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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)


Er blätterte weiter, er suchte nach weitern Erwähnungen des B., das ihn so betroffen gemacht hatte … da fiel sein Auge auf etwas, das ihn noch mehr betroffen machte – auf die Buchstaben G. de B. – ‚Es ist merkwürdig,‘ hieß es, ‚wie G. de B. so völlig verstummt ist, oder hast Du Nachrichten von ihm?‘

G. de B. hatte sich ja auch der Mann unterschrieben, der ihm das Kind hinterlassen! Wie seltsam! War …

Aber Wilderich durfte die Zeit nicht mit Grübeln darüber verlieren.

Er sprang auf, steckte die Briefe zu sich, ordnete seinen Anzug – des Hausknechts auf dem Tische liegende Kleiderbürsten kamen ihm dabei sehr zu Statten – und ging das Haus des Schöffen Vollrath zu suchen.

Es war nicht schwer, es aufzufinden. Ein Knabe zeigte es ihm.

Vor dem Hause standen zwei Schildwachen; es mußte also ein hoher Befehlshaber in demselben einquartiert sein. Für Wilderich hatte dieser Anblick etwas Beunruhigendes. War er bis jetzt im Wirrwarr des Rückzugs und der Flucht unangenehmen Begegnungen mit Leuten, welche ihn nach seinem Truppentheile, seiner Bestimmung, seiner Ordre fragten, entgangen, so konnte es anders sein, wenn er in das Quartier eines Generals, unter dessen Ordonnanzen und Adjutanten gerieth. Sollte er umkehren und sich einen andern Anzug verschaffen? Er hatte keine Mittel dazu, er wußte nicht, wie dazu gelangen. Wenn er zurückging und sich an seinen Hausknecht wendete und in dessen Sonntagskleidern aus der Kammer herauskam, in welche er in der Chasseuruniform geschritten, so mußte er sofort die Aufmerksamkeit der Soldaten auf sich ziehen, die im Hofe und Stalle seines Wirthshauses lagen und herumlungerten. Dazu der Zeitverlust! Und hatte er nicht als Sicherheitspfand für den schlimmsten Fall seine Briefe?

So trat er mit der Miene ruhiger Unbefangenheit in das Haus ein. Der geräumige Flur war voll Menschen; Ordonnanzen standen da, Unterofficiere mit Rapporten, Bürger mit Reclamationen wegen ihrer Einquartierungen, Unterbeamte des Senats mit Aufträgen, Officiere, die Meldungen machen oder Befehle einholen wollten – auch Leute, welche mit gespannten Gesichtern zwischen zwei Wachen standen, unglückselige Arretirte, die vor den Commandanten geführt werden sollten, waren da – kurz Alles, was in solchen Tagen sich in einer besetzten Stadt um den Commandanten und zu ihm drängt.

Auf der im Hintergrunde der Flur emporführenden Treppe stand mit untergeschlagenen Armen ein langer, verdrossen aussehender Gesell, in einem langen blauen Rocke mit rothen Epaulettes, Revers und Aufschlägen, dessen Schöße bis auf die Waden fielen, in hirschledernen Hosen und Kanonen, das Haupt bedeckt mit einem großen Sturmhut mit rothem Federbusch. So, an das Treppengeländer zurückgelehnt, zwischen den übereinander geschlagenen Beinen den geraden Pallasch in weißer Scheide haltend, blickte er mürrisch auf das Gedränge unter ihm nieder, gegen das er als eine Art Damm zu dienen schien, der die Erstürmung der Treppe durch all die Harrenden hinderte.

Wilderich drängte sich bis an den Fuß der Treppe und sagte dem Mann, den die Uniform als Gensd’arm kenntlich machte.

„Kann man zum Schöff Vollrath hinaufgehn?“

On ne passe pas!“ lautete die barsche Antwort.

Ein wenig aus der Fassung gebracht, schaute Wilderich drein und wagte kaum, den bissigen Cerberus weiter anzureden, um ihm klar zu machen, daß er zum Hausherrn und nicht zum Commandanten wolle, als ein Diener in gelber Livrée an ihm vorüber kam, die Treppe hinaufzugehn. Er brachte diesem sein Anliegen vor.

„Folgen Sie mir nur,“ sagte der Diener, „diese Leute hier warten auf den Commandanten, der erst Punkt sechs Uhr wieder zu sprechen sein will; zum Herrn Schultheiß kann ich Sie führen.“

Er schritt die Treppe hinauf und Wilderich, jetzt unangehalten, ihm nach.




10.

Während Wilderich die auf einen ziemlich dunklen Vorplatz führende gewundene Treppe hinanstieg, saß der vom Obergeneral Jourdan von Würzburg aus als Commandant nach Frankfurt gesandte General Duvignot in einem bequem und wohnlich, wenn auch nach unseren Begriffen sehr einfach eingerichteten, auf den Hof hinausgehenden Zimmer in höchst lebhafter Unterhaltung mit einer Dame begriffen, welche wir kennen.

