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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

welches ich in der Bibliothek eines reichen Privatmannes zu Baltimore aufgestöbert hatte. Zwecklos schlug ich ein Blatt um das andere um; hier stand eine jetzt längst vergessene Anekdote von einer gleichfalls vergessenen Autorität; dort Bruchstücke einer philosophischen Abhandlung, deren Scharfsinn einst von Allen bewundert worden und die im Laufe kurzer Zeit doch in Vergessenheit gerathen war, dort der Fetzen einer Statistik – kurz, es war ein Untereinander der verschiedensten Dinge, die zu lesen es unserer mit Dampf dahin brausenden Zeit an Muße wie an Verständniß gebricht.

Während ich gedankenlos hin und her blätterte, gewahrte ich eine Sammlung von Notizen über die Cherokesensprache.[1] Ich las und wurde, trotz des holprigen Compilatorstyls, immer mehr gefesselt. Vor mein geistiges Auge trat eine jener Titanengestalten, deren Geist mit Polypenarmen Alles erfaßt und in sein Bereich zieht; eine jener Feuerseelen, von denen ein segenbringender Glanz ausgeht, welcher die Nacht der Unwissenheit und des Wahnes von einem ganzen Volke verscheucht; ein Mann, dessen Name verdient neben den größten Erfindern aller Zeiten genannt zu werden, der als Stern erster Größe in der Culturgeschichte glänzen würde, hätte er der Trägerin der Civilisation und nicht der indianischen Race allein geleuchtet. Ich hatte den Namen dieses Genies niemals nennen hören, eine englische Encyklopädie kannte nur seine Erfindung; des Spaßes halber suchte ich auch im großen Brockhaus, und ich muß gestehen, daß ich vor der deutschen Gründlichkeit Respect bekam, da stand es: „Georg Gueß, ein Cherokese, erfand ein Silbenalphabet.“

Das war aber auch Alles. Der Mann, welchen die Amerikaner Georg Gueß nannten, hieß bei seinen Landsleuten See-quah-yah. Man sagt, er sei ein Halbblut-Indianer gewesen; das bleibt jedoch dahin gestellt; soviel ist gewiß, daß er von der kaukasischen Race nicht das Geringste in seinem Naturell hatte, noch sich aneignete, vielmehr zäh an den indianischen Sitten festhielt.

Der amerikanische Literat Samuel L. Knapp traf im Jahre 1828 zu Washington mit diesem Philosophen ohne Hosen zusammen, und ihm allein verdankt die Nachwelt das Nähere über diese merkwürdige Persönlichkeit und deren Erfindungen. See-quah-yah, oder Gueß – wie wir ihn fortan der Kürze wegen nennen wollen – war zur Zeit jener Unterredung etwa fünfundsechszig Jahre alt, die Conversation wurde durch zwei cherokesische Dolmetscher vermittelt. Der Indianer erzählte, daß er in seiner Jugend ein geweckter flotter Bursche gewesen sei und schon frühzeitig bei seinem Stamm als Märchenerzähler einen gewissen Ruf erlangt habe; seine umfassende Kenntniß der Traditionen brachte ihn sogar in den Ruf eines „Gelehrten“, was ihn jedoch nicht hinderte, mit in die Kriege zu ziehen und Tomahawk wie Scalpirmesser gehörig zu handhaben. Eine Kniewunde warf ihn jedoch längere Zeit auf’s Krankenlager, ja machte ihn für Lebenszeit zum Invaliden; die Gelegenheit, sich als Krieger oder kühner Jäger auszuzeichnen, war ihm für immer abgeschnitten. So wurde er Philosoph, d. h. nach seiner Art, und an Zeit zum Nachdenken fehlte es ihm fortan nicht.

Nun war auf einem seiner Kriegszüge ein Amerikaner gefangen worden, welcher einen Brief bei sich trug. Der Gefangene, über dieses seltsame Ding befragt, las den Brief laut vor, und obwohl die Rothhäute kein Wort verstanden, so waren sie doch hoch erstaunt über den Zauber, der in den schwarzen Zeichen steckte, die den weißen Mann befähigten, ohne weiteres Nachdenken eine so fließende Rede zu halten. Das „sprechende Blatt“ wurde Gegenstand einer besonderen Berathung, in welcher ein Häuptling die Frage aufwarf, ob der große Geist den Bleichgesichtern jene geheimnißvolle Gewalt verliehen, oder ob diese sie selbst entdeckt hätten. Die meisten Krieger waren der ersteren Ansicht, nur See-quah-yah vertheidigte beharrlich die letztere.

Seitdem kam ihm jenes merkwürdige Blatt nicht mehr aus den Gedanken, er saß monatelang in seinem Wigwam, rauchte und grübelte; über seinem Scheitel zog die Zeit in rastlosem Fluge, um ihn herum wechselten die Jahreszeiten, die Natur mit ihnen, er merkte es kaum, denn eine Idee hatte seine Gedanken gekreuzt, des Opfers eines Menschenlebens vollkommen würdig: er war entschlossen, seiner Nation einen ähnlichen Zauber zu verschaffen. Zuerst ging er daran, auszufinden, wie viele verschiedene Laute seine Muttersprache habe. Da Gueß selbst kein besonders musikalisches Gehör besaß, so nahm er Frau und Kinder zu Hülfe. Für jeden festgestellten Laut machte er sich ein bestimmtes Zeichen; anfangs schien es ihm gerathen Bilder von Thieren, Pflanzen und Waffen zu nehmen, er gab diesen Gedanken aber bald wieder auf und behalf sich mit anderen Merkmalen; so brachte er etwa zweihundert verschiedene Charaktere für sein Alphabet zusammen. Seine Tochter, die ihn bei diesen Experimenten treulich unterstützte und bald im Stande war erfinderisch mitzuwirken, half die Zahl der Schriftzeichen auf fünfundachtzig reduciren.

