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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

Augenblicke allerdings war die Kette loser und drückte eben so wenig als des Vaters ihm mit auf den Weg gegebene Lebensregeln auf sehr williges Gehör trafen, obgleich sie kurz in zwei Worte zusammengefaßt wurden. „Halte Haus in moralischer wie physischer Beziehung!“ Und doch mußte er in der schönen kraftvollen Greisengestalt des Vaters, seinem freien offnen Gesicht den besten Beleg für die Trefflichkeit der Lehre vor sich sehen.

Dem Vater war das Haushalten sichtlich gut bekommen. Ueber dem frischen gebräunten Gesicht des Sechszigers schmiegte sich der volle Haarwuchs noch in dienstmäßigem Scheitel an die breite Stirn, seine Haltung war gerade, sein Schritt elastisch und die dunkeln Falten, die sich über die Stirn zur Nasenwurzel hinabzogen, hatten viel weniger seine verflossenen Lebensjahre als sorgenvolle Gedanken um die kommenden seines Sohnes so vertieft.

Vielleicht dachte Clemens an diese Falten, als er in dem eben erwähnten Cabinet am Fenster saß, tief hintenüber gelehnt, den unentbehrlichen Antimacassar als Unterlage des glänzend geölten Haupthaars, das eine Bein auf den gegenüberstehenden Stuhl, das andere auf das Fensterbrett gelegt, um den Kleinstädtern mit diesem Beispiel halsbrechenden Comforts zu imponiren.

Sein feines regelmäßiges Gesicht hatte er dem Fenster zugekehrt und seine Augen, hübsch von Farbe und Schnitt und in natürlichem Zustande sprühend von Lebenslust, blickten etwas unlustig über den Marktplatz, während die Unterhaltung der Andern an seinem Ohr vorüberbrauste.

Es war von einem Subscriptionsball die Rede, der an dem nächsten Abend in dem in demselben Hotel befindlichen Ressourcelocal stattfinden sollte und zu dem Brücken von einem seiner jungen Collegen eingeladen war, um so auf die bequemste Weise in die Gesellschaft eingeführt zu werden.

Sämmtliche Honoratioren der Stadt und Umgegend wurden dazu erwartet und man ließ sie schon vorher Revüe passiren.

"Verdammt viel hübsche junge Damen haben wir hier, Schönheiten ersten Ranges. Sie werden staunen, Brücken“ sagte einer der Herren.

Der Angeredete wandte langsam den Kopf nach ihm um.

„In der Hauptstadt giebt es keine hübschen jungen Mädchen, Alle vertanzt, sagt man.“

„Alle?“ fragte Brücken mit leichtem Spott.

„Alle. Eine Masse Bälle dort, aber hier nicht weniger, müssen Sie wissen.“

„Aber hier bekommt den Damen das Tanzen bester?“ fragte Brücken in derselben Weise.

„Bessere Luft, nicht die eingeengte der Hauptstadt, müssen Sie wissen. Freilich wenn’s mit dem Anbauen so fortgeht, werden wir sie auch bald haben. Haben sonst Alles schon. Intelligenz, Elegance, großstädtische Allüren, feinen Ton. Sie werden ja sehen, werden ja vergleichen.“

„Ich bin schon seit Jahren auf keinem Ball mehr gewesen, es giebt bessere Vergnügungen,“ sagte Clemens gelangweilt.

„Gewiß, für Junggesellen Wirthshausleben, Billard, Kegel, Diners, höchst fein und üppig, in Hamburg nicht besser,“ fuhr der enthusiastische Lobredner seines kleinen Heimathstädtchens fort.

Brücken wandte den Kopf wieder dem Fenster zu. Die Andern lachten laut auf.

„Wahrhaftig, Lindemann,“ sagte einer der Andern, „Sie sind doch der eingefleischteste Kleinstädter, den ich kenne. Ich glaube, wenn Einer die übelriechenden Gossen der Hauptstadt rühmte, Sie finden sie durch die hiesigen übertroffen oder sprechen wenigstens die Hoffnung aus, daß sie es bald sein werden.“

Lindemann vertheidigte sich. Der Strom der Unterhaltung brauste weiter, vielleicht war’s auch nur ein plätschernder Bach, ein seichtes Wasser, das hin und her durch einen hineingeworfenen Stein ein wenig höhere Bewegungen zu machen schien. Brücken war schon wieder in Gedanken versanken.

Noch einmal, dachte er an die tiefen Stirnfalten des Vaters, die doch noch viel tiefer würden, gelänge es ihm, dem Sohn, nicht, sich durch einen glücklichen Coup gründlich aus den drückenden Verhältnissen zu reißen. Oder dachte er an den Brautschatz der Schwester, der sich in so und so viel perlende Champagnertropfen aufgelöst hatte, die des Lächelns wahrlich nicht werth waren, das in dem freundlichen Gesicht Bertha’s einige aufquellende Thränen glücklich verschleiert? – Auch egoistische Menschen haben Regungen warmen, selbst enthusiastischen Gefühls, es ist nur nicht nachhaltig genug, zu einer Kraft der Seele zu werden, die ruhig über das eigene Ich hinwegschreitet, die Empfindung zur That zu machen.

