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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

welche sich überall da in übermäßig gesteigerter Weise geltend macht, wo der beherrschende und beruhigende Einfluß des Gehirns aufgehoben oder beeinträchtigt ist. In ähnlicher Weise ist die Reflexthätigkeit in den Muskeln eines decapitirten oder enthirnten Frosches derart gesteigert, daß schon eine mäßige Erschütterung des Tisches, auf dem er liegt, ihn zu Zuckungen veranlaßt.

Die stete Unruhe und Ungeberdigkeit der Helene Becker und ihre Empfindlichkeit gegen jedes Anfassen sind so bedeutend, daß es mir sehr schwierig wurde, die Maße ihres Kopfes zu nehmen, und diese Unruhe drückt sich auch in dem auffallenden Mangel an Schlaf aus. Das Kind schläft fast gar nicht, wenigstens nie in dauernder Weise, und das geringste Geräusch weckt es wieder auf. Dieses, sowie der Umstand, daß es Alles unter sich gehen läßt, und daß es künstlich ebenso gefüttert werden muß, wie ein einjähriges Kind, macht die Pflege für ihre Elteru zu einer sehr schwierigen. Trotz dieser Pflege jedoch ernährt sich der Körper schlecht, die Eigenwärme ist gering, Arme und Beine sind mager, fühlen sich kalt an und haben ein blaurothes Ansehen. Die beiden Handwurzelgelenke zeigen überdem sogenannte rhachitische Auftreibung, die Fußgelenke dagegen nicht.

Die geistige Thätigkeit der Helene Becker kann fast gleich Null angesehen werden. Die Sinne sind zwar thätig, mit Ausnahme des einen erkrankten Auges, aber sie wecken keine Vorstellungen. Der Blick ist stier, geist- und ausdruckslos und kann Nichts fixiren. Nur der Anblick glänzender Gegenstände und das Hören von Musik, für welche letztere die Helene Becker sehr empfindlich ist, wecken ihre Aufmerksamkeit. Sie lacht nicht, schreit aber und stößt statt der Sprachlaute unarticulirte, thierische Töne hervor.

Da die Helene Becker in größeren Städten öffentlich gezeigt wird (wobei nur zu bedauern ist, daß durch marktschreierische Ankündigungen bei vielen Menschen der Glaube erweckt wird, es handle sich um ordinären Schwindel), so werden die meisten Leser der Gartenlaube Gelegenheit haben, sich durch Augenschein von ihrem Zustande zu überzeugen. Anders verhält es sich mit einem zweiten Kinde ähnlicher Art, welches vor drei Jahren in einer hiesigen Familie geboren wurde, und welches ich Gelegenheit hatte, vom Tage seiner Geburt an bis heute fortdauernd zu beobachten. Zwar ist Sophie L… nicht in so eminentem Grade mikrocephal oder kleinköpfig, wie Helene Becker. Der Umfang ihres Kopfes beträgt sechszehn drei Viertel Zoll, das Längsmaß zehn und einen halben Zoll, das Quermaß zehn Zoll – und sie nimmt daher bezüglich ihrer Kopfgröße beinahe die Mitte zwischen der Helene Becker und meinem Söhnchen Wilhelm, dessen Kopfmaße ich vorhin anführte, ein. Auch ist ihre Stirn bei Weitem nicht so klein und zurückfliehend. Dagegen ist ihr Hinterhaupt sehr abgeflacht, und der Schädel ist, wie bei der Helene Becker, von der Mitte nach beiden Seiten abfallend oder in geringem Grade dachförmig. Als das Kind zur Welt kam, war die Kleinheit seines Kopfes wenig auffallend, und man konnte noch nicht vollständig ahnen, was sein späteres Schicksal sein werde. Auffallend war uns, daß die sogenannten Fontanellen oder die offenen Stellen in der knöchernen Schädelkapsel, welche bei gesunden Neugeborenen nie fehlen, geschlossen waren. (Auch die Helene Becker kam mit geschlossenen Fontanellen zur Welt.) Je älter jedoch das Kind wurde, und je mehr sein Wachsthum zunahm, um so deutlicher erschien das Mißverhältniß seines Kopfes zur Größe seines Körpers, indem letzterer zunahm, der Kopf aber nicht. Es besteht ein beinahe absoluter Stillstand im Wachsthum der Schädelkapsel. Ein Hütchen, das die Eltern dem Kinde vor nun anderthalb Jahren kauften, paßt heute noch vollständig; und sogar ein solches, welches dasselbe als vierteljähriges Kind trug, kann ihm zur Noth heute noch aufgesetzt werden. Dieses Fehlen des Wachsthums der Schädelkapsel besteht auch bei der Helene Becker. Wenigstens behaupten die Eltern, daß der Kopf derselben seit der Geburt gar nicht gewachsen sei. Ganz richtig mag dieses indessen nicht sein. Wenigstens betrug eine Messung des Kopfumfanges, welche Professor Schaafhausen vor nun beinahe drei Jahren bei der Helene Becker vornahm, einen Zoll weniger, als die meinige.

