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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

nur wenige Fuß erhebt, so daß der schöne blitzende und glitzernde Flußspiegel mit seinem ewig wechselnden Leben von Gondeln, Badekähnen, Segelbooten, Dampfern, Flossen fast in das Bereich unserer Hände gerückt ist und der frische Hauch des Wassers um die Wangen fächelt.

In einiger Entfernung zur Linken wird der Strom in schräger Richtung von der neuen Eisenbahn- oder Marienbrücke überjocht, welche die Bahnhöfe der am rechten Ufer liegenden Neustadt mit dem grandiosen Centralbahnhof in der Altstadt verbindet. Ueber der Brücke und durch ihre Bogen hindurch sieht man am Horizont, Meißen zu, die schon in bläulichem Abenddufte verdämmernden Rebhügel des unter dem Gesammtnamen der Lößnitz begriffenen Wein- und Villendistricts. Jenseit der Elbe, gerade vor uns, baden die Gebäude der Neustadt ihren Fuß im Wasser; uns zur Rechten endlich haben wir den Glanzpunkt des Bildes, „die große Brücke“.

Wer hätte nicht schon von dieser Brücke gehört, die für jedes echte Dresdener Kind ein Gegenstand des höchsten Stolzes, die ihm „die Brücke“ schlechtweg ist? In der That, „die große Brücke“ mit ihrer heiteren Bewegung, mit der anmuthvollen, weichen Stimmung der Landschaft rechts und links, mit den sich beständig erneuernden Bildern, die sie bietet: ihren Omnibus voller fröhlicher Menschen, welche nach dem Lincke’schen Bade, nach dem Waldschlößchen, nach dem Weißen Hirsch und den vielen anderen Luftorten trachten, die sich an und auf der Hügelkette des rechten Elbufers aneinander drängen; ihren sich unaufhörlich kreuzenden Droschken voll ab- und zuströmender Reisenden; ihren eleganten Equipagen, in denen die reiche und vornehme Welt nachlässig hingegossen durch das Leben rollt; ihren promenirenden Paaren und Gruppen in modernsten, reichen Toiletten; ihren Soldatenzügen zu Fuß und zu Roß, welche mit klingendem Spiel und blasenden Trompeten zur Hauptwache marschiren – mit diesem Allen zusammen übt sie einen Zauber aus, der uns immer von Neuem gefangen nimmt. Namentlich Nachts aber, wenn die in Stadt und Vorstädten entzündeten Lichter und Gasflammen beide Elbufer stundenweit mit einer ununterbrochenen Funkenschnur umflammen und sich unten in der Fluth in endlosem Reflexe wiederholen, ist die Brücke eine Wandelbahn, so traum- und feenhaft schön, daß der geschickteste Theaterdecorateur einen mächtigeren Bühneneffect nicht zu ersinnen vermöchte. Mit einem Worte: die Brücke ist ein Hauptelement im Ensemble von Dresdens wie speciell von „Helbigs’“ Reizen; ohne sie wäre letzteres nimmermehr geworden, was es heute ist. Sie liegt hoch über unserem Observatorium, so daß fast jeder ihrer Bogen sich zum Rahmen eines abgerundeten lieblichen Bildes gestaltet. Es sind dies gewissermaßen die Vor- und Eingangshallen zur sächsischen Schweiz, denn dort hinauf geht es nach diesem ausgetretenen und doch unerschöpflich schönen Touristencanaan, dem Lieblingsziel für Pfingstfahrten und Hochzeitsreisen in ganz Nord- und Mitteldeutschland, und die rechts unser Panorama begrenzenden Waldberge mit ihren vielen, vom letzten Tagesscheine in Gluth getauchten hellen Punkten sind die schlösser- und villenbesäeten Höhen um jenes anmuthige weingrüne Loschwitz, das sein edelster Sommergast, unser Friedrich Schiller, für alle Zeiten zur heiligen Stätte geweiht hat.

Halt! Dort unter der Mittelhalle hat sich inzwischen ein Tisch geleert; eilen wir davon Besitz zu ergreifen, so lange es Zeit ist, denn schon steuern neue Zuzüge auf ihn los. „Zu schön, wundervoll, himmlisch!“ – „Now, that is beautiful indeed!“ – „Ah, que cela est beau!“ tönt es, je nach den verschiedenen deutschen und fremdländischen Vaterländern der Bewundernden uns entgegen, wie jetzt mit den intensiven Farbentönen der scheidenden Sonne das wonnesame Gemälde sich immer magischer verklärt, und deutet uns an, daß jene Zug- und Wandervögel, welche alljährlich bald nach den Schwalben in Dresden und Umgegend als hochwillkommene Eindringlinge erscheinen, das wesentlichste Contingent zu Helbigs’ Publicum stellen. Gut neun Zehntel desselben kommt, wenigstens im Sommer, auf ihre Rechnung; das lehrt uns außer dem Ohr, an welches vorzugsweise die schärferen Klänge norddeutscher, speciell spree-atheniensischer Dialekte schlagen, der erste Blick in das vielgestaltige, bunte, kaleidoskopisch wechselnde Menschentreiben um uns herum, das ebenso wie Lage und Umgebung, wie Ausdehnung und Eigenthümlichkeit der Etablistements Helbigs’ Elbterrasse zu einem Unicum ihrer Art und zu einer so interessanten Bühne für allerhand anthropologisch-ethnographische Beobachtungen und Studien stempeln.

