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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

Literaturbriefe an eine Dame.

Von Rudolf Gottschall.
I.

Wie beneide ich Sie, Madame, um Ihre naturfrische Einsamkeit am Strande der Ostsee, um den weiten Blick in die dämmernde Meeresferne, um die wechselnden Bilder, welche bald die endlos gedehnte, ruhige Spiegelfläche der See, bald ihr stürmischer Wogenschlag, in der mannigfachen Beleuchtung der Morgen- und Abendröthen, der sternenhellen Nächte und des flammenden Wettergewölks dem Auge darbieten! Und dabei liegt Ihr Schloß, wenn auch gebaut auf dem Strandhügel, der das Meer beherrscht, doch so traulich gebettet im Schatten der Eichen des alten heidnischen Donnergottes, ist so freundlich umrankt von Epheu und wilden Weinreben, wendet rückwärts den Blick mit so heimlichem Genügen auf die gepflegten Baum- und Blumengruppen des weiten Parkes, daß sich für ein dichterisches Gemüth kein schöneres Asyl denken läßt und daß es keinem Poeten zu verargen ist, der sich hier Hütten bauen wollte!

Ruhe – Einsamkeit! Es sind ja unersetzliche Güter für den Dichter in dieser Zeit des Schnellpressendrucks, der auf der ganzen Menschheit lastet! Wo soll die eigene Seele Genüge finden unter diesen Bergen von Maculatur, welche die rastlose Production um uns anhäuft?

Sie sind glücklich; Sie haben Ihre Blumen und Ihre Classiker und kümmern sich nicht um den schaumspritzenden Wogenschlag der Tagesliteratur. Nicht gestört von der Unruhe des Werdenden, erfreuen Sie sich des sichern Besitzes, den die anerkannten großen Dichter unserer Nation hinterlassen haben. In jenem reizenden Cabinet, welches Blumen, Bilder und Bücher mit seelenvoller Harmonie erfüllen, während der Blick durch das Bogenfenster auf die weitrauschende See das geistige Stillleben vor engherziger Beschränktheit sichert, schlagen Sie Ihren Schiller und Goethe auf, wenn Sie der Sprache der Dichtkunst lauschen, wenn Sie Sinn und Herz emporranken wollen an jenen unsterblichen Meisterwerken, welche noch vielen Geschlechtern zum Segen gereichen werden. Was Sie sinnen und träumen über das Menschenleben und das Weltgeheimniß, finden Sie hier in mustergültiger Weise ein für allemal ausgesprochen. Was bleibt da den Spätergebornen übrig, als nachzustammeln, was jene bereits in begeisterten Orakelsprüchen der Welt verkündet haben? Sie können es sich nicht vorstellen, daß die Literatur der Gegenwart eine andere Aufgabe hat als die Aehrenlese auf den Feldern, die unsere Classiker abgeerntet haben.

Und doch dringt, wie fernes Wogenrauschen, ein Echo der neuen literarischen Bewegung auch in Ihre Einsamkeit; doch hören Sie bei zufälliger gesellschaftlicher Berührung diesen oder jenen Namen mit einer Pietät und Begeisterung nennen, die Sie befremden, ja erzürnen muß, denn solche Huldigungen, dargebracht einem jüngeren Geschlecht, erscheinen Ihnen wie ein an unseren Classikern verübter Raub.

So wenden Sie sich an mich mit der Frage, was es mit dieser neuern Literatur für eine Bewandtniß habe? Es ist kaum Wißbegierde, die Sie diese Frage thun läßt; es ist der kleine weibliche Dämon der Neugierde, der Sie aus Ihrem ruhigen Behagen aufstört. Sie werden meine Antwort auf Ihre Frage mit ungläubigem Kopfschütteln vernehmen, denn Sie sind von vornherein gewaffnet gegen jede Anerkennung neuer Dichtwerke. Doch erfahren möchten Sie gern, welche Zwerge in den Harnisch unserer geistigen Riesen zu schlüpfen wagen!

Und doch hat Niemand mehr Grund, sich über den endlosen Faden, den unsere Literatur fortspinnt, zu ärgern, als der unglückliche Kritiker, der sich vor der Sündfluth der alljährlich erscheinenden Romane kaum zu retten weiß, der unter den Rosen der Lyrik verschüttet wird wie die Opfer des römischen Tyrannen Heliogabalus, welchem der Schattentanz der unaufgeführten Buchdramen, dieser nach Leben dürstenden Gespenster, alle Sinne verwirrt. Dann stürmen noch die Denker auf ihn ein mit ihren neuen Systemen, die Geschichtschreiber, welche ihm den Staub aus allen Archiven in’s Gesicht fegen, und vor Allem die Literarhistoriker, welche aus den Papierkörben unserer Classiker einen großen Papierdrachen zusammenstückeln und in die Luft steigen lassen, welche aber für die Dichter der Gegenwart nur ein verächtliches Achselzucken übrig haben, ganz wie Sie, Madame!

