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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

wird? Laß uns nur erst hin nach Gülzenow, dann werde ich mich schon umsehen und mehr sagen, wenn es nöthig ist.“

Der kleine Mißton, den der Tante letztere Aeußerung hervorrief, verhallte bald. Was schadet ein Wölkchen am Horizont, wenn der Himmel sonst klar ist. Der erste fröhliche Windhauch setzt sich hinein und läßt es in tausend leichte Flöckchen zerstieben, von denen keins dem Sonnenschein zu trotzen und sich wider ihn als finstre Macht zu behaupten vermag. Der Abend kam. Die Lampen wurden angezündet, die Tante setzte sich in ihren Lehnstuhl und Rose begann zu singen.

Ja, das war doch noch ein anderer Gesang, als er bisher in diesen Räumen erklungen und das Herz der zuhörenden Musikliebhaberin erfreut und erhoben hatte. Ein stolzer Schwan zog singend durch das weite All und die Waldvöglein verstummten und lachten über die kleinen Stimmchen, mit denen sie sich in den Jubelchor der Schöpfung zu machen gewagt und doch sich gedrängt fühlten, es wieder zu thun, dem vor ihren wachen Sinnen sich entfaltenden Zauber ihre ungekünstelte Huldigung darzubringen. Ja, das war eine herrliche Stimme, weich und seelenvoll, glockenrein und von einer seltenen Kraft und Fülle, die doch immer in den Grenzen schönen Gleichmaßes gehalten wurde. Und nun dies Verständniß der Seele, die unbeschreibliche Einfachheit des Vortrages, die in ernsten Gesangstücken geradezu erhaben war, der Eindruck war überwältigend.

Der alten Dame standen die Augen voll Thränen. Mit andächtig gefalteten Händen hörten Elly und Liddy zu, Ursula von dem fernsten und dunkelsten Winkel des Zimmers aus. Hasso begleitete die Sängerin. Dann sangen Beide zweistimmige Lieder, dann ruhte Rose und die Schwestern lösten sie ab, dann wurden drei- und vierstimmige Sachen versucht, heitere und ernste, Mozart’s launige Terzetten, alte und neue Opern mußten ihre schönsten Schätze hergeben, es war ein herrlicher Abend.

Auf der Straße unten blieben die Vorübergehenden stehen, in dem Hause gegenüber öffnete man die Fenster, vor der Thür versammelten sich still ungebetene Zuhörer.

„Wer wohnt dort? Was ist da los?“ fragte Clemens, der Arm in Arm mit Lindemann vorüberging.

Bädeker II. blieb betroffen stehen. Er hatte Jenen halb und halb zu dem Abendspaziergang gezwungen, er wollte ihm durchaus das Flüßchen, das an seiner Heimathstadt vorüberfloß, in Mondscheinbeleuchtung zeigen, in der Residenz gab es natürlich solch klares Wasser nicht. Clemens war gutmüthig genug, dem alten Particulier den Gefallen zu thun.

„Mein Gott, wissen Sie nicht, daß dort Ihre Tante wohnt? haben Sie ihr noch keinen Besuch gemacht?“ fragte dieser erstaunt. „Nein, aber ich werde jetzt hinaufgehen,“ entgegnete Clemens. „Thun Sie das nicht, Sonntags wird Niemand angenommen. Die Dame liebt es nicht, daß man ihre Familienconcerte stört.“

„Dann werde ich’s gerade thun,“ rief Clemens, machte sich von Lindemann’s Arm los und war mit einem fröhlichen Gruß im Hause verschwunden.

Sein kräftig tönender Fußtritt auf der Treppe, der laute Klang der Hausglocke, die er mit noch kräftigerem Ruck anzog, schallten mißtönend durch Rosens herrlichen Gesang hindurch. Rosine wurde dunkelroth.

„Tausend Donnerwetter, wer untersteht sich –“ brach sie los. Indem wurde die Thür aufgerissen, Johann erschien in derselben.

„Ich kann nichts dafür, gnädige Frau, der junge Herr lassen sich nicht abweisen,“ rief er ängstlich hinein. „Wer?“ schrie die Tante.

„Ich, gnädigste Tante,“ entgegnete Clemens, mit der größten Unbefangenheit eintretend.

„Hören Sie, Sie sind mir ein merkwürdig dreister Patron,“ schalt Rosine. „Die Woche hat sechs Tage, an denen Sie sich herbemühen konnten. Was haben Sie am Sonntag mein Familienconcert zu stören!“

„Tante, gehöre ich denn nicht zur Familie?“ fragte Clemens in vorwurfsvollem Ton, durch den doch der Schalk hindurchklang. „War meine Mutter nicht eine Fuchs? bin ich nicht der Sohn Ihres alten Freundes?. Muß ich wirklich erst meinen Paß aufweisen, ehe ich anerkannt werde? Dann, passen Sie auf, hier ist er –“

Er schritt rasch auf das Clavier zu, grüßte die um dasselbe gruppirten Damen ehrerbietig, sagte zu Hasso. „Vetter Hasso, nicht? Kommen wir endlich einmal zusammen?“ setzte sich an das Instrument und nach einigen glänzend ausgeführten Passagen spielte er mit eben so sichrer Geläufigkeit als richtigem Verständniß eine Beethoven’sche Sonate, grade die Lieblingssonate der Tante.

