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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)


„Was willst denn hier bei uns?“ fragte der Krepsacher.

„Was ich will? Ihre siebzig will ich … und noch einen dazu, damit ich nachher nicht denk’, ich könnt’ mich verzählt haben. Brauch’ kein Gewehr dazu … das thut’s auch!“

Der Mann hob an der Seite seinen grünen Kittel in die Höhe, und zog aus der Tasche seines ledernen Beinkleids den schwarzen Griff eines Messers hervor.

Der Krepsacher sah den neuen Cameraden verwundert an. Dem Schulmeister, schien es, war der Mann unheimlich geworden – er rückte mit scheuem Blick von dem Fremden weiter ab.




9.

Es war am folgenden Nachmittage, als ein französischer Chasseur auf einem hohen, starken, aber sehr abgetriebenen Pferde auf der von Hanau nach Frankfurt führenden Straße sich der letzteren Stadt näherte. Statt des Mantelsacks war hinter seinem Sattel mit einem Strick eine kleine Cassette von polirtem Holz festgebunden, unter der ein schaumiger Streif von Schweiß über die Flanken seines keuchenden Pferdes niederfloß. Er selbst sah bestäubt und in der von einem langen Feldzuge mitgenommenen Uniform marode genug aus, ohne dadurch in der Hast nachzulassen, womit er sich neben den die Straße bedeckenden und aufgelöst durcheinander marschirenden Truppen, Artilleriezügen, Munitions- und Proviant-Colonnen seinen Weg bahnte. Oft, wenn er die sich müde fortschleppenden Infanteristen in den Graben drängte, oder der Kopf seines Pferdes die Schulter eines Officiers streifte, oder sein Stiefel in die Seite eines alten Troupiers stieß, wurde er angefahren, wurden ihm Haltrufe zugedonnert, oder wurde eine Salve von Flüchen ihm nachgesandt. Er ließ sich dadurch nicht beirren und hastete weiter, so rasch es die steifgewordenen Knochen seines müden, gestachelten Gauls vermochten.

Und so kam er vorwärts – es war vier Uhr, als er zwischen zwei Bataillonen leichter Infanterie, welche kaum mehr die Hälfte ihrer Mannschaft hatten, mit Mühe sich durch das Allerheiligen-Thor der alten Reichsstadt durchdrängte.

Die Stadt war gefüllt von Truppentheilen der geschlagenen Sambre- und Maas-Armee; alle Häuser waren voll Einquartierung; auf den Straßen drängten sich die neu einmarschirten Heersäulen und Abtheilungen mit solchen durcheinander, die am Morgen Befehl bekommen, den Flüchtigen Raum zu machen und weiter zu marschiren und die nun fluchend und erbittert sich ihren Officieren widersetzten, schrieen und tobten; mit anderen, die sich bereiteten, auf freien Plätzen, auf der Zeil und dem Roßmarkte zu campiren, und die hier Stroh zusammenschleppten, Feuer anzündeten, requirirte Nahrungsmittel zusammenschleppten. Alle Straßen standen voll abgespannter Fuhrwerke und Geschütze – Officiere schrieen Befehle, Adjutanten sprengten mit eiligen Aufträgen daher, auf den Trottoirs lagen Reihen von Maroden, die nicht mehr die Kraft gehabt, sich aufrecht zu erhalten und sich ihr Quartier zu suchen. Dazwischen wurden Wagen mit Verwundeten in die improvisirten Spitäler gefahren, todte Pferde auf Schleifen weggeschafft – es war ein wildes und wüstes Durcheinander, dies Pandämonium, wie es nur eine geschlagene Armee darstellen kann.

Wilderich, den wir in der Chasseuruniform erkannt haben, sah betroffen und ein wenig ängstlich in dies Gewirre, vor dem der souveräne Bürger, der reichsunmittelbare Frankfurter sich scheu und angstvoll in’s Innerste seiner Häuser zurückgezogen hatte; dieser hatte noch zu gut im Gedächtniß, was der frühere Einmarsch der Franzosen auf sich gehabt hatte – im vorigen Juli, als Kleber mit drei Divisionen genaht war, seine Bomben in die Stadt geschleudert und, nachdem hundertundzweiundvierzig Häuser in Asche gelegt waren (am 16. Juli), seinen Einzug gehalten hatte – der riesige Kleber, dessen Kopf wie eine Standarte seine Bataillone überragte.

Wilderich wußte nicht wohin, wo für sich und sein Pferd ein Unterkommen finden. Endlich beschloß er, sich wenigstens des Letzteren auf jeden Fall zu entledigen – er ritt durch ein offenes Mauerthor, welches er wahrnahm, in einen Hof hinein, in dem ein paar Pulverwagen in Sicherheit gebracht waren und ein Artillerist als Schildwache auf- und abschritt.