Nun begann unser Kadmus leicht nachzuahmende Buchstaben zu schaffen, auch das gelang vortrefflich, und so war die Cherokesenschrift erfunden. Als Griffel diente dem Erfinder ein Nagel, als Schreibtafel ein Stück Baumrinde.

So weit erfolgreich, sann er natürlich darauf, seine Erfindung immer mehr zu vervollkommnen. Der nächste Agent der amerikanischen Regierung mußte ihm Papier liefern; Tinte gewann er aus der Rinde eines Waldbaumes, deren färbende Eigenschaften er bereits kannte. Wenn ihm nun auch das Federschneiden anfangs nicht besonders gelingen wollte, so half doch sein erfinderischer Geist auch bald über diese Schwierigkeit hinweg und der Mann, welcher ein Alphabet erfunden hatte, das nahezu viermal so umfassend ist, als das der deutschen Sprache, fand auch aus, daß die Feder einen Spalt haben müsse, um erfolgreich damit arbeiten zu können.

Der schwierigste Theil seiner Arbeit war jedoch noch zu thun, nämlich den Cherokesen die Erfindung plausibel zu machen. Das Neue stößt bei allen Völkern, sie mögen nun viel oder wenig, oder auch gar keine Seife beim Waschen gebrauchen, auf Widerstand, man denke an Guttenberg, Fulton u. a. Jener amerikanische Wunderdoctor hat ganz recht, wenn er sagt. „Es ist keine Kunst eine Medicin zu erfinden, die Alles heilt, aber eine Kunst ist es das Publicum glauben zu machen, daß sie Alles heilt.“ Auch Gueß mußte erfahren, wie schwer es ist den Widerstand der stumpfen Welt zu besiegen. Schon seit längerer Zeit hatte man sein Treiben mit Mißtrauen und Mißfallen betrachtet; man hielt ihn für einen bösen Zauberer und mied ihn; der Wahn wurde sogar dermaßen geschürt, daß eine Zeitlang sein Leben gefährdet war.

Ungeachtet dieser wenig ermuthigenden Stimmung gelang es ihm doch, die bedeutendsten Männer seiner „Nation“ in seinem Wigwam zu versammeln, um sie über seine Entdeckung in’s Klare zu setzen. Er erinnerte sie an den Streit über jenes „sprechende Blatt“, begann dann seine damals geäußerte Ansicht näher zu begründen, wobei er sogleich eine genaue Erklärung der Schreibkunst mit einlaufen ließ, und schließlich rückte er mit seiner Erfindung heraus.

Die Häuptlinge schüttelten halb zweifelnd, halb mitleidig die Köpfe, und es war wahrscheinlich ein großes Glück für unsern Erfinder, daß es bei den Indianern keine Narrenhäuser gab, er wäre wohl ohne Weiteres eingesteckt worden. So aber sagten sie gar nichts und warteten ab, bis See-quah-yah sie überzeugen werde. Wir haben bereits oben gesehen, daß seine Tochter bei der Erfindung half; diese sollte jetzt den Beweis liefern. Sie mußte mit einem Häuptling den Wigwam verlassen; der Sachem wurde ersucht, einen Gedanken auszusprechen, und Gueß schrieb denselben auf. Das Mädchen wurde gerufen, man hielt ihm das Papier hin und – die Rothhäute sprangen vor Staunen und Schrecken von ihren Sitzen. Das ging nicht mit rechten Dingen zu! Unser Erfinder konnte die erregten Gemüther kaum beschwichtigen und erst, als er nochmals betheuert hatte, daß durchaus keine Zauberei im Spiele sei, durfte er seine Experimente fortsetzen; er verließ das Zelt und das Mädchen mußte schreiben, auch dieses wurde gelesen.

Nach einer kurzen Berathung begannen die Häuptlinge die Sache in einem milderen Lichte zu betrachten und schließlich gewann die Ueberzeugung Raum, daß der lahme See-quah-yah eine äußerst wichtige Erfindung gemacht habe.

Allen in Nordamerika lebenden Volksclassen, sie mögen nun kaukasisches, indisches oder äthiopisches Blut in den Adern haben, ist das gemein, daß bei ihnen die That auf den Gedanken folgt. Rasch entschlossen, führen sie das Beschlossene rasch aus. Wie das Klima dieses Landes sich immer in Extremen bewegt und die Uebergänge fast gar nicht bemerkbar sind, so seine Bewohner;

  1. Die Cherokesen, die, wie bekannt, als der numerisch stärkste und als der civilisirteste Stamm unter allen nordamerikanischen Indianern gelten, siedelten im Jahre 1838 in das heutige Indianergebiet westlich von Arkansas über und treiben daselbst Ackerbau und Baumwollcultur.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 656. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_656.jpg&oldid=- (Version vom 24.10.2022)