Sie haben lebhafte Phantasie und warmes Gefühl! Sie können sich hineinversetzen in die Stimmung eines Kritikers, dem diese dicken Bände, diese gespenstigen Lettern, diese durch die Magie der Druckerschwärze in’s Leben gezauberten Geister den freien Blick in die Welt versperren, so daß er mit Faust ausrufen möchte:

Statt der lebendigen Natur,
Wo Gott die Menschen schuf hinein,
Umgiebt in Staub und Moder nur
Dich Thiergeripp und Todtenbein.

Gern möchte er diesen Geisterspuk vergessen – ein Blick auf Ihre Blumen, in Ihre Augen, ein Blick auf das weite Meer – und er würde genesen; er würde glauben lernen an ein frisches Leben, das nichts mit Tinte und Druckerschwärze, nichts mit der Druck- und Buchbinderpresse zu thun hat, während ihm jetzt, bei der unheimlichen Verdüsterung durch die aufgestapelten Büchermassen, die ganze Welt oft wie Maculatur erscheint, die man einzustampfen vergessen hat.

Gleichwohl, Madame, theile ich nicht Ihre Geringschätzung der neuen Talente unserer Literatur, eine Geringschätzung, die bei Ihnen nur aus Vorurtheil oder Unkenntniß hervorgeht; ich habe unter den Erzeugnissen der letzten Jahrzehnte des Guten und Trefflichen so viel gefunden, so viele lichte Intervalle in dem Wahnsinne einer unberufenen Production, daß ich selbst mein Unbehagen, meinen Unwillen über die rastlose kritische Arbeit, den Augiasstall zu räumen, vergaß über der Hingabe an das Gelungene, an das Schöne, das unserer Zeit nicht fremd ist; daß ich erkannte, es sei thöricht, der Entwickelung eines Volkes Grenzen setzen zu wollen, gegen die Talente, die Genien der Zukunft, die aus unerschöpflichem Füllhorn neue Blüthen und Früchte in den Schooß der Nationen streuen, von vornherein eine Quarantaine zu errichten. Auch in unserer classischen Blüthenzeit hat nicht jedes Jahr ein unsterbliches Gedankenwerk gezeitigt – wie sollten wir von jedem Jahrgang der Gegenwart ein geistiges Erzeugniß verlangen, das sie zu überleben vermöchte? Erfreuen wir uns des Gelungenen und überlassen wir der Zukunft die vergleichende Werthschätzung der modernen und der classischen Dichter. Das Schaffen der ersteren ist noch nicht abgeschlossen, und auch den letzteren stehen wir noch zu nah, um ihre Größe messen zu können.

Von diesem Standpunkte aus bin ich gern bereit, Ihnen über die neuen Erscheinungen unserer Literatur hin und wieder Bericht zu erstatten, Sie hinzuweisen auf das Bedeutende, das auch in diesem verketzerten Zeitalter der materiellen Interessen eine geistige Blüthe ankündigt, aber auch auf das Verfehlte, auf die mannigfachen Verirrungen unserer Dichtung, welche zum Theil sich des Beifalls der Zeitgenossen erfreuen. Denn wenn ich auch unsere Literatur nicht in Bezug auf die ursprüngliche, überwuchernde Schöpfungskraft mit einem Urwald vergleichen will, so hat sie doch manche bedenkliche Aehnlichkeit mit der genialen Pflanzendichtung der tropischen Natur, namentlich was die in allen Farben spielende Buntheit der Blüthen und die zahllosen Schlinggewächse betrifft, welche sich um die festen Stämme ranken.

Vielleicht, Madame, gelingt es mir, Sie zu bekehren und Ihnen Theilnahme einzuflößen für das Geschlecht nachstrebender Dichter, während Sie jetzt blos Mitleid mit den Poetlein hegen, die sich auf die Zehen stellen, um unsern großen Dichtern über die Achsel sehen zu können. Besser noch würde es mir gelingen bei mündlichem Gespräch, Aug’ in Auge; ich würde den Trotz beschwören, der Ihre Lippen kräuselt, denn dazu genügt oft ein „geflügeltes Wort“. Die geflügelten Worte aber lassen sich nicht commandiren, sie sind Funken der Begeisterung und des Witzes, welche nur in der Atmosphäre des frischen Lebens, des Geistes, der Schönheit entstehen. Freilich, es giebt erkältende Schönheiten, gefrorene Gesichter, denen gegenüber auch der Geist gefriert. Doch in Ihrer Nähe, Madame, ist Alles Licht und Leben und selbst der

beschränkteste, der aschgraueste geistige Horizont würde versuchen zu

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 745. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_745.jpg&oldid=- (Version vom 29.11.2022)