Seite:Die Gartenlaube (1869) 682.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

Geiz, den man ihr vorwarf, die von 1801 bis 1814 in Lissabon und London gesammelten Schätze nicht mehr ausreichen wollten, und daß sie es für nöthig befand, noch im Jahre 1827 ihren europäischen Ruf auf’s Spiel zu setzen. Indeß wurde die Kühnheit durch guten Erfolg gekrönt. Sie sang viermal im k. Opernhause, den 6., 12., 22. April und am Bußtage den 8. Mai – außerdem einmal in der Garnisonkirche – im Ganzen sechszehn Arien, darunter zwei aus Händel’s Messias und zwei von Mozart (die Sextusarie „parto“ und auffallender Weise Figaro’s Baßarie „non piú andrai“), die übrigen Nummern von meist unbekannten wälschen Componisten, und als Zugabe einmal das „Rule, Britannia!“ Sie gehörte durch und durch der alten italienischen Schule an, ohne jedoch alles das vollendet machen zu können, was diese ausgeführt haben will; so zum Beispiel war ihre Kehlfertigkeit nicht bis zu dem Grade gebildet, um Mozart’s Coloraturen brillant hervortreten zu lassen; aber die wunderbar sympathische und noch immer – obgleich minder als ehedem – kräftige Stimme übte einen hinreißenden unwiderstehlichen Zauber aus, der zum Theil auch begründet war in dem Stylvollen ihres Gesanges. In solcher Weise hatte man seit Jahren nicht mehr singen hören; es war eine ausgesprochene und abgeschlossene Individualität mit einer absonderlichen und grandiosen Methode, die hier dem Publicum anfänglich vielleicht befremdend, dann aber immer gewinnender gegenüber trat. Das englische Volkslied „Rule, Britannia!“ schlug selbst ohne alle politische Veranlassung in einer Weise durch, wie man es in Deutschland nicht für möglich halten sollte; in London hatte die Catalani es bekanntlich immer zur Ermuthigung vortragen müssen, wenn die Nachrichten von neuen Napoleonischen Siegen auf dem Continent eine zaghafte Stimmung unter den Insulanern Platz greifen ließen.

Am Concertabend des 22. April, als sie das Lied im königlichen Opernhause singen sollte, begab sich ein komisches Intermezzo, dessen Hauptacteur heute noch Mitglied des Berliner Hoftheaters ist. Das Publicum war durch die öffentlichen Blätter schon mehrmals auf das God save the king der Catalani hingewiesen worden, und so wurden Wünsche laut, die auch zum Ohr des Intendanten Grafen Brühl drangen. Dieser fühlte sehr richtig, daß ein reglementmäßig vorgeschriebenes „Heil Dir im Siegerkranz“, wenn auch ohne deutschen Text, doch im Hoftheater, mit Ausnahme an den bezüglichen Festtagen, und namentlich bei dem allen Demonstrationen abgeneigten Sinn des alten Königs, leicht Anstoß erregen könnte. Es wurde aber verabredet, daß die Catalani eine italienische Arie mit begleitendem Männerchor als vorletzte Nummer des Programms, und hinterher das auf dem Zettel angekündigte Finale „Rule, Britannia!“ vortragen sollte. Die Herren vom Chor erhielten in der Probe die Ordre, ruhig während des englischen Volksliedes stehen zu bleiben, damit für den Fall, daß gleich darauf die preußische Nationalhymne vom Publicum verlangt würde, die Wiederholung des zweiten Theils mit vollem Chorus gesungen werden könnte. Zu größerer Sicherheit probirte man Vormittags dies Arrangement, und Abends ertönte a tempo regolato aus Parquet und Logen der Ruf: „Heil Dir im Siegerkranz.“ Nun gab es schon damals in Berlin, wie jetzt noch, unter den Theatersängern sogenannte Bratenbarden, und einer derselben hatte für den Vormittag Urlaub zu einer Festivität nach Charlottenburg bekommen, aber des Abends sollte er zur italienischen Arie wieder zurück sein. Er kam auch, jedoch etwas angeheitert und zu spät; denn die Arie war vorüber, und „Rule, Britannia!“ war vorüber, und eben sollte das Ritornell zur quasi improvisirten Schlußnummer beginnen. Da erblickt der auf der Bühne inspicirende Director Leidel den mit einer riesenmäßigen Baßstimme begabten, zwischen den Coulissen rathlos umherwankenden Spätling, und um dessen kräftige Unterstützung nicht entbehren zu müssen, ruft er ihm zu: „Hierher, mein Junge, Heil Dir im Siegerkranz!“ Gesagt, gethan; während das Orchester unter Möser’s Leitung die ersten sechs Tacte als Ritornell spielt, hat sich der weiter nicht instruirte junge Mann zu seinen Collegen herangedrängt, und in dem Augenblick, da Angelica den Mund öffnen will, schnappt er ihr den Bissen fort, und mit seinem bärenhaften Organ intonirt er plötzlich aus dem Fond der Bühne ganz solo: „Heil Dir im …“; weiter kam er nicht, denn schon merkte er den Fauxpas und verflüchtigte sich eben so rasch, als er sich versammelt hatte. Es dauerte eine Weile, bis die erschrockene Catalani, im weißen Atlaskleide und eine schwankende Reiherfeder auf dem Haupte, sich wieder so weit erholte, um mit gewohntem königlichem Anstand ihr God save the king vortragen zu können.

