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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

Deutsche Kneipen.[1]

Nr. 1. In der Belltafel zu Breslau.

Wer einmal nach Breslau, der alten Hauptstadt von Preußisch-Schlesien, gekommen ist, der wird gewiß nicht unterlassen haben, hatte er nur einige Neigung für berühmte Denkmäler der deutschen Vorzeit, die vielen Sehenswürdigkeiten der uralten Stadt, welche einst neben Venedig und Nürnberg das europäische Handelsmonopol besaß, in Augenschein zu nehmen. Wir denken dabei an den ehrwürdigen Dom zu Sanct Johann, an die Kreuz- und Sandkirche, die Elisabeth- und Dominikanerkirche, sowie an das herrliche Rathhaus, eine der schönsten Zierden Breslaus, unter dem der weltberühmte „Schweidnitzer Keller“, der vom Volksmunde „der Schwein’sche“ genannt wird, sich befindet. All’ diese Merkwürdigkeiten und noch viele andere wird der Fremde bewundert haben, aber selten wird er nach dem sogenannten „Schießwerdergarten“ gewandert sein, und war er wirklich dort, hat er gewiß Nichts von der Breslauer „Belltafel“ gehört oder gesehen, einer länger als dreihundert Jahre bestehenden Bürger-Gesellschaft, deren Verfassung und Zweck so eigenthümlich und absonderlich, daß eine nähere Beschreibung derselben, welcher diese Zeilen gewidmet sind, den Lesern der Gartenlaube nicht uninteressant sein dürfte.

Auch wir befanden uns mehrere Jahre in Breslau, ohne jene Gesellschaft näher zu kennen, deren endlichen Besuch wir der liebenswürdigen Einladung eines Freundes verdanken, der zufällig jene Gesellschaft kennen lernte. Hell und klar brannte in den letzten heißen Tagen des April die Nachmittagssonne auf die Schornsteine Breslaus hernieder, als die buntbewegte Menge wie die gläubigen Pilger zum fernen Gnadenbilde hinaus wanderten vor das Oberthor, welcher Stadttheil Breslaus deshalb so heißt, weil dort kein Thor zu finden, um die schattigen Alleen des großen dort belegenen Parkes aufzusuchen und sich nach des Tages Mühen an dem braunen Gerstensafte oder dem Trank der Levante zu erquicken und dort spazieren zu sitzen. Der „Schießwerdergarten“, oder wie er einfach genannt wird, „das Schießwerder“, ist ein unfern der alten Oder gelegener Park nebst Schießplatz, der früher der Schützen-Brüderschaft eigentümlich gehörte, seit aber in den Besitz der Stadtcommune gekommen, als welcher er nunmehr unter der Verwaltung einer aus der Stadtverorbueten-Versammlung gewählten Schießwerder-Deputation steht. Von dem Menschenstrome fortgetrieben, kamen auch wir in den Schießwerdergarten und suchten nachdem wir uns leiblich erquickt, die berühmte „Belltafel“ auf. Endlich fanden wir in dem nach der Roßgasse zu belegenen Theile des Parks ein Gebäude, welches aus zwei Abtheilungen besteht, der kürzeren von einunddreißig Fuß Länge und sechszehn Fuß Breite, in welcher die Spieler sich aufhalten, und der längeren von fünfundfünfzig Fuß Länge und acht Fuß Breite, in welcher die eigentliche Belltafel, von der die Gesellschaft ihren Namen führt, aufgestellt ist. Das mit Gas beleuchtete Gebäude ist aus massivem Mauerwerk erbaut, während der Raum, den die Tafel selbst einnimmt, mit schiebbaren Glasfenstern, nach Art der Treibhäuser, versehen ist.

So wie wir den vorderen Raum betreten und uns die Erlaubniß erbeten hatten, dem Spiel beizuwohnen, kam uns der Inspector der Gesellschaft, ein alter, ehrwürdiger Mann in weißem Halstuch und hoher, schwarzer Sammetmütze mit Schirm und Troddel, freundlich entgegen, reichte uns zum Gruß feierlich die Hand, während ein anderes Mitglied der Gesellschaft aus einem an der rechten Wand lehnenden Fasse den Ehrentrunk credenzte, der nach althergebrachter Sitte nur aus sogenanntem Faßbier (einem braunen Dünnbier ohne Schaum) bestand, da die Gesellschaft, hartnäckig an dem Brauch ihrer Altvordern hängend, jedem anderen neueren Getränk, vornehmlich aber dem Branntwein, den Eingang streng verwehrte. Wie einfach, leicht und unschädlich gleitet das wässrige Naß hinab in die durstigen Kehlen und begeistert die ehrenfesten Belltafel-Brüder für Ehre und Vaterland, für Patriotismns, immer neue Steuern und besonders für ihr Spiel! Der vordere Raum des Gebäudes ist mit allerlei Emblemen und Gedenktafeln geschmückt, von denen besonders drei sich auszeichnen, die, an wichtige Ereignisse in der Gesellschaft erinnernd folgende Inschriften tragen: „Sei uns willkommen! 1846.“ „Dreihundertjährige Jubelfeier der Belltafel-Gefellschaft 1565-1865.“ „Denkst Du daran, Du dreißigjähr’ger Schütze, Kaufmann Gottfried Pauser, 7. Juli 1853?“ An der schmalen Seite des ganzen Raumes links vom Eingange ist ein hölzerner thronartiger Sessel, der sogenannte „Kanzlerstuhl“, angebracht, zu welchem man eine Stufe hinansteigt, und es herrscht hier die Sitte, daß jeder Gast, welcher zufällig auf demselben sich niederläßt, eine „Buße“ nach eignem Belieben zur Gesellschaftscasse zu zahlen hat, wofür sein Name, Stand, Wohnort und Beitrag in einem besondern Buche verzeichnet wird. Gerade dem Eingange gegenüber hängt eine schwarze Tafel mit kleinen Fächern, in welche hölzerne Blättchen geschoben werden, auf denen die Namen der einzelnen Steine, mit welchen gespielt wird, geschrieben stehen, und jeder Spieler wird nach dem Namen seiner Steine während des Spieles genannt und aufgerufen. Rechts von jener Tafel ist eine Fallthür angebracht, die in einen unter dem Gebäude liegenden Keller führt, der zur Aufbewahrung und Kühlung des Bieres bestimmt ist.

