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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

untere öffnete, und spielt die Steine wieder herein. Der Spieler, dessen beide Steine beim Hereinzielen zurückstehen, oder einer zurück und der andere in der Krippe ist, ist Verlierer des Spieles und bekommt auf der Wandtafel neben seinem Namen ein „Schriftel“, das heißt einen Strafstrich. Während bei unserm Billard Kugeln vermittelst eines Stockes (Queue) aufeinander geschleudert werden, muß man hier glatte Eisenstücke gegeneinander werfen, und es ist nicht zu leugnen, daß dies Spiel von ebenso großem Interesse ist, als es, wie wir selber erprobten, eine ganz außerordentliche Geschicklichkeit erfordert; namentlich weil der Bogen auf der concaven Fläche, welche der mit der bloßen Hand geschobene Stein zu machen hat, um zu seinem Ziele zu gelangen, sehr genau berechnet werden muß. In diesem Interesse, wie in jener Uebung mag es liegen, daß jenes Spiel, das den Nichtkennern oft als unbedeutend erscheint, trotz alledem eine mehr als dreihundertjährige Dauer zu erlangen vermochte, und von den jetzigen sechsundvierzig Mitgliedern der Gesellschaft, die sowohl dem mittleren als höheren Bürgerstande angehören, mit einem Eifer und einer Wichtigkeit verfolgt wird, als ob das Wohl Europas davon abhinge.

Leider ist uns der Ursprung dieses ganz eigenthümlichen Spieles, trotz aller Nachforschungen, nicht bekannt geworden, ebenso wenig der des Namens, welcher zwischen „Bell-, Belle- und Belke-Tafel“ variirt. Als wir darum einen alten Herrn aus der Gesellschaft befragten, setzte uns dieser sehr scharfsinnig auseinander, daß 1815 in Frankreich Bell „schön“ geheißen habe; also „Bell-Tafel“ so viel als „schöne Tafel“ bedeute. Wir glauben annehmen zu dürfen, daß jenes Spiel wohl der Vorläufer und Stammvater des heutigen französischen „Billard“ sein möge. Unsres Wissens ist nur noch in Schweidnitz dies uralte Spiel zu finden und wohl mit den Schießübungen von Schweidnitz nach Breslau übergesiedelt. Nach der allgemein verbreiteten Meinung soll das hiesige Spiel früher den Mönchen im Kapuzinerkloster zur Ergötzung gedient haben; daß es aber frühzeitig in Verbindung mit den Schützenbrüdern gestanden habe, beweist eine Stelle aus einer Schützenverordnung im Zwinger vom Jahre 1657, wo es unter Anderem im Paragraph 6 also heißt: „Sollen diejenigen Schützen, so zugeleget haben, nicht erst bei verbrachtem anderen Rennen mit dem Rohr und beim anderen Rennen mit dem Stahl (Armbrust) sich einfinden, wie oftmals geschehen ist, daß sie sich auf der Belke-Tafel oder anderer Kurzweil über die Zeit aufhalten und hernach, wenn die meisten Schüsse mit dem Rohr ganz, und mit dem Stahl die Hälfte verbracht, erst kommen und ihr Schießen angetreten haben, da es nun ferner geschiehet, sollen selbige nicht allein nicht zugelassen, sondern auch ihrer Zulage gänzlich verlustig sein!“ Das Kapuzinerkloster wurde aber erst in den siebenziger Jahren des siebenzehnten Jahrhunderts errichtet. Es ist demnach eher anzunehmen, daß die Mönche das Spiel von den Schützenbrüdern entlehnten, als daß dies umgekehrt geschah.

Wie dem nun auch sei, so bleibt das Alterthum des Spieles doch erwiesen, und so weit man davon Kenntniß hat, standen die „Belkenisten“ oder „Belltafel-Brüder“ stets mit der bürgerlichen Schützengilde in Verbindung. Gehört es doch bis auf den heutigen Tag zum guten Ton, daß die Schützenkönige, wenn sie ihre Würde antreten oder ablegen, auch die Belltafel in Augenschein nehmen, ebenso, wie auch jeder neue Oberbürgermeister und Polizeipräsident Breslaus dort den Ehrentrunk entgegenzunehmen pflegt. Zu dem Neubau eines massiven Belltafelgebäudes, zu welchem man im Jahre 1826, den 6. Juni, den Grund legte, wurde das Geld aus der Schießwerdercasse gegeben, theilweise aber aus der Casse der Gesellschaft vorgeschossen.

Was die Aufnahme in die Belltafel-Gesellschaft betrifft, so enthalten darüber die zur Aufrechthaltung der Ordnung existirenden, gegenwärtig aus vierundsiebenzig Paragraphen bestehenden, theils allgemeine, theils Spielregeln betreffenden Statuten, welche mit der größten Strenge und Pünktlichkeit aufrecht erhalten werden, die Bestimmung, daß, weil das Belltafel-Spiel seit dem Jahre 1565 ein Bürgerspiel, nur ein hiesiger, unbescholtener Bürger das Recht habe, als Mitglied einzutreten, und ihm dann freistehe, Gäste einzuführen; jedoch müssen, wie es wörtlich heißt, diese dem Bürgerrange und guten Ruf nicht nachstehen, wofür das Mitglied haften muß. Jeder zur Mitgliedschaft sich meldende ehrsame Bürger muß drei Monate vorher mitgespielt haben und einer Ballotage sich unterwerfen und ist nur mit mindestens zwei Dritteln der abgegebenen Stimmen aufgenommen; falls aber Jemand die gesetzliche Stimmenzahl nicht erlangt, so steht es ihm frei, jeder Zeit als Gast mitzuspielen. Außerdem bestimmt Paragraph 59: „Da doch gewiß jedes Mitglied das größte Vergnügen am Spiel findet, solches aber bei der alle Jahr mehr neu zutretenden Mitgliederzahl verhindert würde, auch die Räumlichkeiten des Belltafellocals es nicht gestatten, so haben wir die Zahl der Mitglieder auf sechsundsechzig festgesetzt; jeder neu sich Meldende kann nicht eher eintreten als bis ein Mitglied ausscheidet oder stirbt, unbehindert bleibt es aber jedem Mitgliede, einen Gast einzuführen!“