Zu ihr nun wurde ich vom Concertmeister Möser geführt und als derjenige vorgestellt, welchen er für fähig und willig befunden, die skandinavische Kunstreise anzutreten. Nachdem ich mich auf Verlangen sofort an den Flügel gesetzt und aus vergilbten Partituren zwei alte italienische Arien (von Cordella und Cianchettini) accompagnirt hatte, schien die Primadonna mit ihrem künftigen Correpetitor und Capellmeister zufrieden, denn ich wurde gleich für einen der nächsten Abende zum Concert im Sommerpalais des Herzogs von Cumberland, des spätern Königs Ernst August von Hannover, beordert, wozu sie mir vertrauensvoll jede Probe erließ, da sie selber noch nicht wußte, was die königliche Hoheit commandiren würde. Schon am Morgen des folgenden Tages erhielt ich vom Kammerjunker des Herzogs, dem späteren Hofmarschall von Linsingen, eine officielle Einladung, um acht Uhr in Schönhausen zu erscheinen. Berlin selbst kannte ich sehr genau, aber die Umgegend war mir damals sogar bis auf die Namen eine terra incognita. Mit vielem Behagen schlürfte ich auf dieser Tour zum Hoflager im Vorgefühl künftiger Reiseabenteuer die laue Maienabendluft ein und ergötzte mich daran, zum ersten Mal die Potsdamer Chaussee in nähern Augenschein zu nehmen, welche ich bis dahin immer nur bei Gelegenheit der Schulgarten- und Kemperhof-Concerte dicht vor dem Thore betreten hatte. (Auch der Kemper Hof, wie so viele andre Höfe, existirt nicht mehr; vor etwa zehn Jahren mußte er mit seinen schönen alten Bäumen der Victoriastraße weichen, und wo sonst die Orchestertribüne stand, erhebt sich jetzt ein hohes palastähnliches Gebäude, und in ihm als Ersatz für all die verscheuchten, ehemals dort heimischen Singvöglein hat Pauline Lucca ihr Nest aufgeschlagen.)

Endlich hält meine offne Mieths-Equipage vor einer großen Mauer; ich frage den Kutscher, wo denn das Schloß liege – aber er bestreitet, daß in Schöneberg ein Schloß existire, hier gebe es nur den botanischen Garten, sonst nichts. „Und das Schloß des Herzogs von Cumberland?“ „Ja, du lieber Himmel, das ist gar nicht in Schöneberg, das ist in Schönhausen.“ In der Geschwindigkeit hatte ich Süden und Norden verwechselt! Die Pferde wurden getränkt, und nun ging’s in möglichster Eile durch die ganze Stadt zurück, zum entgegengesetzten Ende wieder heraus und nach dem eine Meile von Berlin hinter Pankow gelegenen Schönhausen, wo ich denn möglichst bestaubt vor dem königlichen Palais abstieg.

Die Gesellschaft saß im Garten um einen großen runden Tisch versammelt; die Catalani lebhaft sich unterhaltend zwischen dem Herzog und dessen Gemahlin, einer Schwester der Königin Louise von Preußen. Als ich von einem Kammerdiener durch das Schloß geführt in’s Freie hinaustrat, bemerkte mich die Catalani zuerst und theilte mein Vorhandensein einer der jüngern Damen mit, welche sehr verbindlich mir entgegenkam und mich ohne weitere Vorstellung an den kleinen Theetisch brachte, auf welchem die Maschine brodelte. Dieses junge hübsche Fräulein, eine Prinzessin von Solms-Braunfels und Tochter der Herzogin aus deren erster Ehe, bediente mich auch selber und sprach über die projectirte Reise nach Kopenhagen etc., wofür ich ihr meine so eben überstandene Irrfahrt nach Schöneberg erzählte; dann aber ging sie zu dem großen Tisch zurück, und ich blieb nun mutterseelenallein, ohne mich in nächster Nähe des Hofes selbstständig bewegen zu können.

Diese erbarmungswürdige Existenz weckte das Mitleid eines schönen achtjährigen Knaben, der bis dahin abwechselnd auf dem Schooß der Catalani gesessen oder sich auf den Knieen seines Vaters, des alten Herzogs, geschaukelt hatte. Er kam auf mich zu und sagte: „Folgen Sie mir, ich werde Ihnen den Park zeigen.“ Mein kleiner Führer nahm mich bei der Hand, und that, wie er verheißen. Aber der Park war, und ist noch heutigen Tages, sehr unbedeutend; es gab nicht viel zu sehen … und so fing denn das Kind an von seinen Reisen zu erzählen, das heißt der junge Prinz beschrieb mir die Costüme aller Postillone in den kleinen deutschen Staaten, welche er kürzlich mit seinem Papa besucht hatte. Dabei aber ließ er jene interessanten Menschen in dreifacher Erscheinung – in Stalljacke, gewöhnlichem Dienstanzug und Paradeuniform – vor meine Phantasie treten; und das ging nun durch die anhaltiner Länder: Dessau, Cöthen, Bernburg, durch Reuß: Greiz, Schleiz und Lobenstein, durch Coburg, Gotha, Hildburghausen und durch Altenburg immer tiefer hinein in’s heilige römische Reich, vom Stiefel mit Sporn bis zum Hut mit Federbusch.

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1869, Seite 682. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_682.jpg&oldid=- (Version vom 1.11.2022)