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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

Ursache von Entdeckung und Bestrafung werden. Man erzählt wunderbare Geschichten von der Opulenz, dem Glanze, der Herrlichkeit und den Freuden, in denen gewisse Pariser Diebesmatadore schwelgen sollen; zum allergrößten Theil sind derlei Geschichten aber in’s Reich der Fabel zu verweisen, denn von hundert Dieben und was in ihre Kategorie fällt, führen womöglich mehr als neunundneunzig das elendeste Leben, das sich nur denken läßt: immer auf der Jagd und immer gejagt, stets auf der Hut und stets auf der Lauer, auf das kleinste Geräusch lauschend und nur mit einem Auge schlafend; ewig in Angst und ewig von Leidenschaft gequält, mit einem Wort, ein Höllenleben, eine Existenz, welche buchstäblich auch nicht einen Moment ruhigen Behagens in sich schließt. Gar Viele haben seit Jahren kein anderes Dach über dem Kopf gehabt, als Brückenbogen, im Bau begriffene Häuser, die Gypsöfen und Steinbrüche am Saume von Paris, und wissen nicht, was tägliches Brod heißt. So ist es denn auch keine Seltenheit, daß ein Dieb, wenn er fühlt, wie mit zunehmendem Alter die Kraft schwindet, dieser ewigen Hetze ohne eine Minute des Verschnaufens Trotz zu bieten, sich selbst der Polizeipräfectur ausliefert. „Da habt Ihr, den Ihr sucht,“ spricht er dann wohl, „ich kann nicht mehr!“ Nichtsdestoweniger muß dieses Leben seinen Reiz besitzen, weil Jahr aus, Jahr ein so viele Menschen es sich freiwillig erwählen, denn, was man auch behaupten mag, es ist constatirt: aus Noth und Hunger wird selten gestohlen.

Es giebt in Paris ganze Generationen von Dieben; der Großvater hat gestohlen, der Vater stahl, der Sohn stiehlt, der Enkel wird stehlen. Kaum kann das Kind laufen, so wird es schon zum Gewerbe angelernt; man lehrt es ohne Geräusch auftreten und gehen, sehen, ohne daß es sich umzublicken scheint, mit einem Nagel ein Thürschloß öffnen, den gestohlenen Gegenstand rasch verbergen, selbst mit „Haltet den Dieb!“ schreien, wenn es verfolgt wird, und andere unentbehrliche Kunstgriffe des Handwerks mehr. Die Familien Piednoir, Coeur-de-Roy, Nathan figuriren seit Jahrzehnten in den Annalen der Polizei und machen ihr noch heute zu schaffen. Die Verurtheilungen, welche die letzterwähnte Familie, Vater, Mutter, Brüder und Schwiegersöhne, zusammen vierzehn Personen, traf, beliefen sich auf die hübsche Zahl von zweihundertundneun Jahren Zuchthaus! Dergleichen Diebesgeschlechter sind gar nicht so selten jüdischen Stammes.

Auch in Paris hat der Diebesstaat seine feste Gliederung, jede Art desselben bezeichnet eine bestimmte Kaste, die von den anderen streng geschieden ist. Diebe, welche mehrere Zweige des Handwerks cultiviren, giebt es kaum, im Gegentheil ergreift von vornherein, je nach Neigung und Anlage, jeder seine bestimmte Specialität, in welcher er sich schließlich zur Meisterschaft ausbildet. Die Namen der verschiedenen Gewerbsabstufungen sind sämmtlich dem Argot, dem Gaunerrothwälsch, entlehnt, einer Sprache, die reich ist an energischen Ausdrücken und treffenden Bildern und Vergleichungen und ihrerseits zum Theil dem Kalo der Zigeuner entstammt.

Als Debüt in der Kunst der Annexion gilt der Diebstahl „am Pfefferstrauch“ (vol au poivrier). Unter „Poivrier“ versteht die Gaunersprache nämlich einen betrunkenen Menschen, der, seiner Füße und Sinne nicht mehr mächtig, in den Pariser Straßen umhertaumelt und nach einem Plätzchen trachtet, wo er seinen Rausch ausschlafen kann. Sowie der Dieb eines solchen Pfefferstrauches ansichtig wird, folgt er ihm, stellt sich, als wolle er ihm Hülfe leisten, und schafft ihn nach einer Ruhestatt, meist einer Bank auf den Boulevards. Während er ihn nun hier in bequeme Lage zu rücken sucht, plündert er den Bewußtlosen dabei gemüthlich aus und geht in aller Ruhe davon, sobald er sein Opfer schnarchen hört. Unter den Taschendieben, den Tireurs, sind die vornehmsten die tireurs à la chicane, d. h. jene außerordentlichen Meister ihrer Kunstbranche, welche dem Opfer, das sie ausbeuten, den Rücken zukehren. Einer der berühmtesten aus dieser höchsten Classe von Taschendieben war ein gewisser Mimi Lepreuil, welcher bei seinen Genossen nur „die goldene Hand“ hieß. Die Polizei kannte ihn recht wohl und würdigte ihn einer ganz besondern Ueberwachung, allein es glückte ihr niemals, den Gauner auf der That zu ertappen. Schließlich hatte er sich vom Geschäfte zurückgezogen und lebte mit der nicht zu verachtenden Jahresrente von fünfzehntausend Franken als „respectabler“ Particulier, soll indeß später wieder herabgekommen sein und jetzt den Mouchard, Spitzel, machen. Einst war vor der Börse ein Arbeiterkrawall entstanden, und unter der Menge befand sich auch die „goldne Hand“. Ein Polizeiagent erkennt den Mann und fordert ihn handgreiflich auf, sich zu entfernen. „Lassen Sie mich doch in Ruhe,“ anwortet ihm Lepreuil indignirt; „die Bummler da sind ja der Mühe des Stehlens gar nicht werth; ich habe schon fünfhundert Taschen untersucht und auch nicht einen Sou darin gefunden.“