Wenden wir uns nun zu dem Spiel, das der Gesellschaft den Namen gab, selbst. Der Apparat dazu besteht aus einer zwanzig Ellen langen und zwei Fuß breiten, in der Mitte muldenartig vertieften Tafel (Bahn), die oben und unten einen Schieber, die sogenannte „Krippe“, und eine mit Graphit geglättete Oberfläche hat. Wie uns versichert wurde, ist die eigentliche Tafel bereits dreihundertundvier Jahre alt. Auf dieser Tafel nun wird mit runden eisernen, auf beiden Seiten gestählten, sehr glatten Steinen, deren jedem auf seiner oberen Seite eine Figur, wie z. B. eine Rose, der König Salomo, ein Brettschneider, Adler, Napoleon der Erste, ein Herz, eine Fortuna, ein Schlüssel, Elephant, Schwan, eine Blume, eine Venus oder Victoria eingeprägt ist, wonach der Stein und der mit dem Stein Spielende während des Spieles genannt wird, eine Art Kriegsspiel ausgeführt, in der Art, daß zwei Parteien einander bekämpfen und der Letzte der geschlagenen Partei, nach Verhältniß auch Mehrere, ein „Schriftel“ oder eine „Bleischrift“, d. h. einen Strafstrich neben seinem Namen auf der Wandtafel angeschrieben bekommen. An der Spitze jeder der beiden an Spielerzahl einander gleichen Parteien steht ein Kanzler, jeder einzelne Spieler fällt dieser oder jener Partei durch das Loos des Würfels zu, welches die Kanzler werfen. Sind die Parteien an Zahl ungleich, so spielt der Kanzler für die vacante Stelle so lange, bis ein neuer Spieler eintritt. Jeder Spieler erhält zwei Steine, von denen die meisten Privateigenthum sind, während auch einige der Gesellschaft gehören. Der Kanzler der Partei A ruft nun einen Spieler, z. B. Rose auf, der aussetzen muß, während der Kanzler der Partei B einen, z. B. Venus nennt, welcher entweder diesen Stein durch seinen eigenen von der Tafel in die oben offene Krippe werfen, oder demselben wenigstens zuvorkommen muß. Kommt er vor, so hat die Partei A so lange zu spielen, bis ein Stein der ihrigen den vordern Feind entweder getroffen hat, oder auch ihm zuvorgekommen ist, während dann auf gleiche Weise die Partei B nachfolgt. Beide Parteien kämpfen gegeneinander so lange, bis die eine keine Steine mehr besitzt und also besiegt ist. Die besiegte Partei begiebt sich

nun an die obere Krippe, die geschlossen wird, nachdem man die

  1. Unter diesem Titel wird die Gartenlaube eine Reihe Schilderungen der geschichtlich interessantesten Kneipen Deutschlands bringen. Sogenannte Restaurationen, moderne Wirthshauslocale sind selbstverständlich davon ausgeschlossen. Wir können übrigens wohl mit Recht annehmen, daß die große Mehrzahl der Leser der Gartenlaube zu denjenigen Geistern gehört, welche, auch wenn ihnen nicht selbst das Glück geblüht, in Künstler- und Studentenzeiten ihre Jugend zu verbringen, sich doch gern an deren Lebensfrische und dem kernigen Ausdruck derselben erfreuen. Viel von dieser Frische und diesem Kern vereinigt sich seltsamerweise in der Bezeichnung der Oertlichkeit, wo Beide am häufigsten sprudeln: dem berühmten Kraftwort „Kneipe“. Nur ein Philister kann dabei an eine Zange, und damit an zwicken und Verkürzen denken! Nein! Die einfachste Erklärung und die harmloseste und die volkswitzigste über die Verwandtschaft zwischen den Begriffen Wirthshaus und Kneipe giebt uns das erste beste Wörterbuch, welches uns belehrt: eine Kneipe sei ein Werkzeug zum Einklemmen und Festhalten. Ja! Das ist die richtige Bezeichnung: wo man in den Kreis der Genossen eingeklemmt und von Stoff und Lust festgehalten wird, das ist der Begriff und der Beruf der Kneipe, und so ist Kneipe auch die rechte Benamsung dieses Berufs. Künstler und Gelehrte können aber unmöglich die Herberge ihrer seligsten Erinnerungen mit einem Worte bezeichnen, dessen die Schriftsprache sich nicht mit allem Anstand bedienen könnte. Und darum wagen wir getrost die obige Ueberschrift.
    D. Red.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 523. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_523.jpg&oldid=- (Version vom 7.9.2022)