Nach Aussage der Eltern der Sophie L… soll sich das Kind bis zum vierten Monat entwickelt haben, von da aber in seiner Entwickelung stehen geblieben sein. Eine sehr gute Entwickelung zeigt das Zahnsystem der Sophie L…, namentlich bezüglich der Eckzähne, welche stark und über die übrige Zahnreihe etwas emporstehend sind, dagegen ist von sogenannter Schiefzähnigkeit nichts zu bemerken.

Einen sehr bedeutenden Unterschied in der Gesichtsbildung der Sophie L… im Vergleich mit der Helene Becker macht neben der mehr vortretenden Stirn und der nicht so sehr hervorstehenden Nase das ziemlich gut entwickelte Kinn, welches ja bekanntlich von Linné neben dem aufrechten Gang als das eigentliche Charakteristicum der Menschlichkeit oder als Hauptunterscheidungs-Merkmal zwischen Mensch und Thier bezeichnet worden ist. Daher macht auch die allgemeine Form des Gesichtes der Sophie L… nicht jenen überaus thierähnlichen oder vogelartigen Eindruck, wie bei der Helene Becker, trotz der sonstigen großen Aehnlichkeit der beiden Physiognomieen. Namentlich hat das Auge der Sophie L… fast ganz denselben leeren, geistlosen Ausdruck, wenn es auch freundlicher erscheint. Auch verzieht sie das Gesicht zum Lächeln, wenn sie angenehm erregt wird, was durch Zurufen, Vorhalten glänzender Gegenstände oder Musik geschehen kann. Dagegen steht sie in beinahe allen anderen Beziehungen fast ganz auf der Stufe des Becker’schen Kindes, wobei allerdings auch der Unterschied des Alters in Rechnung zu bringen ist. Sie kann nicht stehen, nicht gehen, nicht allein essen oder trinken, Nichts mit den Händen ergreifen oder festhalten, nicht sprechen, ihre Bedürfnisse nicht anhalten etc. Sie kann nur schreien und unnatürliche Laute ausstoßen, ist wenig empfindlich gegen Schmerz, aber sehr zum Zorn geneigt, und von einer großen Sucht zum Beißen beseelt. Ihre Beine und Arme sind schwach, mager, schlecht ausgebildet, aber ohne Spur von Rhachitis, fühlen sich immer kalt an und zeigen eine blaurothe Färbung. Ihr Schlaf ist schlecht und kurz und muß meist durch Opium erzwungen werden; sie wacht sehr leicht auf. Die Sinne sind gut; sie hört und sieht deutlich; aber von einer durch dieselben erweckten geistigen Thätigkeit ist beinahe Nichts zu bemerken.

Das Kind macht sehr viel häusliche Pflege nöthig und wird wohl in einer Anstalt untergebracht werden. Es hat ein anderthalb bis zwei Jahre altes Schwesterchen, welches ganz gesund und körperlich, wie geistig durchans gut entwickelt ist.

Offenbar gehören beide Kinder, die Sophie L…, wie die Helene Becker, ganz in eine und dieselbe Kategorie der Mikrocephalie oder Kleinköpfigkeit, und unterscheiden sich nur dem Grade nach. An Kindern wie die Sophie L… oder mit noch geringer entwickeltem Kleinkopf wird es wohl in keiner Stadt oder Gegend fehlen, während die Helene Becker gewiß zu den sehr seltenen Exemplaren ihrer Gattung zählt.

Es kann nicht Sache der Gartenlaube sein, über die Entstehungsweise dieser traurigen Abnormität des Menschengeschlechtes sich weiter zu verbreiten; Professor Virchow spricht sich entgegen einer Aeußerung des Prof. Schaafhausen von Bonn dahin aus (19. Juni 1867), daß, obgleich er nicht zweifle, daß Synostosen oder Verwachsungen der Schädelnähte vorhanden seien, ihm doch eine ursprüngliche Mangelhaftigkeit in der Gehirnentwicklung vorzuliegen scheine. Damit nähert sich Virchow’s Gutachten der Vogt’schen Theorie; denn die Annahme einer ursprünglichen Mangelhaftigkeit in der Gehörentwickelung oder die Annahme einer sogenannten Bildungshemmung ist nothwendig, wenn man die Kinder als Beispiele für die im Eingang des Aufsatzes beschriebene atavistische oder „Ahnenbildung“ gelten lassen will. Mag sich indessen dieses verhalten, wie es wolle, so glaube ich jedenfalls annehmen zu dürfen, daß die Leser der Gartenlaube vorstehenden Bericht nicht ohne einiges Interesse und ohne einige Belehrung über die merkwürdigen und in ihrem inneren Wesen bis jetzt noch so räthselhaften Zusammenhänge zwischen dem menschlichen Denk- und Seelenvermögen und seinem nothwendigen materiellen Organ, dem Gehirn, gelesen haben werden!



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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 698. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_698.jpg&oldid=- (Version vom 5.11.2022)