Er war noch nicht zu Ende, als sie schon hinter seinem Stuhl stand, und der Schlußaccord war kaum verhallt, so hatte sie ihn schon beim Kopfe gefaßt und küßte ihn auf beide Wangen.

„Wahrhaftig, ein Fuchs, mein richtiger Neffe! Komm her, Goldjunge, unverschämter Windbeutel, Du bist anerkannt. Ja, Du gehörst zur Familie, zur musikalischen und schönen Linie zugleich, wie dort Deine beiden Cousinen, Elly und Liddy, die Bologneser Hündchen,“ setzte sie lachend hinzu. „Nun gebt Euch die Hände und nennt Euch Du.“

Erröthend und lachend folgten die Zwillinge der Anforderung. Hasso begrüßte den Vetter mit der größten Herzlichkeit, Ursula in ihrer freundlichen zurückhaltenden Weise. Wie aus tiefen Gedanken fuhr Rose aus ihrer gebückten Stellung empor, als Rosine ihr den Neffen vorstellte. Sie war ganz in ein Notenblatt vertieft gewesen und war wohl noch etwas zerstreut, denn sie erwiderte seine tiefe Verbeugung kaum, sondern maß ihn mit einem langen erstaunten Blick.



Einige Tage darauf kehrte Rose von einem Besuch heim, den sie einer ihrer ehemaligen Lehrerinnen abgestattet. Der Weg führte sie über den Markt, am Deutschen Hause vorbei. Clemens saß am Fenster. Er stand augenblicklich auf, verließ das Gasthaus und ging ihr nach.

Mit wenigen Schritten hatte er sie eingeholt, begrüßte sie und sagte, sich zu ihr gesellend und neben ihr herschlendernd.

„Ich verleugnete Sie neulich, erscheint Ihnen mein Benehmen treulos, zweideutig?“

„Wir wollen das Wort Treue nicht auf das lose Band einer oberflächlichen Bekanntschaft anwenden,“ sagte sie, „damit hat Treue nichts zu thun. Zweideutig allerdings war Ihr Benehmen. Sie mußten doch Gründe haben, mich zu verleugnen, triftige wohlüberdachte Gründe. Sie gaben nicht einmal der Ueberraschung, mich so unvermuthet wiederzusehen, Raum. Es liegt Nichtachtung in diesem Verfahren und die habe ich nicht verdient,“ sagte Rose, ihrem gekränkten Gefühl sanft Ausdruck gebend.

„Nichtachtung! Nein, Rose, es war nur Klugheit!“ entgegnete Clemens, „und was die Ueberraschung betrifft, so hatte ich im Vorübergehen Ihren Gesang gehört. So wenig ich mir aber ihre Anwesenheit hier erklären konnte, denn ich wußte nichts von Ihrer Freundschaft mit meinen Cousinen, so war ich doch nun vorbereitet Sie zu sehen und es war mir möglich mich zu beherrschen.“

„Aber wozu?“ fragte sie. „Warum denn dieser Schleier des Geheimnisses über unsere Bekanntschaft? Das ist unehrlich. Was haben wir zu verbergen?“

„Ich sehr viel!“ entgegnete er ausweichend, „ich ein Gefühl, dem ich nicht Raum geben darf, das ich eben so wenig aus meinem Herzen zu reißen, gegen dessen überwältigende Macht ich mich nur durch diese scheinbare Kälte zu wahren vermag. Ich habe Pläne, Absichten, muß sie haben, gegen die das Herz rebellirt, aber ich darf auf diese rebellische Stimme nicht hören. Sie müssen gut sein, Rose, müssen mir folgen, ich bin der Klügere, der Erfahrnere und es handelt sich um mein künftiges Geschick. Wenn ich es jetzt eingestehen soll, daß ich Sie kenne, seit langer Zeit kenne, wie soll ich es da verbergen, daß ich Sie liebe!“

Er hielt inne. Sie antwortete nicht. Sie schüttelte nur den Kopf, als wollte sie sagen: ich verstehe kein Wort von alledem, aber das Einzige, was sie davon verstand, sein letztes Geständniß, das schloß ihr die Lippen und durchschauerte sie mit einer Empfindung, die für einen Augenblick alles gerechte Mißtrauen überwog. Er bemerkte seinen Vortheil und fuhr vorwurfsvoll fort:

„Wie kalt Sie gesprochen haben! Oberflächliche Bekanntschaft, sagten Sie vorhin, oberflächliche Bekanntschaft, wir Beide, und doch that mir das Herz beim Abschied so weh, daß ich nicht wagte Sie anzusehen, und doch wurden Sie ohnmächtig, als ich ging.“

„Mademoiselle Dufour, die kleine Tänzerin, schnitt sich in die Hand, ihr Blut bespritzte mich, ich kann Blut nicht sehen,“ entgegnete sie ausweichend.

„Das ist nicht wahr, Rose,“ sagte er, durch die Sanftheit

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