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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

bleibt es nicht bei krummem Rücken und flacher Brust, sondern der Körper wird zugleich schief, woraus sich mit der Zeit wirkliche Entstellung entwickeln kann. Das ist kein Phantasiebild, sondern Ergebniß der Beobachtung fast aller Orthopäden!

Ich brauche wohl nicht mit ausführlichem Nachweis zu schildern, welche Nachtheile daraus entstehen, wenn das Kind seine ganze Schulzeit hindurch, also mindestens sechstausend Stunden, oft das Doppelte und mehr, auf ungeeigneten Bänken sitzt; wagt es doch Niemand mehr ernstlich zu bestreiten, daß schlechte Haltung, oft bis zum Schiefwuchs sich steigernd, flache Brust, mangelhaftes Athmen und in Folge dessen ungenügende Blutbildung in der Mehrzahl der Fälle von der Schulbank herzuleiten sind, und daß Kurzsichtigkeit und Verdauungsbeschwerden ebenfalls häufig auf dieselbe Ursache zurückgeführt werden müssen.

Natürlich hat es auch an Vorschlägen zur Abhülfe nicht gefehlt, von Schriftstellern der letzten fünf Jahre sind auf’s Genaueste die gesammten Maßverhältnisse bestimmt worden, welche den Schulbänken je nach der Größe der Kinder zu geben seien, und mit seltner Einstimmigkeit wurden die Grundzüge neuer Constructionen von ärztlicher Seite gebilligt, und was hier auf die Beobachtung am Lebenden gegründet war, fand von Seiten des Anatomen H. Meyer in Zürich seine weitere wissenschaftliche Bestätigung durch das Experiment.

Wer aber etwa geglaubt hatte, daß damit diese Sache erledigt sei, erkannte bald, daß er im Irrthum gewesen; was den Aerzten gefiel, wollte darum noch lange nicht auch den Schullehrern gefallen, und nicht der Lorbeer des Sieges war es, was den Streiter für die Schul-Gesundheitspflege erwartete, des Sieges über Irrthum und Schlendrian, sondern neuer Kampf mit den nun hervortretenden Anfordernden der praktischen Pädagogik. Verlangten z. B. wir Aerzte, daß die Schultafel in ihren Verhältnissen der Größe des Schülers angepaßt werde, so hatte man dagegen das Bedenken, daß dann die Kinder nicht nach Aufführung und Leistungen umrangirt werden könnten. Die ärztliche Forderung, daß, um einen guten Sitz zu ermöglichen, die Tafel ziemlich tief stehen und geneigt sein müsse, begegnete dem Einwurf, daß dabei die Bücher leicht herunterrutschen würden und daß die Lehrer sich zu stark vorbeugen müßten, wenn sie die auf der Tafel liegende Arbeit des Schülers besichtigen wollten. Und gar auf das „pädagogisch“ und „sanitätlich“ unerläßliche Aufstehen der Kinder gedenken die Lehrer auf keinen Fall zu verzichten; es galt also auf Mittel zu sinnen, um die Forderungen der Aerzte den pädagogischen Rücksichten anzupassen.

Was ist Alles versucht worden, um diese Aufgabe zu erfüllen! Scharniere nach verschiedenen Systemen, um die untere Hälfte der Tafel hinaufzuklappen, mancherlei Verschiebungsvorrichtungen für die Tafelplatte, Verschiebbarkeit der Sitze, Klappsitze – alle diese Auskunftsmittel sind praktisch versucht und noch viele andere ersonnen worden, aber dennoch ist es nicht gelungen, beiden Theilen gerecht zu werden. Ich selbst, der ich den hiesigen Stadtrath in dieser Angelegenheit zu berathen hatte, war nach längeren Versuchen und Verhandlungen nahe daran, auf die Lösung des Problems in der gesuchten Richtung zu verzichten und eine Verschmälerung der Bank als Auskunftsmittel vorzuschlagen, wobei zwar die Schüler ein Opfer an Bequemlichkeit des Sitzens hätten bringen müssen, jedoch die von uns geforderten Maß- und Abstandsverhältnisse von Tafel, Bank und Lehne unverändert geblieben und doch einige Zoll Raum vor der Bank zum Aufstehen gewonnen worden wäre.

Da kam Hülfe von einer Seite, wo Niemand sie gesucht hätte; einem Kaufmann war gelungen, was die zunächst betheiligten Lehrer und Aerzte vergebens versucht hatten. Herr Ernst Kunze in Chemnitz hatte, als es sich um Ausstattung eines neuen Schulhauses handelte, als Mitglied des betreffenden Stadtverordneten-Ausschusses auf Anschaffung zweckmäßiger Schultische an Stelle der gebräuchlichen angetragen und sich erboten, die dazu nöthigen Angaben zu machen. Auch ihm ist die Erfahrung nicht erspart geblieben, daß diese Sache nicht so leicht sei, wie er sie sich gedacht hatte; aber er besaß zum Glück Erfindungsgeist, Mittel und zähe Geduld und Ausdauer in hinreichendem Maße, um ungefähr ein Dutzend Probebänke nach einander zu construiren und herstellen zu lassen und so hat er endlich eine Bank zu Stande gebracht, welche von dem betheiligten Schuldirector sofort als das Ideal einer Schulbank bezeichnet und in seinem neuen Schulhause eingeführt worden ist und die diejenigen meiner Collegen welche sie gesehen haben und von mir befragt werden konnten, ebenso wie mich selbst wahrhaft entzückt hat.

