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verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

Das Leben der Blumen

„Keine Pflanze ohne Seele“. – Blumenschlaf. – Die Blumengesichter der Dämmerung. - Verschiedene Schlafweisen. – Schlaf der Blumenglieder. – „Nun ruhen alle Wälder“. – Die Tagblumen. – Die Nachtblumen. – Die Königin der Nacht. – Die Nachtigall der Blumenwelt. – Die Blumenuhr.

Die Blumen verstehen uns nicht. Der Ausspruch des Aristoteles: „nulla planta sine anima“, „keine Pflanze ohne eine Seele“, hält nicht aus vor der besonnenen Untersuchung. Unser idealster Dichter selber, der „die Kinder der verjüngten Sonne“ preist, weil die Natur sie geliebt und „sie geschmücket mit der Farben Götterpracht“, weiß ihnen zum Schlusse doch nur zuzurufen:

Holde Frühlingskinder, klaget!
Seele hat sie euch versaget.

Indessen Züge lebendigen und nahezu seelischen Daseins sind doch unverkennbar an ihnen. Ja ihr Leben gleicht in mancher Beziehung dem unsrigen. An die Erde gebunden ringen sie doch dem Lichte nach, ganz wie das Menschenleben zwischen den Idealen und den dunklen Gebieten des materiellen Bedürfnisses schwankt. Sie haben gleich uns eine knospende Kindheit, entfalten sich zu jugendlicher Pracht und Kraft, bringen ihre Frucht zu ihrer Zeit und welken hin. Und wie ihr Leben zwischen dem ersten leisen Werden und ihrem Ende steigt und wieder sinkt, so wechselt ihre Lebensenergie auch periodisch an jedem einzelnen Tage. Wenn die Morgensonne aufgeht, erwachen sie wie wir; sie blühen dann lustig den Tag über, aber ihre Blumenaugen schließen sich traumhaft wieder zusammen, wenn die Dunkelheit hereinbricht.

Dieser mit dem periodischen Ebben und Fluthen des menschlichen Blut- und Nervenlebens übereinstimmende Zug ist der so genannte Blumenschlaf. Es ist das die Lebenserscheinung an ihnen, welche über ein blos mechanisches Geschehen hinauszudeuten und die Pflanze auf eine dem animalischen Leben gänzlich nahe stehende Stufe zu stellen scheint, so daß wir wirklich zustimmen möchten: „Keine Pflanze ohne eine Seele“. Es ist daher der Blumenschlaf, an dem sinnige Naturfreunde immer ihre Freude gehabt haben, auch eine für jeden Deutenden überaus interessante Seite des Pflanzenlebens.

Schon ein gedankenreicheres Bild wird uns bei dieser Beachtung der hereinbrechende Abend. In den Garten und auf die Wiese, die hinten an unsern Garten stößt, gehen wir hinaus, wenn die Schatten länger werden und die Luft des Tages sich abkühlt. Die ewige Mutter hat ihren weichen Dämmerschleier über alle ihre Kinder gebreitet, nachdem sie ihnen die Schale der Erquickung gereicht. Und nun schlafen sie Alle auf den Zweigen und im hohen Wiesengrase, in ihren Bauen und Nestern und Wohnungen mancherlei, – Alle, welche mit Gesang und Gesumme und tausendfältigem Leben, mit ihrer Unruhe und Leidenschaft den Tag erfüllten. Und auch über das Pflanzenreich hat weit und breit der Abend die erquickende Schale ausgegossen. Verschwunden sind die lachenden, schäkernden, aufgeschlossenen Blumengesichter, die in buntem Chore den Tag über durcheinander spielten und mit hellen Augen der Sonne, an der ihr Leben hing, zugekehrt waren. Hie und da nur lugt halboffen oder offen eine Blume noch in die braune Dämmerung hinaus. Aber die meisten schlafen schon, ehe die volle Nacht kommt. Hie und da ist auch ein müdes Insect, geschützt gegen den Thau der Nacht, in ihrem Blüthenkelche mit eingeschlossen.

Jede Pflanze hat dabei, was so seltsam, ihre eigene Weise.

Die farbige „Blume“ selbst begiebt sich zur inneren Ruhe; sie fällt in eine Art Schlaf, indem sie ihre bunten Fühlblätter einzieht und damit gegen die Außenwelt sich abschließt. Der Vorgang ist der, daß sie durch Einfaltung in den Knospenzustand zurückgeht, – ganz wie oft der Mensch im Traume in die Kindheit zurückkehrt.

Wie ferner sich das Haupt des Müden neigt, so giebt es wieder andere Blumen, die eine andere Weise belieben, indem sie ihr Blüthenköpfchen abendlich niedersenken. So das „Frühlingshungerblümchen,“ das im März und April alle Felder und Triften mit seinen kleinen weißblühenden Stengelchen überschleimt; eine Königskerzenart; Wolfsmilcharten; eine „Ranunkel“; die schlanken Rispen des hohen „Wald-Labkrautes“ hängen ruthenförmig übergebogen. Wieder bei anderen, z. B. bei dem gelben „Rühr-mich-nicht-an“, dieser bei uns wilden Balsamine, verstecken und schmiegen sich die zarten Blumen zur Nachtzeit unter die Blätter, wie sich die Kinder unter den trauten Schutz einer Mutter begeben.

