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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

und Lichtstärke ungeachtet, die Sonne nicht zu ersetzen vermögen, verbreiten sie doch Helle genug, um Vollmondschein nachzutäuschen und den Beobachter in den Stand zu setzen, jeder Bewegung des betreffenden Thieres zu folgen, jede ersichtliche Lebensäußerung desselben wahrzunehmen. In derartig beleuchteten Käfigen erscheinen die Nachtthiere, nachdem sie einmal völlig munter geworden, ganz anders, als man es sich hat träumen lassen. Man lernt selbst in solchen, von denen man sich wenig versprach, theilnahmwerthe Geschöpfe kennen und entdeckt an anderen eine Lebhaftigkeit, Beweglichkeit, Anmuth und Behendigkeit, von welcher man keine Ahnung hatte. Alles Spukhafte, welches man ihnen insgesammt nachgeredet, verschwindet wie immer und überall vor dem Lichte, und das Natürliche tritt in seine ewigen Rechte. Zu einzelnen gewinnt man bald eine Zuneigung, welche fast parteilich machen kann.

Unter diese letzteren zähle ich, seitdem ich sie einigermaßen kennen gelernt, die Flug- oder Flatterhörnchen, die sich bekanntlich von ihren nächsten Verwandten, den Eichhörnchen und Schlafmäusen oder Bilchen, durch einen Fallschirm unterscheiden, welcher sich als eine Haut zwischen den vorderen und hinteren Beinen ausspannt und beiderseitig behaart ist. Bei einigen Arten erstreckt sich diese Hautwucherung auch über die Gegend zwischen Vorderarm und Hals und Hinterschenkel und Schwanz. Die Haare des letzteren sind entweder zweizackig geordnet oder wie bei dem Eichhörnchen buschig gestellt. Asien beherbergt die meisten, Amerika einige Arten; Europa und zwar der hohe Norden besitzt ebenfalls ein Mitglied der Sippe.

So weit unsere Beobachtungen reichen, sind alle Flughörnchen entschieden Nachtthiere, welche über Tage einzeln oder in Gesellschaften in ausgepolsterten Baumhöhlen ruhen und erst längere Zeit nach Sonnenuntergang ihren Geschäften nachgehen. Ueber ihr Treiben und Gebahren haben wir bis jetzt nur dürftige Nachrichten erhalten können. In Südasien hindert die während ihres Wachseins herrschende Dunkelheit die Beobachtung; im hohen Norden, wo die Mitternachtssonne jene mindestens erleichtern könnte, fehlen die Beobachter. Wir wissen, daß unsere Thierchen erstaunlich gewandt auf den Bäumen umherklettern und von oben nach unten Sprünge von dreißig Fuß Weite und darüber ausführen können, von allerlei Pflanzenstoffen sich ernähren und während des Sommers oder im Frühlinge der betreffenden Heimath zwei bis vier wenig entwickelte Junge zur Welt bringen, denen die Mutter ein warmes und weiches Nestchen bereitet und sorgliche Pflege angedeihen läßt, bis sie im Stande sind, für sich selbst zu sorgen. Die im Norden der Erde lebenden Arten halten einen unterbrochenen Winterschlaf während diejenigen, welche in milderen oder heißen Ländern zu Hause sind, jahraus, jahrein annähernd dieselbe Lebensweise führen. Hier und da ködert man sie mit ihrer Lieblingsnahrung, fängt sie und verwendet Fleisch und Fell, so zart und hinfällig auch letzteres ist, oder versucht, einen und den anderen Gefangenen zu zähmen, wenigstens in Gefangenschaft zu halten. Dies ist, kurz in Worte gefaßt, so ziemlich Alles, was wir wissen.

Unser nordeuropäisches Flughörnchen, die Ljutaga der Russen gelangt höchst selten lebend auf den Thiermarkt, während uns der Assapan der Nordamerikaner alljährlich in mehreren Stücken gesandt wird, sich leicht halten läßt und ausdauert. Seine Leibeslänge beträgt etwa fünf, die Schwanzlänge vier Zoll; die Rückenfärbung spielt von Gelbbraun in Aschgrau, die Bauchfärbung von Weiß in Gelb; die Flug- oder richtiger Fallschirmhaut ist vor dem weißlichen Saume schwarz gebandet.

Dem Beobachter, welcher noch wenige kleine Nager in Gefangenschaft gehalten, oder Dem, welcher sich mit flüchtiger Besichtigung begnügen zu dürfen glaubt, scheinen die Flughörnchen wenig zu versprechen. In dem mit Heu oder Wolle ausgepolsterten Versandkistchen, welches sie vom Händler bringt, liegen sie, so verborgen als möglich, dicht nebeneinander zusammengeknäuelt im tiefsten Schlafe und gestatten, ohne sich zur Wehre zu setzen, dummgutmüthig jede Maßnahme. Von der albernen Wuth eines Siebenschläfers, welcher mit heftigem Schnauben und Schnarchen jede Behelligung zurückweist, bemerkt man bei ihnen Nichts; sie lassen Alles über sich ergehen: sich in die Hand nehmen, drehen, wenden, besichtigen, auf eine bestimmte Stelle setzen, wieder wegnehmen etc., ohne von ihrem scharfen Nagergebiß Gebrauch zu machen. Auch die ersten Spätabende, welche man der Beobachtung widmet, befriedigen nicht. Die Flughörnchen kommen zwar gegen neun Uhr Abends zum Vorschein, um zu fressen und zu saufen, bekunden jedoch eine Unsicherheit und Aengstlichkeit in ihrem Wesen, welche wenig für sie einnimmt. „Hübsche, aber langweilige Thierchen“ lautet der Ausspruch des Unbefriedigten; „Kletterthiere mit wenig Instinct“ läßt sich die billige Weisheit Anderer vernehmen.

