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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

von fremder Noth zu rühren, mitleidig wirft er dem Armen einige Sous in den Hut, mit diesen zugleich aber auch einen werthvollen Bijouterieartikel, worauf der anprovisirte Bettler schleunigst abzieht. Wird der Diebstahl alsbald entdeckt, so geräth der Carreur in höchste Aufregung und besteht darauf, daß man ihn durchsucht. Natürlich wird nichts an ihm gefunden, der Kaufmann erschöpft sich in Entschuldigungen und mit dem Stolze der gekränkten Unschuld schreitet der Dieb aus dem Magazine. Ohne Zweifel ist unseren Lesern noch der große Juwelendiebstahl erinnerlich, der vor wenigen Jahren einen Bijouterieladen des Palais Royal um einen Werth von hunderttausend Franken ärmer machte und in und außer Paris das gewaltigste Aufsehen erregte. Er war das Werk zweier Carreurs, die sich bis heutigen Tages den Armen der Justiz zu entziehen gewußt haben.

Die „Roulatiers“ treiben ihre Kunst auf offener Straße; sie decimiren die Güterrollwagen der Spediteure und Eisenbahnen. Auf gut Glück durchstreifen sie die Geschäftsgegenden der Stadt, und sobald sie eines der erwähnten Transportvehikel erspähen, so ziehen sie ihm nach. Verläßt nun der Führer sein Gefährt nur einen Augenblick, so packen sie hastig eine Kiste, ein Faß, einen Koffer, werfen sich damit in die erste beste Seitengasse und gehen hier langsam weiter wie ehrliche Arbeiter, die erschöpft sind von der Last, welche sie tragen. Vor der Aera der Eisenbahnen waren es vorzugsweise die Postkarren, welchen die Roulatiers ihr Interesse zuwandten, und oft mit fabelhaftem Glücke. Noch sind es nicht zwei Monate her, daß drei auf Abenteuer ausziehende junge Roulatiers einen Schleifkarren entdeckten, der mit plombirten kleinen Kisten beladen aus der kaiserlichen Münze herausgefahren kam. Der Fuhrmann trat auf einige Minuten in eine auf seinem Wege liegende Weinschenke, und mit affenartiger Geschwindigkeit bemächtigten sich unsere jungen Galgencandidaten einer der Kisten und verschwanden damit in einer Nebenstraße. Natürlich ward die Polizei ungesäumt von dem Vorfall in Kenntniß gesetzt, und es gelang ihr, die Schuldigen in einer Diebesspelunke vor den Barrièren zu ergreifen. Man hielt Haussuchung in ihrer Wohnung und fand daselbst nicht blos die geraubte Kiste, welche für mehrere Tausend Franken für Rom geprägte Heiligenmedaillen enthielt, sondern auch ein völliges Waarenlager von auf ähnliche Weise gestohlenen Gütern. Dutzende von Stücken Tuch, Kaffeesäcke und einen ganzen Ballen mit Photographierahmen, der von einem Pariser Fabrikanten an einen Photographen in der Provinz verladen worden war.

Sämmtliche der bis jetzt aufgeführten Diebesgattungen gehören nebst einer Unzahl anderer Spitzbubenclassen zum niederen Gevögel, der basse pègre (pègre vom lateinischen piger, Faullenzer); sehen wir uns nun auch etwas unter der haute pègre um, unter jenen Verbrechern, die sich selbst mit Stolz die schwere Cavalerie ihres Heeres zu nennen pflegen. Zu ihren untersten Graden gehört der „Cambrioleur“, welcher am Tage in die Wohnung einbricht, wenn deren Inhaber nicht anwesend sind. Zu diesem Behufe steigt er unbefangen die Treppen der Häuser hinan und klingelt, unter irgend einem beliebigen Bewerbe, von Etage zu Etage, bis er an eine Thür kommt, wo auf sein wiederholtes Schellen Niemand erscheint. Hier bricht er ein und raubt aus den Zimmern, was er nur erwischen und ohne Aufsehen zu erregen fortschleppen kann. Ein origineller Kauz von Cambrioleur, ein Nachfolger der chevaleresken Straßenräuber des vorigen Jahrhunderts, war ein gewisser Jadin, der es im Oeffnen der Thürschlösser mittels des Monseigneur, eines kleinen Brecheisens, zu einer Fertigkeit sonder Gleichen gebracht hatte. Führte ihn der Zufall einmal in eine Wohnung, deren Einrichtung von der Mittellosigkeit ihres Inhabers zeugte, so steckte er nicht nur nichts zu sich, sondern ließ darin oft sehr erhebliche Spenden zurück.

Wiederum eine Staffel höher auf unserer traurigen Stufenleiter steht der „Caroubleur“, der Dieb mittels Dietrich und Nachschlüssel. Noch heute dürfte die Pariser Polizeipräfectur einen dieser Caroubleure in treuem Andenken halten, der sich den Namen Beaumout beigelegt hatte. In schwarzem Rock und weißer Cravatte, ein großes amtliches Portefeuille unter dem Arme, ganz mit dem Aussehen eines vielbeschäftigten und pressirten Beamten erscheint dieser Mensch eines Nachmittags auf der Präfectur, requirirt einen der dort postirten Soldaten, stellt ihn als Schildwache vor eine bestimmte Thür, befiehlt ihm, Niemand passiren zu lassen, und dringt in das Directorialzimmer ein, wo, wie er genau wußte, der Vorstand des Sicherheitsdienstes eben nicht anwesend war. Unverzüglich bemächtigt er sich der Casse, welche gerade ein recht rundes Sümmchen enthielt, führt den Soldaten selbst auf die Wachstube zurück, dankt dem Officier für seine Gefälligkeit und schreibt Abends dem bestohlenen Chef ein verbindliches Billet, in dem er um Verzeihung der verursachten Ungelegenheit bittet. Bis heutigen Tages hat die Polizei den kecken Caroubleur nicht aufspüren können, welcher sich den Spaß machte, an ihr selbst eine Probe seiner Kunst abzulegen.

