Verschiedene: Die Gartenlaube (1869) | |
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Büsten, sie sind aber alle mehr oder weniger unähnlich. Nur eines, das hier gegebene, stellt den großen Tondichter in voller Treue dar, wie er in seinem neunundvierzigsten Lebensjahre ausgesehen. Es ist von dem berühmten bairischen Hofmaler Stieler gemalt, der längere Zeit in Wien lebte und mit Beethoven befreundet war. Oefter hatte er den eigensinnigen Meister gebeten, sich von ihm malen zu lassen, aber vergebens. Durch Vermittelung einer Frau von Brentano, in deren Familie er viel Freundschaft und Liebe gefunden, wurde sein Widerstand gebrochen.
Eines Tages trat Beethoven mit den Worten in Stieler’s
Atelier: „Sie werden’s wohl schon wissen, – ich soll mich ja malen
lassen, und da bin ich nun.“ Hocherfreut ging Stieler sogleich
an’s Werk, und so entstand das unvergleichlich ähnliche Brustbild
Beethoven’s. Da der feurige Geist des Tondichters sich nur
ungern dem Zwang des Sitzens beim Malen unterwarf, so mußte
Stieler diesmal schneller arbeiten, und das Portrait ist deshalb
weniger ausgeführt, als er sonst zu thun pflegte. Allein nach
Stieler’s eigener Aussage gereicht das dem Portrait Beethoven’s
nur zum Vortheil. Der geniale Ausdruck des großen musikalischen
Genius kam durch die freie skizzenhafte Ausführung des Bildes
um so besser zur Anschauung. Der Componist ist dargestellt, wie
er gerade an der Missa solemnis arbeitet. Es war der Wunsch
Beethoven’s, den Titel dieses Werkes, als seiner liebsten Schöpfung,
unter dem Bilde zu haben.
Die sinnigen braunen Augen scheinen in eine andere Welt zu blicken; unvergleichlich ist dieser ganz in das Innere gekehrte Ausdruck des schaffenden Tongenius wiedergegeben, der auf keinem
anderen Portrait Beethoven’s wieder zu finden ist. Stieler erzählte,
Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 647. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_647.jpg&oldid=- (Version vom 2.4.2020)