Das Wesentlichste an dieser Kunze’schen Schulbank ist die Theilung der Tafel in einzelne Platten von der Breite, wie sie zum Schreiben erforderlich ist, und die Verschiebbarkeit jeder Platte. Nachdem eine Schiebevorrichtung für die ganze Tafel, die ich versuchsweise hatte herstellen lassen, deshalb nicht gebilligt worden war, weil die nothwendige Gleichmäßigkeit und Gleichzeitigkeit bei der Handhabung der Verschiebung bei Schülern nicht vorausgesetzt werden könne, erwog ich selbst den Gedanken, jede einzelne Platzbreite beweglich zu machen, verwarf ihn aber bald wieder, weil mir die Vorrichtung zu complicirt, kostspielig und zu leicht zerstörbar erschien. Die Kunze’sche Schiebeplatte aber ist so einfach und dauerhaft zusammengesetzt, läßt sich, wenn Ausbesserungen vorzunehmen sind, so leicht herausnehmen und erfüllt gleichzeitig verschiedene Aufgaben in so vollkommener Weise, daß ihr gegenüber alle früheren Bedenken sofort verschwinden.

Zu einer so ausführlichen Beschreibung dieser Bank, wie sie der Tischler braucht, um dergleichen neu anzufertigen, ist hier nicht der Platz[1] für geboten aber halte ich es, auf die Eigenthümlichkeiten hinzuweisen welche die Vorzüge der neuen Bank vor allen bis jetzt gebräuchlichen oder vorgeschlagenen bedingen und sie eben zu dem Ideal machen, welches sie in meinen Augen ist.

Auf den ersten Blick zeigt die Tafel wenig Besonderes. Sie läßt einen kleinen Zwischenraum zwischen sich und der Bank, wie wir ihn überall finden, ist etwas geneigt, wie es ebenfalls schon jetzt die meisten Tafeln sind, und läßt an ihrem vorderen Ende den ebenen Raum vermissen, in welchem gewöhnlich die Tintenfässer eingelassen sind. Sehen wir aber genauer hin, so fällt uns auf, daß jeder Platz durch eine schmale Leiste vom anderen oder vom seitlichen Ende der Tafel getrennt ist, und bei weiterer Untersuchung entdecken wir am vorderen Abschnitt der Tafelplatte ein stählernes Knöpfchen, welches sich seitlich verschieben läßt. Haben wir dies gethan, so können wir die Tafelplatte zwischen den Leisten um einige Zoll zurückschieben, bis sie den vorderen Rand der Bank um ungefähr Zollesbreite überragt. Hier läßt sie sich durch Zurückschieben des Knöpfchens wieder befestigen und kann nun zum Schreiben benutzt werden. Vor ihrem vorderen Abschnitte ist durch die Verschiebung ein etwas vertiefter Raum sichtbar geworden, welcher zur Aufnahme von Federn und Stiften bestimmt ist und am rechten Ende ein eingelassenes Tintenfaß zeigt. In allen Stunden, in welchen es nichts zu schreiben gabt, bleiben die Platten eingeschoben, Schreibmaterial und Tinte sind vor Staub und spielenden Schülerhänden geschützt und jeder aufgerufene Schüler kann sich ohne Hinderniß erheben. Beginnen aber Stunden, in welchen die Schüler zu schreiben haben, so müssen sie die Platten zurückschieben, denn sie können sonst nicht zur Tinte gelangen, und sind somit gezwungen – was nachlässigen Lehrern gegenüber von Wichtigkeit ist –, die Tafel in der Gestaltung zu benutzen, welche zum Schreiben die bequemste ist und zugleich beinahe von selbst eine gute Schreibhaltung sichert. Dabei hat diese Einrichtung noch den Nebenvortheil, daß sie eine Ueberfüllung der Bänke unmöglich macht, denn man kann sie eben nicht mit mehr Schülern besetzen, als Bänke vorhanden sind.

Was an der Bank am meisten in die Augen fällt, sind die Lehnen. Dieselben bestehen hier nicht aus Querleisten, sondern sind massiv, für jeden Schüler einzeln auffallend schmal, aber, da sie zur Stütze der Lendengegend der Schüler bestimmt sind, nicht zu schmal, und im oberen Drittel nach vorn etwas gewölbt, darunter ausgeschweift. Zu ihrer Befestigung ist der hintere Rand der Bank und eine zwischen dieser und dem Fußboden quer laufende Verbindungsleiste benutzt. – Diese Lehne erfüllt alle Bedingungen, welche die Wissenschaft an solche zu stellen hat, übt auf den sich an sie Lehnenden nirgends einen lästigen Druck aus und gestattet jedem Schüler, der seinen Platz verlassen will, dies durch Uebersteigen der Bank ohne Störung eines Nachbars zu bewerkstelligen.

  1. Nächstens wird im Verlag von Ernst Keil ein Schriftchen erscheinen, welches neben ausführlicher Begründung der ärztlichen Anforderungen an eine Schulbank und der Schilderung des langen, mühevollen, aber sicher interessanten Wegs der Versuche bis zur Kunze’schen Schulbank, zugleich eine Anweisung zur Construction der letzteren nebst allen Maßangaben bringen soll.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 534. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_534.jpg&oldid=- (Version vom 7.9.2022)