Der Schlaf der Pflanze reicht aber über die Blumen hinaus und macht sich vielfach an allen ihren Gliedern geltend. Den Blüthen, die sich schließen oder neigen, folgt darin oft auch das Laubgeblätter. Die Blätter legen sich im Allgemeinen enger an den Stengel an. Oder auch, sie falten sich zusammen. Oder sich deckend legen sie sich über einander, ganz wie im Schlaf die Spannung unserer Muskeln aufhört und die Glieder malt sich strecken.

So legen sich, Jedermann bekannt, an einander die Fiederblättchen der Mimosen, Acacien und Cassien und aller denen ähnlichen Sträucher und Bäume aus der Familie der Leguminosen oder Schmetterlingsblüthler. Ihre Familienverwandten, unsere Wicken und Ginster und Erven und anderes Leguminosenkraut, thun mehr oder minder auf gleiche Weise, legen, wie wir es jeden Abend sehen können, ihre paarigen oder fiedrigen Blättchen an einander. Ebenso die dreizähligen Blätter des Klee und noch mehr des Sauerklee biegen sich zu einander auf, berühren sich mit ihren Rändern und verharren in dieser Ruhelage die Nacht über.

„Nun ruhen alle Wälder“, wie das christliche Abendlied sagt. Und diese dem Auge wirklich sichtbare Waldesruhe gilt besonders von den tropischen Ländern, wo die Mimosen mit ihren zartgefiederten Blättern, welche die Himmelsbläue effectvoll am Tage durchschimmern lassen, ganze ausgedehnte herrliche Waldungen ausmachen. Diese schönen Sensitiven folgen der Sonne in ihrem scheinbaren täglichen Laufe, wie kein anderes Wesen der Erde.

Aber nicht nur in und über allen Wipfeln ist Ruh, wie auch der Dichter es spürte. Nicht minder unten auf blumigem Grunde ist Alles in Schlaf versunken. Wir gehen, den Wald verlassend, den engen Pfad über die Wiese. Die ausgelassenen Ranunkeln, die schlichten Kreuzblüthler haben ihre Blumenkronen zur Knospenfaltung zusammengelegt. Das Gänseblümchen hat seine weißen Zungenstrahlen über die gelbe Blüthenscheibe gebogen, und ebenso hat die großblüthige Wucherblume, der Löwenzahn, die himmelblaue Cichorie, das ganz zahllose Völkchen der Vereins- oder Korbblüthler gethan. Nur die behelmten rothen und weißen Taubnesseln und Löwenschnäuzchen und Vergißmeinnicht, Schwarzwurz und Glockenblume bleiben offen Tag und Nacht, kurz alle die, deren Blumenkrone aus einem einzigen Stück besteht. Wir kommen einen Feldweg entlang. Alle die neckischen Feldgeistchen sammt der betäubenden Roggentrud, die, wie die Sage geht, am Tage zum Schrecken der Kinder über die Getreidefelder wacht, - alle die guten und bösen Geister des Blumenreiches sind in Schlaf verfallen. Die Kornblume hat ihre blaue Krone zugezogen, die lilae Rade steht geschlossen, die Winde hat ihren Silberbecker leise eingefaltet, die weißen Strahlen der Kamille umstehen aufrecht ihre gelbe Scheibe. Nur die schwellenden Roggenähren wogen unverzagt in die Nacht hinaus. Und wie auf Wiese und Feld und im Walde, so ist’s im Garten. Selbst auf dem Wasser taucht die schwimmende gelbe und weiße Seerose unter mit geschlossener Krone, um sich am Tage mehrere Zoll wieder über den Spiegel zu erheben und neu zu erschließen.

Der Morgen kommt und die Sonne geht auf. Und wenn die Strahlen aus der Höhe die Schlafenden treffen, dann wachen sie allmählich wieder auf. Sie erwachen nach der zeitlichen Ordnung, wie sie schlafen gingen, die einen früher, die anderen später. Und nun blühen die meisten den ganzen Tag über, wofern nicht die Sonne sich anhaltend verzieht und aus dem Gewölke ein derber Regen droht. In dem Falle halten freilich manche leicht den Tag schon wieder für anbrechende Nacht und machen sich leise zum Schlummer fertig. So habe ich eine Tulpe beobachtet, die sich an einem Tage mit recht unbeständigem Wetter fünf Mal schloß und fünf Mal durch die aus dem Gewölk hervortretende Sonne sich zum Oeffnen bringen ließ. Vom Lichte leben und am Lichte hängen die zarten Elfenwesen nun einmal und flüchten sich in sich selbst zurück, sobald diese Lebensquelle ihnen schwindet.

Man hat diese insgemein die Tagblumen genannt.

Es giebt unter diesen Tagblumen aber auch ephemere, deren Leben mit einem einzigen sich Oeffnen und sich Schließen abgelaufen ist. Gehen wir früh um die sechste oder siebente Morgenstunde über ein blaublühendes Flachsfeld, so lacht unser Herz vor

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verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1869, Seite 606. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_606.jpg&oldid=- (Version vom 5.10.2022)