Solche Regungen und Wallungen können recht unbequem werden, man muß sich von ihnen los zu machen suchen.

Brücken klopfte die Asche von der Cigarre. Bah, fast so leicht lassen sich die Sorgen abschütteln, wenn man genial genug ist, nicht über den nächsten Augenblick hinauszudenken. Eine frische Cigarre wurde angezündet, hellere Bilder stiegen hinter dem sich kräuselnden Rauch empor: ein Mädchenkopf von dunkelbraunen Locken umwallt, zum Küssen, zum Aufjauchzen lieblich in seiner anmuthigen Frische und seinem natürlichen Ausdruck unschuldiger Heiterkeit und reicher Seelengüte.

Er liebte das Mädchen. Er hatte Zugang überall, wo er ihn haben wollte, auch bei der ehemals berühmten Schauspielerin, deren Nichte sie war und die einer Bildungsschule für angehende dramatische Künstlerinnen vorstand. Es war nicht schwer, sich ihr zu nähern, aber unmöglich, sie mit der Freiheit des Tons zu behandeln, der dort heimisch war. Sie war so sittsam in der Form wie im Wesen, ihre kindliche Natürlichkeit nahm nie auch nur den Schein herausfordernder Koketterie an und der Keckste wurde ihr gegenüber bescheiden.

Clemens liebte sie, und so wenig er sich sonst in ähnlichen Fällen besonnen hatte, sich seinem Gefühl rücksichtslos hinzugeben, so wenig genau er es damit nahm, sogenannte Liaisons anzuknüpfen und abzubrechen, so wenig er sich auch hier sagte: dies Mädchen ist eines besseren Schicksals werth, hier handelt es sich um Glück und Verderben eines unschuldigen Herzens, so hatte er doch einen instinctmäßigen Respect vor der weltklugen und welterfahrenen Beschützerin des jungen Mädchens, hatte vor nichts mehr Angst, als einmal fest in der Schlinge zu sitzen, an der die rothe Beere verlockend winkte.

Er hatte sich also dem Mädchen gegenüber in Schranken gehalten, nicht ihret-, seinetwegen hatte er ihr nie gesagt, daß er sie liebe, aber es giebt eine Sprache ohne Worte, hatte er die auch nicht gesprochen?

Als er dorthin zum Abschiednehmen ging, wählte er absichtlich eine Unterrichtstunde. Ihm, dem Liebling der alten Dame, war die Freiheit gestattet. Er fand sämmtliche Elevinnen beisammen. Ein lauter Ausruf des Bedauerns beantwortete die Nachricht von seiner Versetzung. Der alte Vater wurde ob der gesponnenen Intrigue in leichtsinnigen Witzworten verhöhnt, er selbst stimmte ein. Sie stand von fern und sagte kein Wort.

„Mir bleibt nichts übrig als eine Kugel, Amerika oder eine reiche Heirath!“ sagte er absichtlich.

Sein Blick flog zu ihr hinüber, ihr Auge blieb stumm. Das pikirte ihn. Er nahm nun Abschied. Das war eine seltsame, wilde Scene. Lachen und Thränen, Schelt- und Liebesworte bunt durcheinander. Er schüttelte Allen die Hände, die alte Dame küßte ihn. Ihr machte er eine tiefe Verbeugung. Die Komödie war aus. Nach Keiner der Andern sich umsehend, ging er eilig fort. Eine unruhige Bewegung, als er die Thür hinter sich schloß, sie wurde unmittelbar hinter ihm wieder aufgerissen, wie der Wirbelwind stürmten einige der jungen Damen an ihm vorbei.

„Wasser, Wasser! Die Kleine ist ohnmächtig, das ist Ihre Schuld, Barbar, Ungeheuer!“ und Cécile Durando, das zehnjährige Töchterchen der Dame, ein schwarzäugiger Wildfang, drohte ihm mit der kleinen Faust.

„Du machst mir schöne Dinge, Du!“ sagte sie, „Du bist mein Bräutigam, weißt Du. Wenn ich groß bin, heirathe ich Dich, ich habe Dich am liebsten,“ und sie griff nach seiner Hand und küßte sie mit wildem kindischem Ungestüm und etwas von der neidischen Eifersucht des Hundes in ihren Gefühlen, die nicht leiden mag, daß ein Anderer von ihr gestreichelt werde. Es war doch Temperament in dem Kinde.

Schade, auch die kleine Cécile sollte er für’s Erste nicht wiedersehen. Ein Act aus der Komödie des Lebens war ausgespielt, Clemens bildete sich ein, nun den Vorhang fallen zu sehen aber es war der Rauch, den er in dichten Wolken aus seiner Cigarre blies. Er warf sie fort, und sein Gesicht langsam den Genossen zuwendend, schien er wenigstens passiven Antheil an dem Gespräch nehmen zu wollen.

„Die Gülzenower Dame,“ entgegnete Lindemann auf die Frage eines der Herren, der auch erst seit Kurzem im Ort anwesend war, „die Gülzenower Dame ist eine alte Frau von Fuchs,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 628. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_628.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)