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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

im höchsten Rausche des Glücks verflossen, ist leicht begreiflich. Aber nicht minder sicher ist die Nachricht, daß nach Ablauf derselben der glückliche Pygmalion die Entdeckung machte, daß seinem Weibe Eines fehlte. Zeus hatte ihr Leben, aber keinen Geist eingehaucht, und eine Frau ohne Geist, – das werden Sie zugeben – mag in manchen Fällen sehr interessant sein, im ehelichen Leben schien sie selbst dem Künstler unerträglich. Er las ihr Gedichte vor, sie begriff sie nicht. Er führte sie in’s Theater, sie verstand es nicht. Er gab ihr Zeitungen sie las sie nicht. Er abonnirte für sie in der Leihbibliothek und gab ihr die anregendsten Räubergeschichten in die Hand, es unterhielt sie nicht. Er griff zum letzten Hülfsmittel. er ließ Nachbarinnen kommen, die ihr die neuesten Neuigkeiten von Athens schönem und häßlichem Geschlechte erzählten, es zündete nicht. Da faßte den Unglücklichen die wildeste Verzweiflung. Er eilte in Trauer in den Tempel des Zeus. Er stürzte vor ihm nieder und lag da im peinlicheren Schmerze des Ehemanns, wie ehedem an beglückenden Schmerze des Verliebten.

,O Vater der Götter und der Menschen, des Himmels und der Erde‘, rief er aus, ‚habe Erbarmen mit meinem Unglück! Du hast mir ein schönes Weib gegeben und ihr Leben eingehaucht aber Du hast ihr keinen Geist gegeben; ich bin elend!‘

Da schüttelte Zeus das Haupt und sprach in tiefem Ernst: ‚Mein Sohn, Du bist ein Thor! Ein Weib mit Geist! glaubst Du, daß Du Dich glücklicher fühlen wirst?!‘

,O Vater des Alls,‘ rief der Unglückliche, ,es ist nicht zum Aushalten! Gieb ihr, wenn Du Mitleid mit meinem Elend hast, nur Einen, Einen Urgedanken, an den ich, fortbildend, weitere Gedanken anknüpfen kann!‘

‚Thor, sprach Zeus ernst, ,Geist habe ich selber nie gehabt! Ob es Urgedanken giebt, an welche Du die andern anknüpfen kannst, das weiß ich wirklich nicht. Aber einen Rath kann ich Dir erteilen. Dort hinter dem Parnaß, wo die Dichter hausen, ist eine Höhle, woselbst die Philosophen wohnen. Findest Du dort nicht den Urgedanken, so ist Dir nicht zu helfen.‘

Der Arme erhob sich neubelebt in Hoffnung. ,Habe Dank, o Zeus; rief er und stürzte davon, die Philosophen-Höhle auszusuchen.

Er eilte durch den Parnassus von allen Dichtern angehalten, die ihm ansahen, daß er ein herrliches Thema ihrer Kunst sein müsse. Er stand Keinem Rede, wie sie ihn auch in Versen und in Prosa zu weilen baten. Er stürmte davon zum alleruntersten Ende, wo die Recensenten hausen, die mit unbarmherzigem Eifer ihn zu fassen suchten. Er durchbrach das wildeste ordnungsloseste Gestrüppe zwischen dem Gebiete der Poesie und dem der Philosophie, wo Drachen und Unthiere in meilenweiter schauerlicher Oede hausen. Da lag sie endlich vor ihm, die Höhle, die er suchte. An ihrem Eingang traf er einen Mann, der halb über, halb unter der Erde ihn mit hellem Lachen empfing. Er nannte sich ungefragt ,Demokritos‘ und wies ihm lachend und immerfort lachend den Weg hinunter, nachdem er erfahren, daß der arme Sterbliche Urgedanken suche, um sich ein Weib mit Geist zu verschaffen.

Es war ein eigenes Dämmerlicht, das in der Höhle herrschte. Es schien den Köpfen ihrer Bewohner zu entstrahlen, von denen jeder einzelne dahin schritt, nur mit sich selber sprechend, als ob Niemand außer ihm noch existire. Lange irrte er umher, um nur Einen aufzufinden, der nicht tief mit sich selbst beschäftigt schien. Viele schienen ihm selige Geister zu sein, die einst aus Erden gewandelt; Andere wieder solche, die erst noch in spätern Zeiten auf Erden zu wandeln bestimmt sind und hier ihre künftigen Rollen memoriren. Als er aber am Ende angekommen war, ohne daß Einer seiner achtete, da übermannte ihn sein Unglück und laut hinschallend, vom Echo hundertfach wiederholt, ertönte sein Schmerzensruf. ,Meine Herren, ich suche den Urgedanken!‘ –

Kaum war das letzte Echo seines Rufes verhallt,als von allen Seiten her die Seligen und Ungeborenen in weiter Runde sich um ihn sammelten. Pygmalion, im Kreise solcher Zuhörerschaft, schilderte in fliegender Rede seine schreckliche Lage; aber seine Brust athmete in froher Hoffnung auf, als er wahrnahm, daß er nicht blos eine teilnehmende , sondern auch eine eifrige Zuhörerschaft habe, die ihm von allen Seiten Beifall nickte, weil er den Urgedanken suche.

