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verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

Am Nachmittage wiederholte sich das gleiche Schauspiel; nur wurde, da der Zulauf geringer war, die Sache in der Sacristei abgemacht. Die Boehler Getränkehändler – die Kirche umgiebt ein Kranz von Wirthshäusern – hatten schon recht gut rechnen gelernt; für ein kleines Schoppenglas Milch mußte jeder „Holländer“ anderthalb Silbergroschen (neun Cents) bezahlen und andere Lebensmittel hatten ähnliche Preise.

Aus dem Ertrage der „milden Gaben“ hat der Boehler Pfarrer ein „Schwesternhaus“ erbaut, welches am 28. October dieses Jahres feierlich eingeweiht worden ist; wenn der Zuzug nicht nachläßt, wird auch der Bau des Klosters und der Kirche nicht lange auf sich warten lassen. Der alte Herr, davon sind wir fest überzeugt, glaubt an seine „Wunderthaten“; er selbst hat für sich große Mühe und wenig Nutzen davon, aber hinter ihm stehen einige ultramontane Geistliche von der dunkelsten Couleur – darunter ein früherer protestantischer Pfarrer – und benutzen den Greis und seine Curirsucht zu ihren Zwecken. Eine Frau ist im verflossenen Sommer in der Kirche gestorben, ein an der Gehirnentzündung erkranktes Kind, welches man zum Wunderthäter geschleppt, hat im Krankenhause zu Hagen den letzten Seufzer ausgehaucht und mancher arme, sieche Mensch muß an den Bahnhöfen das Geld zur Rückfahrt zusammenbetteln, aber der alte Pfarrer fährt mit seinen Gebetscuren fort, die preußischen Thaler und holländischen Gulden rasseln in die Büchse, die Boehler Wirthe lachen und der Menschenfreund erinnert sich mit Wehmuth der Schiller’schen Worte: „Gegen die Dummheit kämpfen Götter selbst vergebens!“

R. E.




Zwei ungedruckte Sonette Friedrich Rückert’s.

Rückert’s Sonettenkranz „Amaryllis“ ist für Würdigung dieses Dichters namentlich in psychologischer und literar-historischer Beziehung von einschneidender Bedeutung. Er liefert uns höchst werthvolle, mehr aus Wahrheit, als aus Dichtung fließende Aufschlüsse zur Erkenntniß des inneren, wie des äußeren Lebens Rückert’s, „welcher lebte, was er sang, und sang, was er lebte“, und erscheint so mehr oder weniger als ein werthvolles poetisches Bild von des Dichters damaligen Erlebnissen und Empfindungen, wie sich diese in der rückblickenden Erinnerung in seiner Seele gestalteten. Zugleich zeigt er uns den Weg, welchen Rückert gehen mußte, um zur Höhe seiner Lyrik im „Liebesfrühling“ aufzusteigen.

Auf Grund authentischer Mittheilungen, actenmäßiger Forschungen und persönlicher Untersuchungen an Ort und Stelle hat der Unterzeichnete auch den Nachweis über die Entstehung dieser Novelle in Liedern zu liefern gesucht.

Die Amaryllis-Sonette besingen Rückert’s jugendliches Liebesverhältniß zur schönen und naiven Maria Elisabetha Geuß, der Tochter des Wirthes auf der idyllischen Specke bei Ebern in Franken, wo noch bis zum heutigen Tage das Zimmer unverändert erhalten wurde, in welchem sich der Dichter im Sommer 1812 längere Zeit aufgehalten hatte.

Rückert’s Verhältniß zu „Marielies“, die ihm den Namen tauschen mußte in Amaryllis formosissima (Rückert’sche Ges.-Ausg. I. 321), war ein ähnliches, wie das von Goethe zu Friederike von Sesenheim, – eine ländliche Liebesidylle, die sich durch das Bewußtwerden des Unterschiedes in Bildung, Sitte und Bedürfnissen wieder löste. Es währte nur einen Sommer (1812). Ein Jahr später „schämte“ sich der Dichter und Gelehrte dieses Verhältnisses und gab seiner Stimmung in sechs Sonetten Ausdruck, deren Manuscript sich in den Händen einer hochstehenden Persönlichkeit in Gotha befindet, die uns dieselben behufs Veröffentlichung mit zuvorkommender Freundlichkeit übergeben hat.

Das zweite, dritte, vierte und fünfte dieser Sonette ist als Nr. 44, 45, 46 und 47 in Rückert’s „ländlichem Gedichte Amaryllis“ bereits gedruckt. (Vgl. Ges.-Ausg. I. S. 305 u. 306.)