Noch ein gut Stück weiter oben in der Rangordnung treffen wir den „Scionneur“, der Nachts dem Wanderer in den Umgebungen von Paris Börse oder Leben abfordert, sein Opfer mit einem Stockschlage oder einem Steinwurfe betäubt und dann bis auf’s Hemde ausplündert. Der Scionneur ist fast immer zugleich auch Mörder, das Menschenleben, das ihn genirt, wird ohne Reue und Bedenken vernichtet. Besonders schlimme Gesellen waren die Scionneurs, welche ehedem am Seine-Canale ihr Unwesen trieben, ihr Werkzeug war die bekannte Garotte. Mit Hülfe derselben ward das unglückliche Wild seiner Uhr, seines Geldes, seiner Brieftasche etc. beraubt und schließlich mit einem Stoße in den Canal hinabgeschleudert. Operirt der Scionneur allein oder scheint ihm eine offene Attake bedenklich, so betäubt er die ausersehene Beute durch „Sanden“. Er trägt nämlich eine mit Sand gefüllte Aalhaut bei sich, die, sehr biegsam und zugleich sehr schwer, eine furchtbare Waffe abgiebt und mit einem geschickt geführten Schlage auch einen Riesen zu Boden streckt. Nach vollbrachter Unthat macht er seine Aalhaut auf und schüttelt den Sand aus, und wenn er darauf ruhig, vielleicht trällernd seines Weges geht, wer möchte dann wohl in dem Wehrlosen den Urheber eines eben begangenen Mordes argwöhnen?

Das Haupt der Clans endlich, der General, zu welchem alle die aufgezählten Soldaten und Officiere des Heeres in ehrerbietiger Bewunderung aufblicken, ist der „Escarpe“, der Mörder, das heißt nicht der Dieb, welcher aus Rache oder um sich eines Zeugen zu entledigen tödtet, sondern der Mensch, der aus Grundsatz, aus Gewohnheit oder Berechnung erst mordet und dann stiehlt. Zum Glück sind solche Ungeheuer doch nur selten, die Mehrzahl derselben aber, welche vor den Assisen Rechenschaft geben mußten von der langen Reihe ihrer Verbrechen, haben eine Willenskraft, eine Energie, eine Intelligenz an den Tag gelegt, die, wenn schon mit Schmerz, so doch auch mit unwillkürlicher Bewunderung erfüllen. Der Escarpe ist keine Pariser Specialität, er gehört leider der gesammten menschlichen Gesellschaft an und deshalb im Grunde nicht in den Rahmen unserer Skizze. Wohl aber müssen wir noch ein Wort von den sogenannten „Nourrisseurs“, den „Diebeszüchtern“ sagen. Wie es Geschäftsleute giebt, welche zwischen Käufern und Verkäufern vermitteln, so giebt es ängstliche oder altgewordene Diebe, vom thätigen Leben zurückgezogene alte Praktiker, die ihre Erfahrung kühneren Geistern zur Verfügung stellen. Sie spioniren die Gelegenheit aus, bereiten die That vor, wägen gute und böse Chancen gegeneinander ab, und sobald das Unternehmen reif ist, treten sie die Ausführung desselben entweder gegen eine vorher stipulirte Provision oder gegen einen Antheil an dem zu machenden Gewinn ab. Meist sind es alte Hehler, welche sich auf diesen einträglichen Geschäftszweig verlegen.

Alle diese Hochstapler, Gauner, Spitzbuben, Räuber, Mörder beuten fast lediglich den rechtschaffenen Theil der Bevölkerung aus, allein das Handwerk zählt auch eine besondere Kategorie, welche ausschließlich die Diebe selbst angreift, die sogenannten Fileurs. Mitglieder der Zunft, wissen sie leicht die projectirten Unternehmungen auszukundschaften und die Verbrecher auf der That zu ertappen. „Halb Part,“ heißt es dann, „oder ich zeige Dich an.“ Und was der Dieb auch einwendet, ob er an das Ehrgefühl des Cameraden appellirt, von Rache spricht oder für das nächste gewinnbringende Unternehmen eine Compagnie verheißt, der Fileur läßt sich nicht abweisen, erhält seinen Antheil, erscheint bei einer andern Expedition mit der nämlichen Drohung und läßt sich für sein Stillschweigen mit einer ähnlichen Summe abfinden. Die geschicktesten Fileurs sind Juden, „filiren“ aber stets blos den christlichen Diebsgenossen, niemals den ihres eigenen Glaubens.

Ehemals lagen die Schlupfwinkel der Pariser Diebe mitten in der Stadt; in den winkligen Gassen der Cité, in den schmutzigen,

einsamen Gäßchen um das Palais Royal und den Louvre herum,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 641. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_641.jpg&oldid=- (Version vom 20.10.2022)