Wirklich staunenerregend ist die Dreistigkeit, mit welcher der Dieb à l’étalage, d. h. an den Auslagen vor den Verkaufsläden, mitten in den belebtesten Straßen und am hellen lichten Tage seinem Geschäfte nachgeht, noch wunderbarer aber seine Geschicklichkeit. Manchmal räumt ein solcher Ladendieb die Magazine eines ganzen Stadtviertels ab. Ganz vor Kurzem erst kam ein junger Mann zur Haft, bei dem man eine Cigarrentasche, einen goldenen Ring, einen eleganten Spazierstock, eine Brieftasche und ein Paar Damenstiefeln fand, Alles funkelnagelneu, die Ernte eines einzigen Morgens von verschiedenen Ladenauslagen in den frequentesten Stadttheilen. Manchmal betheiligen sich auch zwei am Geschäft; der Eine stiehlt einen der ausgelegten oder aushängenden Gegenstände und eilt davon. Sobald er aus dem Gesicht ist, tritt sein Spießgesell in den Laden, macht den Inhaber auf den Diebstahl aufmerksam und weist auf einen beliebigen Vorübergehenden als auf den Dieb. Wüthend stürzt der Kaufmann dem vermeintlichen Spitzbuben nach, sein Personal, die Nachbarschaft schließt sich ihm an, und diesen Moment benützt der Helfershelfer, sich seinerseits in das Verkaufslocal zu verfügen, um sich daraus in aller Gemächlichkeit anzueignen, was ihm verwerthbar scheint.

Eine noch weit gefährlichere Diebesspecies sind die „à la vrille“ arbeitenden Langfinger, die oftmals ein ganzes Magazin von A bis Z ausplündern, so daß der arme Besitzer darin nichts mehr vorfindet als die nackten Wände. Unter dem Vorwand eines kleinen Einkaufs tritt bei Tage der Dieb in den Laden, prägt sich die Einrichtung desselben genau in’s Gedächtniß, erspäht, wo die Ladencasse verwahrt wird und ob die Klingel an der Thür etwa mit den Wohngemächern des Kaufmanns in Verbindung steht. In den ersten Morgenstunden, wenn auch das rastlose Paris endlich auf kurze Zeit eingeschlafen ist, erscheint er nun mit seinen Cumpanen auf dem recognoscirten Terrain. In die meist mit Eisen gefütterten Fensterläden wird mit Hülfe eines Metallbohrers dicht neben einander eine Reihe von kleinen Löchern gebohrt, bis sie sich nach und nach zu einer Oeffnung erweitern, welche groß genug ist, ein Kind durchschlüpfen zu lassen. Dieses, der sogenannte Raton, das Mäuschen, ein gewandter, schmächtiger, kleiner Junge, muß nun hinein, um die ihm bezeichneten Gegenstände zusammenzuraffen und sie den Dieben draußen zuzustecken. Sind die zu stehlenden Dinge umfänglicher Art, so sperrt das Mäuschen die verwahrte Ladenthür auf, die Diebe dringen in das Local und räumen in aller Bequemlichkeit darin auf, während natürlich auf der Straße ein Posten Wacht hält, um Alarm zu geben, sowie sich etwas Verdächtiges regt. Die Diebe à la vrille sind verwegene Bursche, welchen es gelegentlich auch auf einen Mord nicht ankommt.

Minder gewaltsam verfahren die Carreurs, fast ohne Ausnahme vom Stamme Juda’s, die alle äußersten Mittel thunlichst vermeiden. Der Carreur ist höflich, fein und elegant gekleidet und affectirt in seinem Französisch gewöhnlich einen ausländischen Accent. Seine Beute sind die Juweliere, von denen er sich nicht gefaßte Diamanten, sogenannte Steine in Papier, vorlegen läßt. Man beeifert sich dem vornehm aussehenden Käufer die kostbaren kleinen Couverts auseinander zu falten, welche oftmals Hunderte der werthvollsten Brillanten umschließen. Unser Carreur ist stets kurzsichtig, er muß die Steine ganz nahe an’s Auge halten, um sie prüfen zu können, so nahe, daß die Nase mit den Diarnanten in Berührung kommt. Die Nase aber ist mit Jungferwachs überzogen und ein paar kleine Brillanten bleiben zufällig daran kleben, um mit Blitzesschnelle im Aermel des Gauners zu verschwinden. Dann und wann macht er seine Annexionen wohl auch mittels einer schnellen Zungenbewegung oder durch seine hohle Hand, die mit Gummi Tragant bestrichen ist. Arbeitet der Carreur in einem offenen Bijouterieladen, so ist sein Verfahren ein etwas anderes. Während er sich die ihm vorgelegten Ringe und Nadeln besieht, erscheint ein Bettler an der Thür und bittet näselnd um ein Almosen. Der Carreur ist gutherzig und leicht

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 640. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_640.jpg&oldid=- (Version vom 20.10.2022)