Die beiden noch ungedruckten Sonette lauten also:

 Entzauberung

     zum zweiten Sommer der Amaryllis.     1813.

Ihr Amorn und ihr Grazien, welch’ ein Schwindel
War euch gefallen auf die klaren Sinnen,
Als ihr, die ihr sonst schwebt auf goldnen Zinnen,
Mir folgtet hier zum Dach von schlechtem Schindel?

5
Wolltet ihr Seide spinnen von der Spindel,

Der bäurischen, die nur für grobe Linnen?
Die Spul’ ist voll, des Irrthums werd’ ich innen;
Wir müssen abziehn, auf und schnürt die Bündel.

Die Hütte, die durch euch zum Zauberschlosse

10
Verwandelt war, sei nackte Hütte wieder,

Und wieder Magd sei, die durch euch war Nymphe.

Wir spielten eine lächerliche Posse;
Jetzt ist sie aus. Schwingt, Grazien, eu’r Gefieder,
Und tragt sammt euch mich weg von unserm Schimpfe.






Nun Musen, eh’ mit euerem Poeten
Ihr jetzt von hinnen fahrt auf weiter Reise,
Bitt’ ich euch, daß ihr pflücket Ihr zum Preise
Noch eine Blum’ aus euren Sternenbeeten! –

5
Du warst ein Stern, der schönste der Planeten

Warst du, dich drehend im gemessnen Gleise
Um Liebe, deine Sonne, still und leise;
Ich kam dir nach gleich störendem Kometen.

Zum Glück traf dich nicht nah’ genug mein Flammen,

10
Zum Glück warst du so fest in deinen Tiefen,

Daß du nicht wanktest, und nun geh’ ich weiter.

Geh’ deines Weg’s, wir gehen nicht zusammen;
Du gehst in deinem Kreis, ich geh’ durch Schiefen,
Ich Gluth in Dunst, du Venus ruhig heiter.

Dr. C. Beyer.




Die Wunder des gewöhnlichen Spiegels.[1]

Von Fr. Jos. Pisko.

Wer kennt sich selbst? Von allen Seiten tönt ein „Ich!“ als Antwort; aber die Wahrheit schüttelt den Kopf dazu und die Satire verzieht den Mund. Es lag eine richtige Erkenntniß menschlichen Wesens darin, daß sich die Mächtigen der Erde Narren hielten – Narren, Kinder und gewöhnliche Spiegel sagen die Wahrheit, weil sie alle drei geradezu, unverfälscht und unverzerrt das Empfangene symmetrisch zurückgeben.

So arg es auch von Natur aus mit der Selbstwahrnehmung


  1. Die Benützung der diesem Original-Artikel beigegebenen Illustrationen verdanken wir der Freundlichkeit der R. Oldenbourg’schen Buchhandlung in München, in deren Verlag eine vortreffliche naturwissenschaftliche Volksbibliothek erscheint und die als zweiten Theil derselben soeben das Buch: „Licht und Farbe. Eine gemeinfaßliche Darstellung der Optik“ von Prof. Dr. Franz Jos. Pisko ausgegeben hat. Die Verlagshandlung hat damit schon den Beweis geliefert, wie ernst es ihr mit dem in ihrem Prospect ausgesprochenen Streben sei, das Studium und die Erkenntniß der Naturkräfte, die der Mensch sich unterworfen, oder mit denen er noch im Kampfe ringt, in möglichst weiten Kreisen anzuregen. Und zwar soll dies in einer Art geschehen, die sich ebenso sehr von dem trockenen Tone schulmeisterlicher Belehrung, wie von der geschwätzigen Weise verständnißloser Verflachung fernhält. Daß die Verlagshandlung ihren Zweck erreichen wird, dafür bürgen die ausgezeichneten Kräfte, die sie gewonnen hat und von denen wir nur Radau in Paris (der Schall), Cazin in Versailles (die Wärme), Lommel in Erlangen (Wind und Wetter), Zech in Stuttgart (die Himmelskunde), Carl in München (die Elektricität) und Reitlinger in Wien (der Zusammenhang der Naturkräfte) nennen. Wir können darum den Schulen, wie den Familien das ganze Unternehmen, das ein neuer Vorkämpfer für Licht, Aufklärung und Wahrheit zu werden verspricht, in so dringender Weise empfehlen, als wir namentlich auf das ebenso gründlich, als allgemein verständlich und interessant geschriebene Buch des Herrn Verfassers unsers heutigen Artikels aufmerksam machen.
    Die Redaction.
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1869, Seite 749. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_749.jpg&oldid=- (Version vom 29.11.2022)