, die resoluteste Theilnahme an deren Wohl und Wehe wach zu rufen und zu fesseln, wie gerade Henriette Hanke. Daß ihren Schriften neben dem unbestreitbaren Werth in ihrer Art auch das Glück zur Seite stand, dagegen hat die würdige Frau selbst sich niemals verschlossen.

Wer mit seinen geistigen Productionen bei dem ebenso unberechenbaren wie wunderlichen, seltsamen und wankelmüthigen tausendköpfigen süßen Ungeheuer, das man Publicum nennt, Glück machen will, der muß eben Glück haben. Nun, Frau Henriette Hanke hatte das Glück, Glück zu haben!

Der Kreis, in welchem sich das Productionstalent dieser Schriftstellerin bewegte, seiner ganzen äußeren und inneren Wesenheit nach auch nur bewegen konnte, muß allerdings als ein eng beschränkter bezeichnet werden. Aber die engen Grenzen, die ihrem Talent gezogen waren, wurden von ihr frühzeitig weislich erkannt, und indem sie sich niemals darüber hinaus wagte, machte sie sich im Laufe ihrer Thätigkeit innerhalb ihres kleinen Gebietes als vollkommene Herrscherin sowohl gedanklich als auch in der Form vollgültig und allseitig anerkannt geltend, und unbedenklich möchte ich auch auf diese Henriette den Ausspruch Angelika Catalani’s anwenden, den die große Sängerin einst über das Talent Henriette Sontag’s von sich gab: „Ihr Genre ist nicht groß, aber sie ist groß in ihrem Genre!“[1]

Im Hochsommer des Jahres 1853 kam ich, ein fahrender

  1. Der citirte Ausspruch Angelika Catalani’s lautet verbotenus: „Ihr Genre ist nicht das größeste, aber sie die Größte in ihrem Genre!“ – und die Catalani that ihn, wenn ich nicht sehr irre, im Jahre 1827 – in Berlin im Hause Herz Beer’s (des Vaters Michel’s und Giacomo’s), bei einem Diner, an dessen Tafelrunde außer ihr und der Sontag auch noch Sophie Müller, Alexander von Humboldt, August Wilhelm von Schlegel, Gans, Hegel, Varnhagen, Ludwig Robert und andere mehr und minder berühmte künstlerische und literarische Notabilitäten saßen. Die Catalani, derzeit freilich schon ein wenig „antiquirt“, aber noch immer „groß“, konnte damals, als sie jenen – besonders in der Version, wie ich ihn oben citirt, zum geflügelten Wort gewordenen – Ausspruch über die Sontag abgab, allerdings noch nicht wissen, daß diese, die bis jetzt nur in Opern wie „Italienerin in Algier“, „Cosa rara“, „Schnee“ und anderen desselben leichten Genres die Hörer entzückt hatte, kaum zwei oder vier Jahre später durch ihre Leistungen als „Semiramis“, „Desdemona“, „Donna Anna“ etc. beweisen würde, daß sie auch im größten Genre zu herrschen nicht blos berufen, sondern auch auserwählt sei.
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