Bereits schwimmt das Etablissement in einem Lichtermeere, als sich ein neuer Menschenschub die Stufen in der Ecke herabwälzt. Die Oper ist aus, und eine gute Anzahl ihrer Besucher, Damen wie Herren, spricht noch zu einem Nachttrunke und Plauderstündchen bei Helbigs ein. Wir mustern das gemischte Völkchen, wie es sich auf der Treppe drängt, bis unsere Augen auf einer langen in Grau gehüllten Gestalt haften bleiben. Auch sie hat uns alsbald erkannt und schreitet, mit dem Taschentuche grüßend, auf unser Plätzchen zu. Der freundliche Herr, etwas über die Mittagshöhe des Lebens hinaus, ist der Redacteur des verbreitetsten Dresdener Organs, Dresdener von Geburt und, wie man sich denken kann, eine der bekanntesten Persönlichkeiten Dresdens, seinerseits mit Menschen, Dingen und Zuständen desselben vertraut wie wenige Andere, obwohl sein Beruf ihn fast den ganzen Tag an den Schreibtisch fesselt.

„Ich bin kein regelmäßiger Gast bei Helbigs,“ nahm er nach landesüblichem Gruß das Wort, „wir Dresdener überhaupt verkehren hier meist nur im Winter, im Sommer überlassen wir die Elbterrasse den Fremden. Sollten Sie heute dennoch dieser oder jener unserer ‚Berühmtheiten‘ hier begegnen, so haben Sie dies nur einem günstigen Zufall zu danken. Und merkwürdig! dort kommt wirklich ein Paar, das ich jemals bei Helbigs gesehen zu haben mich kaum entsinne. Gewiß kennen Sie es noch aus früheren Tagen?“ richtete er seine Frage an mich.

Ich blickte auf. Freilich erkannte ich den Mann mit den seltsamen interessant-häßlichen Zügen, die sich so leicht nicht vergessen lassen, auf der Stelle, aber er war alt geworden, recht alt und grau und schien etwas lässig in Gang und Haltung seit jenen Tagen in Leipzig, wo er, nach einem bewegten Journalistenleben in Wien, Berlin, Hamburg, München und Zürich, seine kleinen pikanten Geschichten und noch pikanteren Notizen im „Charivari“ schrieb, einer der Pioniere des aus Frankreich nach Deutschland verpflanzten graziös-leichten Feuilletongeplauders. Ja, es war der alte Eduard Maria Oettinger, heut’ wie damals zierlich und patent in Anzug und Tournure und heut’ wie damals am Arme seiner Gattin, die vierzig Jahre hindurch Freud’ und Leid getreulich mit ihm getheilt hat.

„Unsere Schriftsteller und Künstler,“ fing unser Dresdener Journalist wieder an, „leben im Ganzen wenig genossenschaftlich. Zudem sind die Meisten augenblicklich nah oder fern irgendwo in der Sommerfrische. Andree z. B., den Sie ja kennen, der kenntnißreiche Ethnolog und Geograph, der Herausgeber des vortrefflichen ‚Globus‘, sitzt über seiner großen ‚Handelsgeographie‘ draußen im gastlich-reichen Maxren bei der edlen Majorin Serre, der Wittwe unseres Schillerstiftungsgründers; Gustav Kühne, der alte Kämpe vom ‚Jungen Deutschland‘, einer von den weißen Sperlingen unter uns mit Haus und Hof, vergräbt sich in sein reizend in Bäumen verstecktes Landhaus in Niederpoyritz unweit Pillnitz, wenn er nicht etwa mit seinem eigenhändig vom Bock gelenkten großen Schimmel Weg und Steg unsicher macht; ein Zweiter jener verschwindend kleinen Minderzahl, Waldmüller-Duboc, der Dichter sinniger, fein ausgemalter Novellen, thront auf waldiger Höhe in seiner aussichtreichen Schweizervilla bei Wachwitz; Andere, so den immer gleich frischen, gleich unabhängigen, gleich fleißigen und gleich biederen Weltumsegler Gerstäcker, bekommt man gar nicht zu sehen; der harmlos-humoristische Dorfbarbier, der liebenswürdige und gemüthliche Stolle ist durch den Tod seiner Gattin gegenwärtig in tiefes Leid versenkt, und so geht Einer an dem Andern vorüber seine eigenen Wege und seinen eigenen Zwecken nach.

Dresdens literarischer Ruhm ist ja überhaupt verklungen, er gehört jener politisch-stillen und öden Zeit an, wo das Lämpchen der Abendzeitung glimmte, wo der artige Theodor Hell sie und das Hoftheater regierte und unermüdlich französische Bühnenstücke übersetzte; wo der anspruchslose Friedrich Kind den Freischütz dichtete; wo der Commissionsrath Schulze als Friedrich Laun seine leichte Novellenwaare auf den Markt brachte; wo um Elisa von der Recke und ihren Trabanten Tiedge eine Anzahl schöner Seelen sich schaarte; wo der glatte Kammerherr von Wachsmann seine historischen Salonnovellen in den ‚Lilien‘ mittheilte; wo

Fr. von Brunnow seinen ‚Ulrich von Hutten‘ schrieb; wo der

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