Aber man beobachte nur weiter und man wird bald zu anderen Anschauungen gelangen. Das zum Klettern „bestimmte“ Thier zeigt seine Kunstfertigkeit aus dem sehr einfachen Grunde noch nicht in voller Ausdehnung, weil ihm der gerühmte „Instinct“ über die Neuheit der Lage durchaus nicht hinweghilft, weil die Reise es ängstlich gemacht, es sich im Käfige noch nicht eingerichtet hat, ihm Alles noch fremd erscheint. Sein Gedanken- und Ideenkreis beschränkt sich auf das Gebiet der bisher erworbenen Erfahrungen und muß sich den neuen Verhältnissen erst anpassen – ganz ebenso, wie es bei dem mit Vernunft begnadeten Menschen unter entsprechenden Umständen der Fall. Unser Thierchen bedarf also einer geraumen Zeit, um alles ihm Neue zu prüfen und geistig zu verarbeiten, mit einem Worte, um sich einzugewöhnen. Zum Ruhme muß man ihm nachsagen, daß es sich schneller in die veränderten Umstände findet als viele Menschen in die neuzeitlichen Verhältnisse: schon einige Tage nach Besitznahme der neuen Wohnung sind die Flughörnchen mit ihr und der Umgebung vollständig vertraut und kennen Alles, was zu kennen nöthig. Und nunmehr endlich zeigen sie sich als Das, was sie sind.

An dem oberen Rande des Schlafkastens wird ein rundes Köpfchen sichtbar, und große, stark gewölbte Augen überschauen sorgsam prüfend das Innere des Käfigs. Dem Köpfchen folgt der übrige Leib; das Thierchen sitzt frei auf der schmalen Kante seiner Lagerstätte. Seine Stellung ist derjenigen, welche das Eichhörnchen gewöhnlich einnimmt, sehr ähnlich; der Vorderleib wird jedoch etwas mehr gesenkt, der Schwanz nicht so dicht an den Rücken gelegt als von jenem; die Hautfalte hat sich zusammengezogen und bildet eine anmuthig geschwungene Linie, welche um so schärfer hervortritt, als das sichtbar gewordene Weiß durch das schwarze Band dahinter recht zur Geltung kommt. Die kleinen Ohren haben sich gänzlich entfaltet und spielen, wie die Augen und die schnurrenbesetzte Nase, bei der noch immer fortgesetzten Prüfung. So viel wird allgemach festgestellt, daß an Gefahr jetzt nicht zu denken; unten aber steht einladend der gefüllte Freßnapf. Das bisher einem starren Bildniß ähnelnde Thierchen setzt sich endlich in Bewegung. Wie ein Schatten gleitet es zur Tiefe hernieder, gleichviel ob an senkrechter oder schief geneigter Fläche, immer mit dem Kopfe voran, ohne daß man ein Geräusch vernimmt, ohne daß man die einzelnen Bewegungen der durch die Fallschirmhaut größtenteils verdeckten Gliedmaßen unterscheiden kann: an der geflochtenen Decke des Käfigs, die Oberseite nach unten, rückt es weiter, als ginge es auf ebener Oberfläche; über dünne Zweige seiltänzert es mit derselben Gleichmäßigkeit und Sicherheit weg. Unten angekommen, läuft es mäuseartig behend über den Boden hin, macht am Futternapfe Halt, beriecht die Nahrungsstoffe, wittert sofort die den Nüssen, Eicheln, Weizenkörnern und Möhrenstückchen beigegebenen Fleischbröcklein, nimmt eines davon zwischen die Hände und verzehrt es, in artigster Eichhornstellung sitzend, huscht sodann weiter, spiegelt sich in dem Trinkwasser, nähert das niedliche Mäulchen vorsichtig der Oberfläche und tränkt sich, mehr schlürfend als leckend, zur Genüge, kehrt wiederum zum Futternapfe zurück, holt sich eine Nuß heraus, springt, mit ihr im Maule, die volle Breite der Fallhaut entfaltend, auf eine Sitzstange und klebt unmittelbar darauf, ohne auch nur eine Anstrengung zur Herstellung des Gleichgewichtes zu machen, als sei es ein zum Aste gehöriger Knorren.

Inzwischen ist eines nach dem anderen aus dem Schlafkasten hervorgehuscht, jedes hat sich ohne längeres Besinnen dem oder den unten Beschäftigten zugesellt, dieses hat sich zuerst zum Futter, jenes zuerst zum Trinknapfe gewendet und jedes ein Bröckchen, ein Nüßchen sich zugeeignet. In allen denkbaren Stellungen, welche ein Nager annehmen kann, hockt und sitzt, klebt und hängt, läuft und klettert es hier oder da in Winkeln und Ecken, auf Sitzstangen und Wänden des Käfigs.

Der erste Durst ist mit dem ersten Trunke, der erste Hunger etwas später, obschon bald genug gestillt; nunmehr geht es an das Putzen. Jedwedes Köpfchen wird mit Speichel gewaschen, mit den Nägeln der Vorderfüße gekämmt, mit den Handflächen geglättet;

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