Die Einschreibegebühr für ein eintretendes Mitglied beträgt einen Thaler zwei und einen halben Silbergroschen, und derjenige, welcher sich seine Steine selber mitbringt, die aber den vorhandenen genau konform sein müssen, hat für jeden Stein außerdem zwei und einen halben Silbergroschen an die Casse zu zahlen. Wie streng die Theilnahme der Mitglieder controlirt wird, beweist, daß alltäglich die Namen der beim Spiel thätig gewesenen Personen in ein besonderes Buch eingetragen werden. Die obere Aufsicht und Leitung über Local und Mitglieder ist in den Händen eines Inspektors, der aus den Mitgliedern gewählt wird und das Stammbuch sowie alle übrigen Gesellschaftsschriften in Verwahrung hat, das Spiel gründlich verstehen muß und, sofern ihn nicht Krankheit entschuldigt, allwöchentlich fünf Male mitzuspielen verpflichtet ist. Außerdem führt derselbe auch das große Insiegel, welches zwei Büchsen und einen Bogen mit Pfeil zeigt, an welchem sich der Buchstabe W (Wratislavia, Breslau) befindet. Diesem Inspektor zur Seite wirken ein Vorsteher und sechs Kanzler, welche in seiner Abwesenheit abwechselnd ihn vollständig vertreten.

In Bezug auf das Benehmen der Mitglieder verordnet Paragraph 9: „Jedes Mitglied verpflichtet sich, in der Gesellschaft stets Ruhe und Einigkeit zu erhalten.“ Paragraph 10: „Wer dagegen zänkisch im Spiel, gegen seines Kanzlers Anordnung öfters widerspenstig, gegen die umgebenden Mitglieder sich ‚ruhe-störrisch‘ beträgt, ja vielleicht gar schimpft, wird von dem Inspektor ernstlich gewarnt, von seinem unhöflichen Betragen abzulassen; ist dieses fruchtlos, geht sein Anrecht an die Gesellschaft und des Spieles so lange verlustig und kann nicht eher wieder von den Kanzlern verwürfelt werden, als bis er vor der Gesellschaft Abbitte gethan.“ Auch das Fluchen wird nach öfterer Wiederholung mit zwei und einem halben Silbergroschen Strafe belegt; ebenso ist auch das Wetten beim Spiel untersagt. Die in Faßbier bestehende Zeche wird im Ganzen berechnet, und außer dieser Zeche zahlt jedes anwesende Mitglied noch einen Beitrag von sechs bis neun Pfennigen.

Hinsichtlich des Spiels selbst schreibt Paragraph 25 der Statuten wörtlich vor: „Wenn eine Partei auf den von der anderen Partei ausgesetzten ersten Stein das Spiel verloren, so wird ihnen, sobald sie den ersten Stein hereingespielt, ein ,Polst (Glockenzeichen) geläutet’ und mit Abnehmung des Hutes mündliche Vermerkung gemacht. Dieses Läuten und Hutabnehmen soll keineswegs als Lohn gelten, sondern das Entgegengesetzte und die Vermerkung, sich künftig besser zu halten!“

Einen andern Beweis, wie wichtig den Belltafelmitgliedern ihr Spiel ist, liefert Paragraph 35, der ausdrücklich vorschreibt: „An jedem Tage werden beim letzten Spiele, sobald von draußen der erste Stein gespielet, drei kleine Polsten geläutet und nach dem Läuten mit den Worten ,Feier-Abend des Herrn!’ beendet, wo alsdann jeder Spieler nach den Worten ,Feier-Abend!’ die Kopfbedeckung abnehmen muß, bei zweieinhalben Silbergroschen Strafe!“ – Dies ist eine kurze Schilderung unseres Besuches der „Breslauer Belltafel-Gesellschaft“ wie des Spieles, welcher Schilderung wir noch schließlich einige Verse aus einer Ermahnung beifügen, die sich in dem Stammbuche nach dem Paragraph 18 der älteren Statuten findet:

„Ihr Herren, die Ihr hier an diesem Ort erscheinet,
Und diese schöne Lust zu üben mit vermeinet,
Nehmt dieses Sprüchlein hier als eine Vorschrift an,
Das Spiel erfordert sie, damit nicht Streit sein kann.
Von Spielern wird der Stein an jeden Ort getrieben,
Kein Nachschub darf hier sein, sonst wird es angeschrieben;
Den, der das Spiel verspielt, trifft alsdann auch die Reih’,
Daß er der Erstere beim neuen Ansatz sei.
Ein Jeder hüte sich, daß er darin nicht fehlet,
Sonst wird ihm eine Schrift davon mehr angezählet.
Halt’ diese Regeln werth und lebet stets in Fried’,
Und wer die Zech’ verspielt, sei auch damit vergnügt.

W.



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