Da winkte ihm ein kleiner schmächtiger Mann von merkwürdig scharfem Blick mit ernster Miene zu und sagte ihm Folgendes:

,Ich heiße Pythagoras. Das wird genügen, Dich zu überzeugen, daß Du an der rechten Quelle bist. Wärest Du nicht verheiratet und gar darauf versessen, ein Weib mit Geist haben zu wollen, so würde ich sagen, daß Du blos ein Jahrzehnt hier bei mir bleiben sollst, um vom Urgrund der Dinge bis zur Unendlichkeit hin auf Alles erfassen zu können. Da Du aber nicht Zeit hast, so will ich Dir das Problem der Probleme in aller Kürze sagen, das Du eigentlich falsch den Urgedanken nennst, und von diesem Urgrund aus wirst Du im Stande sein, Dein Weib zu einem Wesen unseres Gleichen zu machen.‘

Den Dank in den Mienen des Pygmalion lesend, ging der große Philosoph sofort auf die Darlegung des Urgrundes ein.

,Das Erhaltende der Dinge,‘ sagte er, ,ist die Harmonie; denn wäre keine Harmonie der Dinge vorhanden, so würden sie einander zerstören. Das begreifst Du als Künstler doch!‘

,Nun, ja!‘ sagte Pygmalion.

,Gut!‘ fuhr Pythagoras fort. ‚Die Harmonie aber hat – das siehst Du im Versmaß der Dichtkunst, wie in den Tönen der Musik – die Zahl zu ihrer Grundlage. Hieraus folgt mit Evidenz , daß das wahre Wesen aller Dinge in den Zahlen enthalten ist. Das ist Dir doch klar?‘

‚Ja wohl!‘ versetzte Pygmalion sehr erfreut über die leicht faßlichen Lehren.

‚Nun denn,‘ deducirte Pythagoras weiter, ,so lerne die Zahlen in ihrer geheimsten Natur verstehen, so wirst Du den Urgrund aller Dinge in solcher Einfachheit vor Dir haben, daß Du Alles auf’s Leichteste auch Deinem Weibe wirst beibringen können.‘

‚Vortrefflich!‘ rief der glückliche Schüler aus.

Der Lehrer fuhr fort, ,Gewiß wirst Du, wie Viele außer mir, meinen, daß Eins die erste Zahl sei?‘

Der Schüler nickte bejahend; aber der Lehrer fuhr fort: ,Das ist der Hauptirrthum. Die Eins ist keine Zahl. Wenn es nur ein Ding in der Welt gäbe, würdest Du es eben so wenig zählen, so wenig Du ein einziges Geldstück zählst, das Du in der Tasche hast.‘ ,Sehr richtig,‘ fiel Pygmalion ein, ‚daran habe ich noch nie gedacht.‘

,Gut, gut! – wir gehen weiter. Ist Zwei die erste Zahl?‘ ‚So soll ich meinen!‘

‚Nimmermehr!‘ fiel ihm Pythagoras in's Wort. ,Die Zwei ist keine Einheit, aber auch keine Mehrheit, wenn die Eins nicht existirt. Was aber keine Einheit und keine Mehrheit ist, das kann unmöglich eine Zahl sein. Das begreifst Du wohl?‘

,Nun ja,‘ sagte Pygmalion, ,ich kann mir's denken.‘ ,Da bist Du denn so weit, einzusehen, daß die Drei die erste Zahl ist, und darum ist sie auch die heilige Zahl, welche die Nichtzahlen Eins und Zwei in sich schließt. Fassest Du hierzu noch die Vier, so hast Du vollends die allerheiligste der Zahlen gefaßt; denn eins und zwei und drei und vier ist – überzeuge Dich selber – die Zehn. Die zehn Zahlen aber sind die Unendlichkeit, da die unendlichste der Zahlen, welche Du zählen willst, doch nur aus den Reihen der Zahlen bis zur Zehn combinirt ist?‘ –

Da Pygmalion keines Wortes mächtig schien, so fuhr Pythagoras fort. ,Run geh' getrost heim. Ueberdenke fort .und fort, wie „die Zahl das Wesen aller Dinge ist,“ und wie einfach Du aus der Nichtzahl in die Allzahl vom Ursprung bis zur Unendlichkeit gelangst.‘

Pythagoras verließ den erstaunten Schüler und ging in seinen eigenen Gedanken vertieft weiter. Schon wollte Pygmalion den Heimweg antreten, als ein Mann mit breiter Brust und kolossaler Stirn vor ihm stand, den er sofort als Plato erkannte.

,Mein Sohn,‘ redete ihn dieser an, ‚der Dich so eben verließ, ist mein Lehrer; aber offen gesagt, er hat Dich auf einen Irrweg geleitet. Der Urgrund der Dinge, den Du suchst, ist nicht die Zahl, wie er meint. Die Ideen sind es, die den Dingen voraugehen und in ihnen zur Erscheinung kommen, wie Du selber die Ideen des Standbildes früher hattest, ehe Du aus dem Steine, aus der Materie, Dein Weib herausgemeißelt. Willst Du Dein

Weib mit denkendem Geist erleuchten, so mache ihr nur klar, wie

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