Duvignot war in der frühesten Morgenfrühe in Frankfurt angekommen; er hatte sein Quartier im Hause des Schöffen genommen. Am Morgen schon hatte er energisch, scharf und schonungslos die Zügel des Regiments ergriffen und vor Geschäften kaum die Zeit gefunden, um Mittag Frau Marcelline zu begrüßen, die unter dem Schutz des Capitains Lesaillier glücklich mit ihrem Gefolge eingezogen war. Vor einer halben Stunde hatte er eine durchgreifende Maßregel getroffen, um so viel Ruhe zu gewinnen, rasch eine Mahlzeit einzunehmen und dann ein Gespräch mit der Frau vom Hause halten zu können. Sie saß in einem an das Fenster gerückten Lehnstuhl, müde hingegossen, die Arme im Schooße, das Haupt vornüber gebeugt und auf den Boden niederblickend.

Der General stand aufrecht an dem Fenster, die linke Hand auf dem Knopf der Espagnolettestange, mit der rechten lebhaft gesticulirend.

Doch wurde das Gespräch nur leise flüsternd geführt.

„Ich versichere Dich, Marcelline,“ sagte er, „darüber kann keine Täuschung sein; wir sind vollständig geschlagen, daß an eine Behauptung Frankfurts gar nicht mehr zu denken ist; wir werden uns halten, so lange wir können, vielleicht noch vierzehn, vielleicht noch acht Tage, es hängt blos von der Energie ab, womit die österreichische Armee ihre Siege ausbeutet und auf uns drückt. Auch im besten Falle, wenn der Erzherzog sich jetzt durch den Odenwald links werfen und Moreau’s Rheinarmee zum Rückzuge zwingen würde, auch dann könnten wir das rechte Rheinufer nicht halten und müßten zurück, zurück nach Frankreich. Glaub’ mir’s, Marcelline!“

„Ich glaube Dir’s ja – aber bedarf’s denn etwas andres als einer kurzen Waffenruhe für Euch, um bald siegreich zurückzukehren, und wenn ich mich nun in das Schicksal fügen will, zu warten – ich, die so lange, so lange Jahre diese unselige martervolle Lage des sich Fügens und Harrens habe aushalten müssen, ich muß es ja können!“

Frau Marcelline sprach dies mit einem tiefen Seufzer und schmerzbewegt ihre Finger zusammenpressend.

„Harren, auf unsere Wiederkehr? Weißt Du, ob, wenn wir wiederkehren, ich unter denen sein werde, die unsere Fahnen siegreich hierher zurücktragen? Ob ich nicht längst dann in weite Ferne, nach dem Oberrhein, nach Italien gesandt sein werde?“

„Das hängt ja doch von Dir ab …“

„Und wenn auch, ich sehe nun einmal voraus, daß wir gar nicht wiederkehren werden.“

„Du zweifelst an dem Siege Deiner eigenen Waffen?“

„Nein, nicht deshalb. Ich sehe nur voraus, daß diesem Feldzuge der Friede folgen wird. Das ist unausbleiblich. Wir sind erschöpft; wir bedürfen des Friedens, das Directorium will den Frieden, und unsere Feinde? Trotz ihrer jetzigen Erfolge bedürfen sie seiner weit mehr noch als wir. Verlassen von Preußen können sie es gar nicht auf einen weiteren Krieg im folgenden Jahre ankommen lassen. Dieser Winter bringt uns den Frieden, so gewiß ich diese Hand ausstrecke, und deshalb, Marcelline, fasse Muth, sei groß und stark und entschließe Dich!“

„Ich kann nicht!“ lispelte sie leise. „Es ist unmöglich!“

„Unmöglich! Das Wort ist so leicht bei der Hand, wenn der Muth und der Wille fehlen!“

„Aber mein Gott, Du selbst kannst doch nicht so verblendet sein, nicht einzusehen, daß ich nicht den furchtbaren Schimpf, die Schande, die Verdammung aller Menschen auf mich laden, daß ich nicht meinen Mann in Verzweiflung stürzen und, auf nichts Anderes als die Stimme der Leidenschaft hörend, Dir blindlings nachfolgen kann, wohin Du mich führst!“

„Nicht? – Das könntest Du nicht?“ antwortete Duvignot bitter. „Die Urtheile der Menschen, die Rücksicht auf Deinen Mann sind Dir wichtiger als mein Glück, mein Leben, mein ganzes Dasein, das ohne Dich vernichtet ist?“

„O mein Gott, Du weißt, wie ich Dich liebe …“

„Liebe – eine Liebe ohne Vertrauen … Du vertraust mir Dein Loos nicht an, Du kannst Dich nicht ‚blindlings‘ von mir führen lassen, Du …“

„Wie ungerecht Du bist, mir so bitter vorzuwerfen, daß ich nicht taub und blind für Alles bin! Währe ich achtzehn Jahre,

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