„Habt Ihr nicht Raum für ein Pferd in dem Stall drüben?“ fragte er den Mann mit dem geläufigen Französisch, das er sich in seiner Heimath angeeignet.

„Seht zu,“ versetzte dieser, „fragt nicht erst lange!“

Wilderich sprang aus dem Sattel und führte sein Pferd in die Stallung. Alle Plätze waren besetzt – auf einer hohen Streu vor den Pferden lag ein Dutzend schnarchender Artilleristen.

„Wohin wollt Ihr?“ rief ihm eine deutsche Stimme zu – es war ein Mensch in einem Wamms und mit einer blauen Schürze, der aus der Ecke des Hofes heran kam.

„Ich will in einen Stall für mein Pferd und in irgend eine Kammer, ein Gelaß zum Verschnaufen für mich – da ist ein Kronthaler für Euch, wenn Ihr mir dazu verhelft!“

Der Mann besah das Geldstück und sagte dann im reinsten Sachsenhäuser Dialect:

„Nun, Ihr sprecht ja ein ehrliches Deutsch, von dem welschen Schweinsgesindel, den Hundsföttern, bekommt man sonst so was nicht zu besehen – wie kommt Ihr denn drunter?“

„Wie so Mancher!“ versetzte Wilderich. „Wollt Ihr mir helfen?“

„Meine eigene Kammer kann ich Euch überlassen – im Giebel dort über dem Stalle; das Pferd bindet draußen an die Mauer an – ich will hernach sehen, wo ich’s lasse!“

Wilderich folgte seinem Rath und ließ sich alsdann von ihm zurück in das Stallgebäude, über eine schmale Holztreppe auf den Boden und von da in eine durch einen Breterverschlag vom übrigen Raume abgeschiedene Kammer geleiten.

„Ihr seid der Hausknecht?“ fragte er hier.

„Hausknecht im grauen Falken.“

„Ein Wirthshaus also?“

„Fragt Ihr danach? Das Schild über der Thür ist doch groß genug! Ein gutes Wirthshaus für Mann und Gaul, wenn nicht just wie heute der Teufel los ist, und Alles drunter und drüber geht!“

„Gut denn, so darf ich hoffen, Ihr verschafft mir ein wenig zu essen und zu trinken hierher; ich verschmachte und verhungere beinahe!“

„Ihr – Einer von den Franzosen – nun freilich, unterwegs im Spessart drüben sollt Ihr wohl nicht viel Verdauliches zu schlucken bekommen haben – ich will sehen, was ich noch finde.“

Der Hausknecht ging und Wilderich streckte sich in dem alten Stuhl vor dem schmutzigen Tisch unter dem einzigen kleinen Fenster aus. Er knöpfte seine Uniform auf und legte den Kopf auf die Stuhllehne zurück, um eine Weile die Augen zu schließen und sich dem vollen Gefühl seiner Ermüdung hinzugeben. Trotz der Aufregung und Spannung, in der er sich befand, würde ihn der Schlaf befangen haben, so sehr er dagegen kämpfte, wenn nicht der Hausknecht zurückgekommen wäre mit einem kleinen Korbe, worin er Bier, Brod und ein wenig kaltes Fleisch trug.

„Das ist Alles, was die Frau Wirthin hergeben will,“ sagte er mürrisch, „es giebt schmale Bissen heut in Frankfurt – auch müßt Ihr einen Gulden zahlen für den Bettel!“

„Es ist genug für mich!“ antwortete Wilderich, indem er dem Knecht das Verlangte gab. – „Könnt Ihr mir beschreiben, wo der Schöffe Vollrath wohnt?“

„Der Schöff Vollrath – der Herr Schultheiß wollt Ihr sagen – der wohnt auf der Zeil, der Katharinenkirche gegenüber, dicht an der Eschenheimer Gasse.“

„Ich danke Euch. Und noch Eins: habt Ihr von einem General Duvignot gehört? … Ihr wißt wohl nicht, ob er unter den französischen Anführern in der Stadt ist?“

Der Mann maß ihn mit mißtrauischen Augen.

„Nun, mir kann’s Eins sein!“ sagte er dann.

„Was kann Euch Eins sein?“

„Wie Ihr in den grünen Rock da hineingekommen seid!“

„Wie ich da hineingekommen bin?“ antwortete Wilderich. „Nun, Ihr mögt’s wissen, was soll ich Euch ein Geheimniß daraus machen, daß ich das Zeug nicht alle Tage trage! Ich hatte in Frankfurt zu thun, und um nicht auf dem Wege aufgehalten zu werden, habe ich meinen Rock ausgezogen, den Rock eines Revierförsters im Spessart, und habe einem erschossenen Chasseur seine Uniform genommen und mir sein Pferd eingefangen – damit kam ich am besten weiter! Ein guter Deutscher wie Ihr wird mich nicht verrathen.“

(Fortsetzung folgt.)
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 532. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_532.jpg&oldid=- (Version vom 2.4.2020)